Letztes Jahr habe ich begeistert die Serie The Good Doctor gesehen, in der der autistisch-geniale Protagonist regelmäßig seine bereits totgeglaubten Patientinnen und Patienten zurück ins Leben führt und plötzlich auf dem OP-Monitor wieder ein Herzschlag zu sehen ist. Vielleicht geht mir deshalb seit einiger Zeit die Frage: „Hat dieses Paar noch einen Herzschlag?“, durch den Kopf, wenn ein Paar vor mir sitzt, das verzweifelte und verbitterte Kämpfe miteinander ausficht. So auch in der Sitzung mit dem Paar…
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sitzt, das verzweifelte und verbitterte Kämpfe miteinander ausficht. So auch in der Sitzung mit dem Paar L.*, beide Ende dreißig, seit etwa zehn Jahren zusammen.
„Wieso kannst du nicht einfach mal mutig sein? Du bleibst ständig hinter deinen Möglichkeiten, immer schiebst du irgendwelche Gründe vor und nun lügst du sogar!“ Herr L. ist außer sich; seit Jahren versucht er, seine im sozialen Bereich tätige Frau davon zu überzeugen, eine Leitungsfunktion anzunehmen oder einen Jobwechsel zu erwägen, was mit mehr Verantwortung oder Gehalt einherginge. Nun hat er auch noch herausgefunden, dass sie sich auf eine Stelle, mit der sie geliebäugelt hatte, doch nicht beworben hat.
Frau L. fühlt sich unter Druck gesetzt: Einerseits würde sie sich beruflich gerne weiterentwickeln, andererseits lähmen sie die hohen Erwartungen ihres Mannes. Als Folge zieht sie sich in sich zurück und vermeidet es, mit ihm über Berufliches zu sprechen. Auch emotional entfernt sie sich immer weiter von ihrem Mann.
Reise in die Kindheit
Herr und Frau L. streiten über verschiedene Themen, die in der gleichen Konfliktdynamik enden: Herr L. will darüber reden – und redet und drängt und wird vorwurfsvoll. Frau L. möchte in Ruhe gelassen werden – sie verstummt, weint und versucht, ihm aus dem Weg zu gehen.
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Paare fokussieren während eines Konflikts in der Regel die inhaltliche Frage – im Fall von Herrn und Frau L. also Frau L.s berufliche Entwicklung. Das typische Vorgehen in der Paartherapie sieht vor, statt auf den Inhalt eher auf die Paardynamik zu schauen, also das Konfliktmuster – in diesem Fall Frau L.s Tendenz, die Position der Vermeidung einzunehmen, und Herrn L.s Tendenz zum Kampf. Dabei versuchen wir, die Gefühle hinter diesen Bewältigungsstrategien zu verstehen. Manchmal lohnt es, noch einen Schritt tiefer zu gehen und die Gefühle mit der individuellen Biografie in Verbindung zu bringen, da sich häufig ein Stück der eigenen Geschichte mit in die gegenwärtige Situation hineinschiebt.
Für dieses Vorgehen entscheide ich mich in der Sitzung. Ich möchte mehr darüber erfahren, was es mit dem starken Druck auf sich hat, den Herr L. in sich spürt und den er komplett auf das „Fehlverhalten“ seiner Frau attribuiert. Dafür lade ich beide ein, in einer Imagination in Herrn L.s individuelle Geschichte einzusteigen, man könnte sagen, eine gemeinsame Reise in seine Kindheit anzutreten.
Ich bitte zunächst beide, die Augen zu schließen – Frau L. bitte ich, sich komplett auf die Erlebniswelt ihres Mannes einzulassen, und Herrn L. leite ich an, den starken Druck, den er beschreibt, im Körper zu spüren. Herr L. empfindet ihn als Knoten im Bauch, als starke Unruhe und einen Druck im Kopf. Ich bitte Herrn L., sich im Kontakt mit dem Gefühl zurück in seine Kindheit zu begeben und zu schauen, welche Bilder dabei auftauchen.
Verantwortung der Eltern übernommen
Vor Herrn L.s innerem Auge steigen mehrere Szenen auf, in denen er hilflos vor dem Bett seiner Mutter steht oder allein mit den beiden jüngeren Schwestern zu Hause ist. Wir befassen uns mit einer der Situationen genauer. Ich bitte Herrn L., aus dem Gefühl des Jungen heraus zu sprechen. Herr L. beschreibt die Last, die er fühlt. Sein Vater ist vor wenigen Jahren gestorben, kurz nachdem die Eltern aus Indien nach Deutschland gekommen waren. Seitdem trage er, der 8-jährige Junge, eine große Verantwortung für die Familie. Seine Mutter, die er sehr liebe, komme oftmals aufgrund von Depressionen nicht gut aus dem Bett, was ihn sehr besorge.
Wir können sehen, dass der kleine Junge von damals aufgrund der tragischen Situation zu Hause sehr viel Verantwortung tragen muss. Seine Lösung ist, sich selbst immer weiter „zu pushen und nicht aufzugeben“ und auch seine kleinen Schwestern anzutreiben, um das Familiensystem am Laufen zu halten. Die große Angst des Jungen ist, dass das Jugendamt auf die Familie aufmerksam und die Familie auseinandergerissen wird.
"Es tut mir leid, dich so leiden zu sehen"
Ich bitte Frau L., das Gefühl zu beschreiben, das sie spürt, während sie die Szene vor ihrem inneren Auge miterlebt. Frau L., die sonst in den Sitzungen eher zurückhaltend ist, spricht klar und warm, direkt in Richtung ihres Mannes: „Es tut mir leid, dich so leiden zu sehen. Es ist so traurig und gleichzeitig kann ich gerade besser verstehen, wie du dich entwickelt hast. Du stehst unter so viel Druck und hast solche Angst.“ – Da ist er, der Herzschlag. Wenn Paare beginnen, sich wieder mit Empathie zu begegnen, etwas von dem anderen Menschen zu verstehen und sich zu öffnen, beginnt das Paarsystem wieder zu leben. Auch Herr L. fühlt es. Anders als sonst ist er nun ganz still.
Frau L. fragt, ob sie ihn berühren darf, noch immer mit geschlossenen Augen. Er nickt und lässt es zu, dass sie seine Hand nimmt. Ich frage nun den Jungen in der Szene, was ihm helfen würde, was er am meisten brauche. Jemanden, der sich mit kümmert, und die Gewissheit, dass die Familie zusammenbleibt. Er habe einfach so große Angst um alle, beschreibt der Junge.
Herr L. wechselt dann von selbst die Ebene und fügt aus der Sicht des Erwachsenen hinzu: „Mir war nicht klar, welche Angst da immer in mir war. Und ja, auch heute fühlt es sich so an, als würde ich allein die Verantwortung für alles tragen.“ Frau L. antwortet: „Aber das tust du nicht. Wir sind doch ein Team. Ich bin bei dir, wir machen das zusammen. Du musst mir nur auch vertrauen, dass ich die Dinge einfach manchmal anders mache, als du sie dir vorstellst. Aber allein bist du nicht.“ Ihre Stimme ist dabei ruhig, warm und klar.
In dieser Stunde haben wir ein zentrales Puzzlestück der Paarsituation verstanden. Der Druck, den Herr L. spürt und zu lösen versucht, indem er seine Frau „antreibt“, hat viel mit seiner eigenen Geschichte zu tun. Der Junge von damals entwickelte als Lösungsstrategie, immer weiterzumachen und dafür zu sorgen, dass auch seine Schwestern weiterfunktionierten, um die Familie zusammenzuhalten und seine Mutter zu entlasten.
Emotionales Verständnis aktivieren
Herrn L.s Entwicklungsaufgabe besteht darin, seinen Druck mehr als Teil seiner Geschichte zu verstehen und weniger als Resultat der Tatsache, auch aktuell die komplette Verantwortung für die Familie allein zu tragen. Anstatt seine Frau weiter anzutreiben, muss er lernen, ihr zu vertrauen und Raum zu geben, damit sie in ihrer Weise Verantwortung übernehmen kann. Frau L. wiederum kann besser den überforderten kleinen Jungen hinter dem „gestressten“ Mann erkennen und ihm signalisieren, dass er nicht allein ist, anstatt sich weinend zurückzuziehen und ihn ohne Antworten stehenzulassen. Anstatt über kleinteilige Inhalte zu streiten, können beide nach dieser Sitzung mehr von ihrer Dynamik verstehen.
Wesentlicher als das „kognitive Verständnis“ füreinander ist das „emotionale Verständnis“ für das Erleben des anderen. In der Imaginationsübung konnte Frau L. in die Erlebniswelt ihres Mannes einsteigen und miterleben, was er erlebt hat. Auf diese Weise wurde ihr emotionales Verständnis aktiviert. Die Möglichkeit, sich wieder empathisch zu begegnen, belebt nicht selten die blockierten Gefühle füreinander, Puls und Herzschlag kehren zurück.
Dr. Eva Frank-Noyon ist Diplompsychologin, Psychologische Psychotherapeutin, Paar- und Sexualtherapeutin, Schematherapeutin und seit 2007 tätig in eigener Praxis in Frankfurt am Main. Sie ist Mitautorin des Buches Passt doch! Paarkonflikte verstehen und lösen mit der Schematherapie (Beltz 2022).
* Persönliche Daten und alle Einzelheiten, die das Paar erkennbar machen könnten, wurden verändert.