Frau Ellerbrock, in meiner Familie hegen mehrere Familienmitglieder den Verdacht, dass sie im Visier der Staatssicherheit der DDR waren, aber die eigenen Akten eingesehen hat noch niemand. Überrascht Sie das?
Bevor mein Kollege Ralph Hertwig vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und ich mit unserer Studie begannen, hätte es mich schon überrascht. Als westdeutsch sozialisierte Historikerin bin ich davon ausgegangen, dass die Menschen, sobald sie die Möglichkeit haben, diese Dokumente zu lesen, es…
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dass die Menschen, sobald sie die Möglichkeit haben, diese Dokumente zu lesen, es auch tun. Ich habe aber gelernt, dass die Mehrheit der Ostdeutschen sich entschieden hat, nicht nachzuforschen, ob sie eine Akte haben, beziehungsweise diese nicht gelesen haben.
Wie viele Menschen haben denn inzwischen ihre Unterlagen eingesehen und wie viele Anträge wären eigentlich zu erwarten gewesen?
Rund 2,2 Millionen Menschen haben einen ersten Antrag gestellt, einige haben zudem einen zweiten Einblick beantragt, weil kontinuierlich Unterlagen rekonstruiert und erschlossen werden. Insgesamt sind seit 1990 rund 3,4 Millionen solche Anträge bei der Behörde für die Stasiunterlagen eingegangen. Wie viele Menschen einen Antrag stellen könnten, ist schwer abschätzbar.
Wie viele Menschen haben einen plausiblen Grund zu vermuten, dass es über sie Dokumente bei der Stasi gibt? Letztlich wissen wir auch nicht sicher, wie viele Menschen die Stasi überwacht hat, weil ein relevanter Teil der Schriftstücke entweder vernichtet wurde oder zum Teil die Dechiffrierung etwa von den zerrissenen Akten noch nicht abgeschlossen ist. Wir gehen davon aus, dass ungefähr fünf Millionen Männer und Frauen potenziell eine Akte haben könnten.
Wie erklären Sie sich diese immense Kluft?
Wir haben die Menschen selbst befragt, wie sie uns diese Kluft erklären, und sie haben uns ganz unterschiedliche Motive genannt. Ein wesentliches Argument ist die Sorge darüber, in der Zukunft niemandem mehr vertrauen zu können, wenn sie lesen, wie umfangreich zum Teil einzelne Bürgerinnen und Bürger ausspioniert wurden. Die Menschen befürchten nicht nur einen Vertrauensverlust in die Stasiinformantin, sondern einen grundlegenden Vertrauensverlust in die Welt. Das sagen immerhin 44 Prozent der von uns befragten Männer und Frauen.
Fast 30 Prozent sagen, dass das, was in der Akte steht, nicht oder nur bedingt glaubwürdig sei. Unter Historikerinnen und Historikern heißt das Quellenkritik – also: Welche Interessen stehen hinter der Produktion eines Schriftstücks und wer hat es für wen produziert?
Informelle Informantinnen und Informanten haben natürlich oft auch einfach irgendetwas aufgeschrieben, um das dann einzureichen. Zum Teil wurden sie selbst unter Druck gesetzt und mussten abliefern. Was in den Unterlagen steht, ist daher immer auch vor diesem Hintergrund zu betrachten. Günter Grass hat zum Beispiel gesagt, dass er seine Akte nicht öffnen möchte, weil er erstens selbst seine Freunde und Bekannten einschätzen und sich nicht durch die Einschätzung der Stasi leiten lassen wolle. Und zweitens seien diese Informationen für ihn eben interessengeleitet und daher auch nicht glaubwürdig.
Wie wichtig ist die Haltung von Prominenten wie Günter Grass für andere Bürgerinnen und Bürger, die sich fragen, ob sie ihre Unterlagen einsehen sollen?
Wenn man sich prominentere Stimmen anschaut, sehen wir eine breite Spreizung in den Meinungen, wie wir sie auch in unseren Interviews mit den Bürgerinnen und Bürgern gefunden haben. Es gibt zum Beispiel Bürgerrechtler und Bürgerrechtlerinnen, die unter dem SED-Regime gelitten haben und sagen: „Ich möchte meine Akte lesen. Ich will wissen, wer mich verfolgt hat.“
Wir haben aber auch Menschen wie Günter Grass, die nicht hineinschauen möchten. In unseren Tiefeninterviews konnten wir allerdings keine Hinweise darauf finden, dass Bürger sich wegen prominenter Persönlichkeiten für oder gegen die Akteneinsicht entschieden haben. Aber: Etwa 15 Prozent der Menschen wollten ihre Unterlagen nicht lesen, weil andere in ihrem Umfeld das so handhaben. Das eigene soziale Milieu ist also relevant dafür, wie Menschen sich entscheiden.
In meiner Familie ist ein Grund dafür, die Akte nicht anzufordern, dass Personen, die vielleicht der Stasi zugearbeitet haben, noch leben und man das lieber nicht hochholen möchte. Ist das eine ungewöhnliche Begründung?
Nein, das ist sogar eine der ganz klassischen Begründungen. Wir wissen aus historischen Studien, dass diese Form der Ignoranz, diese Form des Nichtwissens wesentlich dafür ist, den gesellschaftlichen Frieden zu bewahren. Wenn man vermutet, dass es sich um eine Person aus dem engeren Umkreis handelt, dann sagen die Menschen relativ häufig, sie möchten es überhaupt nicht wissen oder jetzt noch nicht. Sie wollen ihre sozialen Nahbeziehungen schützen, also innerhalb der Familie oder des Kolleginnenkreises keine Konflikte provozieren. Die große Mehrheit der Menschen, die wir intensiver befragt haben, sagten, dies sei ein wichtiger Grund für sie, warum sie sich nicht mit ihren Unterlagen bei der Stasi beschäftigen wollen.
Was haben die Befragten noch als Gründe angeführt?
Die Antworten der Befragten hängen wesentlich von den Lebensumständen ab, in denen sie sich heute befinden, sowie von den Lebensumständen, in denen sie damals lebten. Menschen, die beispielsweise als SED-Mitglieder eine gewisse Regimenähe hatten, sagen, dass sie die Dokumente nicht lesen möchten, weil sie es für falsch halten, dass man die DDR so stark auf die Stasi verkürzt. Sie glauben, dass vor allem westliche Medien die Ansicht verbreitet haben, jeder und jede sollte seine Akte lesen. Ihre Haltung ist eine Art Protest gegen diese empfundene westliche Medienerwartung.
Die Geschichtswissenschaft bezeichnet das als nachgeholte DDR-Identität. Männer und Frauen, die sich während der DDR-Zeit mitunter gar nicht so regimenah gefühlt haben, entwickeln ex post eine DDR-Identität in Reaktion auf einen Diskurs, den sie als westlich dominiert empfinden.
Wichtig ist allerdings, dass die Forderung, die Stasiunterlagen für alle zu öffnen, keine Forderung von westdeutschen Politikschaffenden oder Bürgerinnen war, sondern von ostdeutschen Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtlern, die wissen wollten, wer sie verfolgt, ihr Leben eingeschränkt und sie politisch diskriminiert hat.
Wie bewerten Sie die genannten Motive? Sind das die tatsächlichen Gründe?
Für Interviews, wie wir sie für diese Studie durchgeführt haben, gibt es Techniken, um zu prüfen, ob Informationen, die die Zeitzeuginnen und -zeugen uns geben, valide sind oder nicht. Diese Techniken wurden unter anderem auch für die Befragung von Zeitzeugen aus der NS-Zeit angewandt. Wir haben dafür sehr lange Gespräche geführt – über mehrere Stunden. Dabei oder im Nachgang haben wir untersucht, ob Aussagen konsistent sind oder es Widersprüche darin gibt, die darauf schließen lassen, dass hier jemand beispielsweise die Unwahrheit sagt.
Was wir in unserer Studie gesehen haben: Das Argument, das zu Beginn der Interviews häufig genannt wurde – nämlich dass die Akteneinsicht für die Befragten und ihren Alltag keine Bedeutung mehr habe –, lässt sich oft als Schutzargument lesen. Wenn wir länger mit den Menschen gesprochen und tiefer gegraben haben, zeigte sich oft, dass durchaus andere Gründe existieren. Etwa die Dokumente nicht einsehen zu wollen, um das eigene Selbstbild zu schützen, also den Entwurf, den man von der eigenen Identität als aufrechter Mensch hat.
Warum sollten die Menschen ihre Stasiakten überhaupt lesen? Was haben sie und was hat die Gesellschaft davon?
Eine Gesellschaft sollte grundsätzlich die Option bieten, dass Menschen so selbstbestimmt wie möglich leben, ihnen also auch die Wege eröffnen, Wissen über die eigene Vergangenheit erwerben zu können, wenn sie das möchten. Davon abweichend kann sich aber eine Person durchaus aus individuellen Gründen entscheiden, bestimmtes Wissen nicht zu akquirieren.
Man kann auch nicht sagen, dass die Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit gut oder schlecht ist. Es hängt davon ab, über welche Personen wir sprechen und welche Geschichten sie haben.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Wenn man in der DDR nicht stark verfolgt wurde, keine gravierenden, traumatisierenden Gewalterfahrungen im Gepäck hat, kann das Ignorieren dessen, was in den Stasiunterlagen steht, durchaus dazu beitragen, Beziehungen und die eigene emotionale Balance zu schützen. Denn wenn ich mich plötzlich damit konfrontieren muss, dass Menschen, denen ich mein Leben lang vertraut habe, der Stasi Informationen über mich zugetragen haben, ist das natürlich eine enorme Enttäuschung und eine Belastung, mit der man erst einmal umgehen muss. Ehen und Freundschaften sind daran zerbrochen. Manche Leute haben psychisch lange daran geknabbert, weil dies eine so starke Enttäuschung war. Das können sie sozusagen verhindern, wenn sie ihre Akte nicht öffnen.
Ist man aber jemand, der in dieser Zeit Gewalt durch den Staat erfahren hat, kann es unendlich belastend sein, dieses Wissen nicht erwerben zu können, weil beispielsweise die Dokumente nicht zugänglich sind. Für solche Menschen kann es hilfreich sein zu wissen, wer daran schuld ist, dass man zum Beispiel nicht studieren durfte, wer einem das Kind weggenommen und in die Zwangsadoption gegeben hat oder andere Leiden verursacht hat. Der Kontext und die Konstellation sind ganz wichtige Faktoren.
Meinen Sie, es wäre sinnvoll, Menschen davon zu überzeugen, sich dieser Möglichkeit, also der Akteneinsicht zu bemächtigen?
Ich glaube nicht, dass es ein normatives Ziel sein sollte, denn es ist eben nicht für alle Menschen gleichermaßen gut. Beziehungen zu schützen oder die eigenen Gefühle zu regulieren können individuell sinnvolle Gründe sein, diese Akten nicht anzusehen. Das sind wichtige Motive, die wir auch in anderen Bereichen des Lebens anführen. Wenn jemand sehr krank ist, hat jeder und jede das Recht zu sagen: „Ich will gar nicht wissen, wie schlimm diese Krankheit wird, sondern ich möchte mir diese Unwissenheit bewahren, um mit der Situation besser umgehen zu können.“
Was sagt es über unseren Umgang mit der DDR-Vergangenheit, dass so viele Menschen sich mit der eigenen Vergangenheit nicht beschäftigen wollen?
Ich weiß gar nicht, ob wir im Vergleich zu anderen Epochen tatsächlich eine Zurückhaltung beobachten können. Wenn wir uns beispielsweise den Umgang mit der NS-Vergangenheit in den 1950er Jahren anschauen, dann haben wir hier auch viel gewolltes Nichtwissen und bewusste Ignoranz. Wir finden in dieser Zeit vor allem Verschweigen und Verdrängen, das eine Gesellschaft kollektiv bis tief in die 1960er und 1970er Jahre praktiziert hat. Diesen Antrieb, aufklären zu wollen, haben wir in Deutschland eigentlich erst seit den 1980er Jahren entwickelt.
Ein anderes Beispiel: Wollen wir wirklich wissen, was in Guantanamo passiert ist, oder sagen wir: Die USA sind der wichtigste NATO-Partner und alles andere ignorieren wir? Oder schauen Sie sich die aktuellen Diskussionen um unsere koloniale Vergangenheit an. Als Gesellschaft haben wir hier viele Dinge sehr großräumig ignoriert, etwa um über bestimmte Sachverhalte nicht nachdenken oder uns selbst gegenüber keine Rechenschaft ablegen zu müssen.
Wir finden diesen Hang zum Nichtwissen-Wollen in so vielen Bereichen, da ist der Umgang mit der DDR und mit der Staatssicherheit kein Ausreißer nach unten. Im Gegenteil, ich denke, dass der Umgang mit der DDR-Vergangenheit sehr viel aufgeklärter war und ist als zum Beispiel der Umgang mit der NS-Vergangenheit, ohne an dieser Stelle die Regime und ihre Verbrechen gleichzusetzen.
Die Befunde Ihrer Forschungen fanden bislang vor allem in Medien Anklang, die vorwiegend im Osten gesehen oder gelesen werden. Sind Ihre Erkenntnisse nicht auch für andere Menschen in diesem Land wichtig?
Ich möchte sogar sagen: nicht nur für Menschen in diesem Land. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir einen Mechanismus untersucht haben, der für alle Gesellschaften – etwa der Antike und des Mittelalters – sowie für andere Weltregionen genauso wesentlich ist.
Ein Befund unseres Projektes ist, dass in allen Gesellschaften und in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Kontexten immer Wissen und Nichtwissen miteinander verschränkt sind. Es gibt kein Feld, in dem es nur Wissen und kein Unwissen gibt oder geben sollte. Wir beleuchten in unserem Projekt erstmalig die individuellen und kollektiven Logiken und Motive, die hinter dem gewollten Nichtwissen stehen, und zeigen, dass dies ein wichtiges Werkzeug ist, um das Tempo in gesellschaftlichen Umbruchsituationen zu gestalten und zu dosieren.
Inwiefern?
Veränderungen in der Gesellschaft sind mit vielen Chancen, Herausforderungen und Ängsten verbunden. Wissen ist wichtig, um sie zu meistern – aber auch gewolltes Nichtwissen, um vor allem die emotionalen Herausforderungen zu meistern. Das ist eine Erkenntnis, die in Ost und West sowie Nord und Süd verstanden werden sollte.
Ich komme gerade von einer Forschungsreise aus Washington zurück und habe dort mit einer Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gearbeitet, die sich mit Wissensgeschichte beschäftigen. Die waren völlig fasziniert davon, was wir untersucht und herausgefunden haben. Sie haben sofort verstanden, dass dieser Zusammenhang auch in ihren Forschungsfeldern relevant ist, etwa im Bereich der Migrationsgeschichte, wo bestimmtes Wissen auch über Generationen fortgetragen wird oder nicht. Dieses Phänomen des Nicht-wissen-Wollens ist global und zeitübergreifend und wir stehen erst am Anfang, es in allen seinen Dimensionen und Facetten zu verstehen.
Dagmar Ellerbrock ist Professorin für neuere und neueste Geschichte an der Technischen Universität Dresden. Gemeinsam mit dem Psychologen Ralph Hertwig vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung hat sie untersucht, warum Menschen ihre Stasiakten nicht einsehen wollen.
Einsicht in die Stasi-Akten
Die Akteneinsicht kann man auf der Website des Stasi-Unterlagen-Archivs beantragen.
Quellen
Ralph Hertwig, Dagmar Ellerbrock: Why people choose deliberate ignorance in times of societal transformation. Cognition, 229, 2022
Dagmar Ellerbrock, Ralph Hertwig: The Complex Dynamics of Deliberate Ignorance and the Desire to Know in Times of Transformation. The Case of Germany. In: Ralph Hertwig, Christoph Engel (Hg.): Deliberate Ignorance. Choosing Not to Know. MIT Press 2021, 19–38
Ein Podcastgespräch mit Dagmar Ellerbrock und Ralph Hertwig gibt es auf der Website des Stasi-Unterlagen-Archivs: bit.ly/PH_Stasiunterlagen