Manche Menschen mögen die Beschäftigung mit Emotionen nicht allzu wichtig finden. Sie meinen vielleicht, dass sich diese von selbst regulieren oder dass wir sie gar nicht regulieren können. Allerdings besagen die meisten Studien: Emotionen genau wahrzunehmen und sie differenziert zu beschreiben kann helfen, besser mit ihnen umzugehen. Die Emotionsforscherin Lisa Feldman Barrett hat das als emotionale Granularität bezeichnet. (Im Alltag werden die Begriffe Emotion, Gefühl und Stimmung oft synonym verwendet…
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Granularität bezeichnet. (Im Alltag werden die Begriffe Emotion, Gefühl und Stimmung oft synonym verwendet und verstanden – siehe dazu die Definition im Kasten.)
Emotion – Gefühl – Stimmung
Emotionen sind kurzlebige, intensive Reaktionen auf spezifische Auslöser: Beispielsweise ärgern wir uns über die verpasste Bahn oder freuen uns über einen beruflichen Erfolg.
Von Gefühlen spricht die Forschung, wenn Gedanken eine größere Rolle spielen. Gefühle wie Trauer, Liebe oder Mitgefühl entstehen, wenn wir die Situation bereits bewusster analysiert und bewertet haben.
Stimmungen hingegen sind länger anhaltende Zustände mit weniger klaren Auslösern.
Lassen Sie uns am Beispiel des Ärgers kurz betrachten, wie unterschiedlich Auslöser und Erscheinungsformen von Emotionen sein können. Er äußert sich manchmal eher mild – wir fühlen uns dann gereizt, innerlich unruhig –, tritt aber auch sehr intensiv auf: Wir sind wütend, der Körper ist stark aktiviert, das Herz rast, die Muskeln spannen sich an. Ärger ist nicht selten eine Reaktion auf eine reale Situation; es kommt aber auch oft vor, dass wir uns ohne äußeren Anlass in ihn hineingrübeln, ihn dramatisieren und ihn so gedanklich verstärken.
Wie wichtig eine hohe emotionale Granularität ist, bestätigt eine Studie von Yael Millgram und ihrem Team an der Harvard University. Diejenigen Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die den Auslöser ihrer Emotionen identifizieren konnten, setzten gezielter Strategien ein, um diese positiv zu beeinflussen. Sie änderten etwa die Situation, dachten anders über sie nach oder lösten Probleme direkt. Auch hier die Erkenntnis: Wer die Ursache seiner Emotionen kennt, fühlt sich kompetenter im Umgang mit ihnen, reguliert sie flexibler und stärkt dadurch sein Wohlbefinden. – Aber was ist unter Emotionsregulation genau zu verstehen?
Was ist Emotionsregulation?
Die meisten von uns kennen die Erfahrung, dass uns Emotionen überfordern. Oder wir denken, ihnen ausgeliefert zu sein. In diesen Momenten hilft es zu wissen: Selbst wenn wir unsere unmittelbare emotionale Reaktion nicht sofort beeinflussen können, haben wir die Möglichkeit, unsere Emotionen zu regulieren. Wir können sie abschwächen, aufrechterhalten oder verstärken, je nachdem welches Ziel wir haben. Wie dieser Vorgang konkret funktioniert, lässt sich anhand des erweiterten Prozessmodells von James Gross von der Stanford University anschaulich darstellen.
Gross unterscheidet drei Phasen:
Erkennen: Wir nehmen wahr, was wir gerade fühlen und benennen es möglichst präzise
Wählen: Wir wählen eine Strategie aus, mit der wir unser Gefühl regulieren wollen
Umsetzen: Wir setzen diese Strategie ein und überprüfen, ob wir unser Ziel erreicht haben.
Ein Beispiel: Sind wir traurig, weil uns ein Freund versetzt hat, können wir versuchen, diese Emotion bewusst wahrzunehmen. Statt impulsiv zu reagieren oder darüber zu grübeln, wäre es sinnvoller, zu überlegen, ob der Freund nicht vielleicht einen guten Grund hatte. Diese Neubewertung hilft, die Traurigkeit zu mildern, und ermöglicht uns, konstruktiv zu handeln. Natürlich laufen diese Prozesse nicht immer nacheinander und auch nicht so schematisch oder stets bewusst ab. Doch schon der erste Schritt – Emotionen bewusst wahrzunehmen – ist hilfreich.


Welche Strategien zur Emotionsregulation sind nützlich?
Es gibt viele Wege, mit Emotionen umzugehen. Lange Zeit galt: Strategien wie Neubewertung („Wenn ich mich schlecht fühle, versuche ich, die guten Aspekte einer Situation zu erkennen“), Akzeptanz („Ich kann unangenehme Emotionen tolerieren und aushalten“) und Problemlösen („Ich denke über Lösungsmöglichkeiten nach, wie ich die Situation ändern kann“) sind hilfreich. Hingegen wurden Grübeln, Vermeidung und Unterdrückung als ungesund betrachtet. Studien – auch unsere eigenen mit über 1000 Teilnehmenden – bestätigen diese Annahme zunächst: Wer häufiger Neubewertung, Akzeptanz und Problemlösen im Alltag einsetzt, berichtet im Mittel von mehr Wohlbefinden und weniger depressiven Symptomen – allerdings gilt dies nur unter bestimmten Bedingungen.
Neuere Forschungsergebnisse legen nämlich nahe, dass auch der Kontext, in dem wir unsere Emotionen beeinflussen, berücksichtigt werden muss. So ist Unterdrückung manchmal notwendig, beispielsweise wenn unser Kind krank ist und wir es trösten, anstatt die eigene Angst zu zeigen. Und die Neubewertung funktioniert nicht immer, vor allem wenn Emotionen sehr intensiv sind. In solchen Momenten fühlen wir uns oft so überwältigt, dass es schwerfällt, die Situation ruhig und sachlich neu zu betrachten: Wenn wir uns über eine harsche Kritik bei der Arbeit extrem ärgern, werden Gedanken wie „Vielleicht meinte der Kollege es gut“ die Wut kaum abschwächen.
In solchen Situationen dürfte es im ersten Schritt besser sein, sich bewusst eine Pause zu gönnen und sich abzulenken, zum Beispiel durch einen Spaziergang, Sport, das Hören eines Lieblingsliedes oder eine kreative Beschäftigung. Dies lenkt unsere Aufmerksamkeit um und hilft, die Intensität der Emotion zu reduzieren, bevor wir versuchen, eine andere Sichtweise einzunehmen. Manchmal ist es zudem sinnvoller, die Situation zu verändern, anstatt sie neu zu bewerten. Im genannten Beispiel mit dem kritischen Kollegen könnte es durchaus angemessen sein, den eigenen Ärger auszudrücken, wenn die Kritik zu harsch oder nicht konstruktiv war.
Und wir sollten uns sogar davor hüten, positive Emotionen einer Neubewertung zu unterziehen! Dies zeigt eine neue Studie von uns, bei der 1066 Probanden und Probandinnen an einer einwöchigen Smartphonebefragung teilnahmen: Wenn wir versuchen, eine freudige Situation gedanklich zu analysieren oder neu zu bewerten, verschlechtern sich unsere Gefühle oft. Tatsächlich fanden wir in solchen Kontexten sogar einen Zusammenhang mit mehr depressiven Symptomen. Das bedeutet: Bei moderaten negativen Emotionen lohnt sich die Neubewertung, bei intensiven oder positiven Emotionen hingegen eher nicht. Die Daten aus unserer Studie legen nahe: Wir sollten Freude einfach genießen und akzeptieren. Aber auch hier ist es wichtig, die Situation zu berücksichtigen. Wenn Sie beispielsweise eine Prüfung bestanden haben, Ihr bester Freund jedoch nicht, ist es angemessen, die eigene Freude aufzuschieben und erst einmal den Freund zu trösten.
Emotionen und Rationalität – ein Gegensatz?
Emotionen sind kein irrationaler Gegenpol unserer Rationalität, sondern wichtige Begleiter und Wegweiser in unserem Leben. Fühlen und Denken laufen im Gehirn nicht getrennt voneinander ab, sondern sind miteinander verbunden. Wie Gerd Gigerenzer in seinem Buch Bauchentscheidungen überzeugend darlegt, sind intuitive Entscheidungen unter bestimmten Bedingungen sogar zutreffender als solche, über die wir lange nachdenken. In der modernen Forschung zur Emotionsregulation geht es deshalb um ein ausgewogeneres Verhältnis zwischen Denken und Fühlen und nicht um eine einseitige Betonung des Denkens.
Können wir Emotionsregulation trainieren?
Diese Balance und Flexibilität zwischen Denken und Fühlen versuchen wir auch in unseren Trainings zur Emotionsregulation zu vermitteln. Die Teilnehmenden üben, ihre Emotionen präziser wahrzunehmen, und lernen verschiedene Strategien, um sie zu regulieren. Die neunwöchigen Gruppentrainings, an denen bisher etwa 100 Personen teilgenommen haben, zeigen vielversprechende Ergebnisse. Die Teilnehmenden berichteten nach Abschluss des Programms auf standardisierten Fragebögen eine signifikante Zunahme von Neubewertung und Akzeptanz sowie eine deutliche Abnahme des Grübelns und psychischer Probleme wie Ängstlichkeit und depressiver Symptome.
Das Ziel des Trainings ist jedoch nicht, Menschen in ständige Selbstoptimierung zu treiben. Emotionen zu regulieren bedeutet nicht, sie vollständig kontrollieren zu müssen, das wäre weder realistisch noch gesund. Vielmehr geht es darum, eine Balance zwischen Akzeptanz und gezielter Veränderung zu finden. Auch die unangenehmen Emotionen haben einen Platz in unserem Leben; sie sind Teil unserer Menschlichkeit und erfüllen wichtige Funktionen. In unseren Trainings möchten wir vermitteln, dass der erste Schritt zu einem hilfreichen Umgang mit Emotionen oft darin besteht, sie als wichtigen Teil unseres Erlebens zu verstehen – anstatt sie als Problem oder Schwäche zu betrachten.
Text: Sven Barnow; Mitarbeit: Luise Prüßner, Katrin Schulze
Emotionsregulationsstörung
Eine Emotionsregulationsstörung ist eine Störung der Kontrolle oder des Filterns von Gefühlen. Bei einem kleinen Auslöser kommt es zu einer stärkeren Emotion, die langsamer abklingt oder auch schneller wieder in eine andere Emotion umschlagen kann als bei einer gesunden Person. Betroffene fühlen sich dabei oft angespannt und dann aprupt leer. Oft können sie sich nicht erklären, woher die starken Gefühle kommen und sind nicht in der Lage, adäquat mit ihnen umzugehen. Deshalb kommt es zu dysfunktionalen Verhaltensweisen, zum Beispiel Aggressionen gegen andere oder Selbstverletzung. Eine Störung der Emotionsregulation ist Bestandteil zahlreicher psychischer Erkrankungen.
Sven Barnow und sein Team beschäftigen sich schon lange mit Emotionen und Emotionsregulation. Barnow ist Professor für Psychologie. Er leitet die Arbeitseinheit Klinische Psychologie und Psychotherapie sowie die Psychotherapeutische Hochschulambulanz der Universität Heidelberg.
Wollen Sie mehr zum Thema erfahren? Dann lesen Sie auch acht konkrete Übungen zur Emotionskontrolle in Schritt für Schritt zum guten Gefühl.
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Quellen
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Sven Barnow, Eva Blitzner, Insa Borm, Christina Sauer: Emotionsregulation: Therapiemanual und Arbeitsbuch: Training zum flexiblen Umgang mit Gefühlen. Springer 2024 (2. Auflage)
Sven Barnow: Handbuch Emotionsregulation: Zwischen psychischer Gesundheit und Psychopathologie. Springer 2020
Gunnar Eismann, Claas-Hinrich Lammers: Therapie-Tools Emotionsregulation. Beltz 2017
Gunnar Eismann: Emotionsregulation. 75 Therapiekarten. Beltz 2021
Lisa Feldman Barrett: Siebeneinhalb Lektionen über das Gehirn. Rowohlt 2023
Lisa Feldman Barrett, James Gross u. a.: Knowing what you're feeling and knowing what to do about it: Mapping the relation between emotion differentiation and emotion regulation. Cognition & Emotion, 15/6, 2001, 713–724
Lisa Feldman Barrett: Wie Gefühle entstehen. Eine neue Sicht auf unsereEmotionen. Rowohlt 2023
Lisa Feldman Barrett: TED Talk “You aren't at the mercy of your emotions – your brain creates them”
Gerd Gigerenzer: Bauch Entscheidungen. Pantheon 2021
Dörte Grasmann, Anke Felber, Felix Euler: Therapie Tools.Emotionsregulation bei Kindern und Jugendlichen. Beltz 2023
James J. Gross: Emotion regulation: Current status and future prospects. Psychological Inquiry, 26/1, 2015, 1–26
Andrew Huberman: Podcast „Dr. Lisa FeldmanBarrett: How to understand emotions“, Huberman Lab 2023
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Yael Millgram, Matthew K. Nock u. a.: Knowledge about the source of emotion predicts emotion-regulation attempts, strategies, and perceived emotion-regulation success. Psychology Science, 34/11, 2023, 1244–1255
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Ilka Müller, Luise Pruessner, u. a.: If it ain't broke, don't fix it: Positive versus negative emotion regulation in daily life and depressive symptoms. Journal of Affective Disorders, 348, 2024, 398–408
Allison S. Troy, Amanda J. Shallcross u. a.: A person-by-situation approach to emotion regulation: cognitive reappraisal can either help or hurt, depending on the context. Psychological Science, 24/12, 2013, 2505–2514