„Willst du das alles kaputtmachen?“

Sie erfüllt ihren Traum und eröffnet den eigenen Laden. Doch statt Glück fühlt sie Druck. Eine Buchhändlerin aus Hessen über das Scheitern im Beruf

Die Illustration zeigt eine Frau mit großen Lederstiefeln, die Hände in die Hüfte gestemmt, die vor eine Bücherladen mit einem sehr großen Bücherstapel davor steht und daran hochschaut
Die eigene Buchhandlung ist eröffnet! Und die 70-Stunden-Wochen mögen beginnen... © Luisa Stömer für Psychologie Heute

Als ich die Anzeige für den Laden gesehen habe, dachte ich gleich: Das sieht gut aus. Es passte zu meiner Vorstellung von einer Buchhandlung: einladend, gastlich, warm. Ein Altbau mit Charme, mehr Wohnzimmer als Geschäft.

Seit mehr als 20 Jahren arbeitete ich im Verlagswesen. Von Anfang an hatte ich die Idee, einen eigenen Laden zu eröffnen, und nach einer besonders anstrengenden Stelle dachte ich: Wenn ich mich schon ausbeute, dann für mich selbst. Jetzt oder nie.

Mitte September habe ich den Mietvertrag unterschrieben, sofort ging es los. Ich musste das Geschäft vor Weihnachten eröffnen, denn im Buchhandel ist das die Hauptsaison. Mir blieben nur knapp drei Monate, um den Laden zu renovieren, Möbel zu kaufen, Bücher zu bestellen, Personal zu finden. Die ganze Zeit stand ich unter Strom. Am Eröffnungstag habe ich mich ein bisschen gefühlt wie eine Braut, die sich monatelang auf ihre Hochzeit vorbereitet hat, und dann fliegt der Tag nur so an ihr vorbei.

Irgendetwas war immer los

Es war toll. Dieses Gefühl, dass ich jedes Buch in den Regalen ausgesucht hatte! Ich habe es genossen, morgens den Laden – meinen eigenen Laden – aufzuschließen. Genauso wie ich es genossen habe, in den schon geöffneten Laden hineinzulaufen und zu schauen: Welche Leute sind da? Welche neuen Bücher sind angekommen? Die Gespräche mit den Kundinnen und Kunden haben mir so viel Energie gegeben. Veranstaltungen waren sofort ausverkauft, der Laden voll bis auf den letzten Platz.

Aber es blieb irre viel Arbeit. Ich hatte gedacht, dass es nach dem heftigen Start und dem Weihnachtsgeschäft weniger werden würde, aber das wurde es nicht. Immer war irgendetwas los: Ärger mit den Nachbarn, Feuchtigkeit im Laden, ein Wespennest an der Tür – so viel zusätzlicher Mist, um den ich mich kümmern musste.

Ich bin alleinerziehend und in den Sommerferien konnte ich mir mit den Kindern nur tageweise Städtetrips leisten, denn wegzufahren hätte geheißen: Ersatz finden und bezahlen. Bei diesem Urlaub hat sich etwas verschoben.

Tagsüber haben die Kinder und ich schöne Orte erkundet, abends saß ich vor den Umsatzzahlen des Tages und musste mir eingestehen: Es gibt grundlegende Probleme. Die Umsätze waren mies. Das ist in den Sommerferien zu erwarten, aber ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon alles getan, was ich tun konnte: Veranstaltungen organisiert, zu Lesungen eingeladen, einen Kaffeebetrieb erwogen. Was sollte ich denn noch tun? Ich fühlte mich ausgelaugt.

Ein befreiender Gedanke

Durch den Abstand fiel mir zum ersten Mal auf, unter welch extremem Druck ich stand. Ich arbeitete 60 bis 70 Stunden die Woche, verdiente so viel wie meine Mitarbeiterin mit ihrer 35-Stunden-Woche, konnte nichts für meine Altersvorsorge zurücklegen und hatte Angst, mein Personal nicht mehr bezahlen zu können. Ich fragte mich: Kann ich noch jahrelang so weitermachen? Bin ich dann ein Wrack? Ist das fair gegenüber meinen Kindern, dass ich ständig so angespannt bin, so wenig Zeit für sie habe? Die Situation erdrückt mich.

Einerseits dachte ich sogleich: Du kannst den Laden doch nicht schon wieder schließen! Wie viel du da reingesteckt hast! Kraft, Geld, Liebe, Energie, Lebenszeit. Willst du das alles kaputtmachen? Außerdem: Die Branche ist klein. Was denkt man dann über dich? Aber gleichzeitig habe ich gemerkt, wie befreiend ich diesen Gedanken fand: Du hast es versucht – und jetzt lässt du es wieder sein.

So ging das einige Wochen lang hin und her. Durch die Verträge mit dem Vermieter, den Verlagen und mit meinem Personal wusste ich, wann ich mich spätestens entscheiden müsste. Tatsächlich habe ich es sogar früher geschafft.

Die Grenze ist gezogen

Danach ging es mir besser. Beim Abwickeln des Ladens konnte ich mich wieder an einen Plan halten. Aber die letzten Wochen waren irre. Kaum war die Nachricht von der Schließung raus, rannten mir die Leute die Bude ein. In dieser Zeit habe ich mehr Umsatz gemacht als im gesamten Weihnachtsgeschäft. Es war toll, den Laden so voll zu sehen, aber die Leute hatten alle Gesprächsbedarf.

Anfangs habe ich noch versucht, das Bedauern aufzufangen, habe die Gründe erklärt – wieder und wieder und wieder – und ausgehalten, was die Leute dazu gesagt haben. Ein Mann kam zornig hereingestürzt und warf mir vor, er habe so viel gekauft, nun könne ich doch nicht zumachen. Er hat es richtig persönlich genommen. Andere Menschen sagten, sie seien zwar nie hier gewesen, aber jetzt wollten sie doch mal wissen, warum ich denn schließe.

Nach zwei Wochen Trösten von jeder und jedem war ich durch. Bin zusammengezuckt, wenn mich jemand darauf angesprochen hat, habe niemanden mehr direkt angeschaut, einsilbig geantwortet. Ich musste eine Grenze ziehen, denn ich hatte diese Entscheidung ja für mich getroffen. Ich wollte mich nicht totarbeiten.

Als ich den leeren Laden durchgeputzt habe, war das auch für mich ein reinigendes Gefühl. Den Schlüssel der Maklerin zu geben hat sich richtig gut angefühlt. Befreiend. Wie es beruflich für mich weitergeht, wusste ich schon seit Wochen, denn ich hatte eine Stelle angeboten bekommen. Das hat mich vor der Existenzangst bewahrt und auch vor dem Bewerbungsprozess, bei dem man sich anbieten und erklären muss, wie toll man ist – obwohl ich doch gerade gescheitert war.

„Du bist mutig“

Über das Scheitern habe ich lange nachgedacht. Was heißt denn Scheitern? Bin ich gescheitert, weil ich meinen Laden wieder schließe? Ja, wahrscheinlich schon. Aber bin ich gescheitert, wenn ich mir selbst eingestehe, dass es nicht mehr geht? Nein, das ist die richtige Entscheidung.

„Du bist mutig“, haben viele Menschen zu mir gesagt, als ich damals ankündigte, einen Buchladen zu eröffnen. Für mich war das ein zweischneidiges Kompliment, denn es kann ja auch heißen, dass man eine verrückte Idee hat. Heute denke ich: Ja, ich war mutig. Es hat Mut gekostet, den Laden zu eröffnen. Und es hat Mut gekostet, ihn aufzugeben. Ich habe gelernt, das Scheitern anzunehmen und als Teil meiner Biografie zu akzeptieren, ohne mich deshalb zu verurteilen.

Wollen Sie mehr zum Thema erfahren? Dann lesen Sie außerdem den psychologischen Hintergrund zu Fehlschlägen bei der Arbeit in Scheitern im Beruf.

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