„Graue Haare nur dann, wenn sonst alles stimmt“

Immer mehr Frauen zeigen selbstbewusst ihre grauen Haare. Verschiebt sich unser Schönheitsideal? Ist Älterwerden jetzt sexy? Fragen an Ada Borkenhagen

Die Illustration zeigt zwei ältere Frauen, die große Blumen am Stängel vor ihr Gesicht halten. Die eine Blume ist grau und welk, die andere farbenfroh und lebendig.
Nur mit gefärbten Haaren blüht Frau auf? Dabei kann man mit grauen Haaren auch strahlen. © Shenja Tatschke für Psychologie Heute

Frau Borkenhagen, Menschen investieren viel Zeit und Geld und reiben sich regelmäßig chemische Mittel auf den Kopf, um ihr graues Haar zu verstecken. Warum?

Weil das graue Haar ein Alterszeichen ist. Im Alter werden wir generell etwas farbloser. Unsere Augenbrauen werden heller, die Wimpern sprießen nicht mehr so voll, das Haar wird dünner, die Haut wird etwas blasser und die Lippen sind nicht mehr so gut durchblutet. Die grauen Haare sind ein starkes Differenzierungsmerkmal zwischen Jung und Alt.

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gut durchblutet. Die grauen Haare sind ein starkes Differenzierungsmerkmal zwischen Jung und Alt.

Wir werden doch alle älter, warum fällt es besonders Frauen oft schwer, zu ihrem Alter zu stehen?

In unserer alternden Bevölkerung ist Jugendlichkeit weiterhin das dominante Schönheitsideal. Wir wollen alle alt werden, aber nicht alt aussehen. Deswegen geben Frauen und übrigens auch Männer enorme Geldsummen aus, um bestimmte Zeichen der Jugendlichkeit zu erhalten. Ein jugendliches Aussehen ist schon sehr lange ein Menschheitstraum.

Das sehen Sie an Darstellungen des Mittelalters: Auf dem berühmten Jungbrunnengemälde von Lucas Cranach zum Beispiel sind es nur alte Frauen, die in den Jungbrunnen geführt werden und dem Wasser in jungen Körpern wieder entsteigen. Die Männer, die diese älteren Damen führen, haben die Verjüngung offenbar nicht nötig. Die Vorstellung, dass Frauen das schöne Geschlecht sein müssen, ist schon sehr alt.

Werden deswegen graue Haare bei Männern heute noch anders bewertet als bei Frauen?

Vieles an diesem Bild besteht weiter fort. In unserer westlichen Kultur werden Männer, wenn sie graue Haare oder Falten bekommen, eher als seriös und weise betrachtet oder sogar als sexy. Das ist bei Frauen anders. Die alternde Frau verkörpert das, was eigentlich beide Geschlechter abwehren wollen, nämlich Vergänglichkeit, Verlust an körperlicher und geistiger Flexibilität. Das wird nur den Frauen zugeschoben. Zum Beispiel gibt es für Frauen ab einem bestimmten Alter nur noch wenige Thea­ter- und Fernsehrollen, die alternde Frau verschwindet damit auch aus dem kulturellen Bild. In unserer patriarchal geprägten Kultur können Männer einen Attraktivitätsnachteil eher durch Status, Macht oder Geld ausgleichen.

Wie wichtig ist es, gut auszusehen?

Sexyness ist soziales Kapital und es ist heute immer noch so, dass Frauen vorrangig über ihr körperliches Aussehen bewertet werden. Das gilt aber auch für Männer. Zahlreiche Untersuchungen aus der Sozialpsychologie zeigen, dass Attraktivität der größte soziale Ungleichheitsfaktor in westlichen Gesellschaften ist. Wir bewerten Menschen, die attraktiv aussehen, als kompetenter und freundlicher. Hübsche Kinder bekommen bessere Noten, attraktive Menschen bekommen ein höheres Gehalt und geringere Strafen bei Gerichtsverhandlungen. Dieses Attraktivitätsstereotyp ist sehr gut belegt. Bei Frauen kann sich das allerdings ab einem gewissen Punkt wieder umdrehen. Je attraktiver eine Frau ist, desto eher kann es ihr passieren, dass ihr Kompetenz abgesprochen wird.

Wie wirken sich diesbezüglich graue Haare bei Frauen aus – gelten auch grauhaarige als weniger kompetent?

Das würde ich so nicht sagen. Christine Lagarde beispielsweise, die Präsidentin der Europäischen Zentralbank, trägt ja graues Haar, und bei ihr ist es sicherlich auch ein Kompetenzausweis. Kluge und erfolgreiche Frauen wie sie genießen vielleicht gesellschaftliches Ansehen, gelten allerdings nicht unbedingt als der Inbegriff von jugendlicher Sexyness. Bei Männern ist das anders. George Clooney hat durch seine grauen Schläfen nicht viel an Sexappeal verloren. Was aber nicht heißt, dass George Clooney sich hängende Backen leisten kann, auch er nutzt Botox. Bei Männern gilt der Haarverlust, also die Glatze häufig als Alterszeichen. Deswegen verwundert es nicht, dass sich Prominente wie der Trainer Jürgen Klopp einer Haartransplantation unterziehen.

Es gibt eine neue Gegenbewegung: Die Moderatorin Birgit Schrowange und Hollywoodstars wie Andie MacDowell oder Sarah Jessica Parker zeigen graue Mähne. Auf Instagram präsentieren immer mehr Frauen selbstbewusst ihre ungefärbten Haare. Ist das Tragen von Grau auf dem Kopf auch ein Akt der Emanzipation?

In der Coronapandemie, als die Friseure schließen mussten, haben sich viele Frauen dazu entschlossen, grau zu werden. In der Folge gab es zahlreiche Medienberichte, dass Grau jetzt sexy sein soll. Ich denke, da ist aus erzwungenen Umständen eine Mode entstanden. Sicherlich ist es auch der Versuch einer Gegenbewegung, zu sagen: Ich liefere mich nicht mehr diesem Druck aus, mir für viel Geld alle paar Wochen die Haare färben zu müssen. Aber ganz so einfach ist es nicht.

Wenn ich mir ein Alterszeichen wie graue Haare leiste, bleibt die Frage, ob ich nicht trotzdem weiterhin einem Jugendlichkeitsideal nacheifere, also eine schlanke Figur, eine gesunde Haut, einen sonnengebräunten Teint aufweisen muss und nicht zu viele Falten haben darf. Graue Haaren werden heute als schön akzeptiert, aber nur wenn sonst alles stimmt und das Grau selbst gut aussieht. Denn bei manchen glänzen die grauen Haare silberfarben, bei anderen wirken sie eher blass und kraftlos.

Die natürliche Haarfarbe wird sich also nicht durchsetzen?

Graues Haar ist aktuell in Mode und kann daher neuerdings auch ein Zeichen von Sexyness sein. Für einzelne Frauen ist das zudem eine Möglichkeit, nicht diesem Färbezwang unterliegen zu müssen. Ich denke aber nicht, dass sich dadurch das Schönheitsideal unserer Gesellschaft auf Dauer verändern wird.

Aber Schönheitsvorstellungen ändern sich doch auch mit Modetrends.

Haarmoden verändern sich natürlich. Wenn Sie heute die Dauerwellen aus den 1980er Jahren sehen, fragen Sie sich: Um Gottes willen, wie konnte man das schön finden? Aber damals hatten alle diese Dauerwellen und alle fanden die super. Oder ein anderes Beispiel: In Filmen aus den 1950er bis 1970er Jahren ist der weibliche Haarschopf sehr einheitlich gefärbt, wie zum Beispiel bei Marilyn Monroe. Das galt als Zeichen für einen guten Friseur. Heute würde man eher denken, das sieht billig gefärbt aus, so, als wäre jemand in einen Farbtopf gefallen.

Haare sollen heute natürlich aussehen, was extrem aufwendig und teuer ist. Doch neben diesen sich ändernden modischen Trends gibt es universelle Merkmale von Attraktivität, die sich vermutlich auch in 100 Jahren nicht ändern werden. Die können Sie gut studieren, wenn Sie sich in der europäischen Malerei anschauen, wie Maria dargestellt wird – und dazu gehört das Ideal von Jugendlichkeit.

Es gibt neuerdings auch junge Menschen, die ihr Haar sogar extra grau färben.

Ja, es gibt Versuche, dem grauen Haar dieses Alterszeichen zu nehmen. Vor etwa drei oder vier Jahren haben viele junge Models angefangen, sich die Haare grau zu färben. Das erzeugt natürlich einen starken Kontrast, weil Sie bei grauem Haar eigentlich ein älteres Gesicht erwarten.

Ist es eine gesunde Einstellung, wenn jemand sagt: „Mir ist es egal, wie ich aussehe und was das Schönheitsideal fordert“?

Ja, aber wenn ich sage, dass ich alle Schönheitsideale ablehne, kann das auch ein Abwehrmechanismus sein, weil ich sie sowieso nicht erreichen kann oder weil es sehr viel Mühe bedeuten würde, dabei mitzuhalten. Und auch wenn es mich wirklich nicht interessiert, wie ich aussehe, wird die Gesellschaft mich trotzdem nach dem ersten Eindruck einordnen.

Wie kann man sich von den Schönheitsidealen weniger unter Druck setzen lassen?

Wir verbinden mit Attraktivität ein Versprechen. Es wird uns suggeriert: Wenn ich attraktiv bin, habe ich gute Beziehungen, mehr Chancen bei der Partnerwahl. Aber mehr Chancen zu haben heißt nicht, dass ich deswegen auch den richtigen Partner oder die richtige Partnerin finde. Und ich weiß natürlich nicht, ob ich nur wegen meines Aussehens gewählt werde, also ob die andere Person mich wirklich liebt oder nur das schöne Bild von mir, mit dem sie sich schmücken möchte. Im Laufe des Lebens wird uns immer bewusster, dass Schönheit nur das Versprechen, die Verheißung von Glück ist, aber nicht das Glück selbst. Zufriedenheit und Lebensglück empfinden wir, wenn wir gute und erfüllende Beziehungen zu anderen Menschen haben.

Welchen Einfluss haben die sozialen Medien?

Die Bilder in den sozialen Medien beeinflussen unsere Wahrnehmung stark. Wir leben im Zeitalter der Selbstoptimierung, immer das Beste aus sich zu machen, und das heißt für viele Menschen, so gut wie möglich auszusehen. Mit dem Aufkommen von Handykameras ist es möglich, dauernd Selfies zu machen und zu verschicken. Früher hat man sich nur morgens im Spiegel gesehen, ab und zu im Schaufenster und wenn man auf die Toilette gegangen ist. Heute können wir jede Minute unseres Lebens in ein Bild verwandeln, überall fotografieren wir uns und werden fotografiert. Das konfrontiert uns natürlich auch ständig mit unserem Aussehen.

Was macht das mit uns?

Das viele Kreisen um sich selbst führt dazu, dass ich eher die Orientierung auf mein Gegenüber verliere. Wenn ich dauernd damit beschäftigt bin, wie ich aussehe, verliere ich die anderen und das, was in Beziehungen wichtig ist, aus den Augen. Außerdem kursieren Bilder, die völlig unrealistisch sind, aber zur Idealvorstellung werden und meine Unzufriedenheit mit meinem Aussehen steigern. Ich kann mit Beautyfiltern digital attraktiver aussehen und ständig diese geschönten Bilder posten. Aber irgendwann kommt der Moment, in dem ich der Welt analog begegne. Dann ist die Diskrepanz zwischen meinem realen und meinem idealen Aussehen vielleicht groß. Es kann zu einem bösen Erwachen kommen, wenn jemand in der Realität ganz anders aussieht als auf den geschönten Fotos. Daher ist der Druck groß, mittels medizinischer Schönheitsangebote dieses Idealbild zu erreichen. Aber bis heute kann Schönheitsmedizin nur realistische Erwartungen erfüllen.

Ist es nötig, sich selbst schön zu fühlen, um glücklich sein zu können?

Seelische Gesundheit bedeutet, dass ich mit meinem Sein relativ zufrieden bin, im Großen und Ganzen. Das hat viel mit dem eigenen Selbstwertgefühl zu tun. Klar, es gibt immer Bereiche, in denen es besser sein könnte, aber der Abstand zu meinen Idealen darf nicht zu groß sein, das betrifft nicht nur das Aussehen.

Was raten Sie, um sich nicht verrückt machen zu lassen?

Es ist gut, sich klarzumachen, dass die aktuellen Schönheitsideale, zum Beispiel das Instagram-Face – die ausgeprägten Wangenknochen, die kleine Stupsnase und aufgepumpte Lippen –, nicht für immer gültig sein werden. Man kann den jungen Frauen nur abraten, sich das Gesicht so machen zu lassen. Die sehen alle gleich aus, wie eine Schablone. Das Wesen der Mode ist, dass sie sich ändert. Wenn also sehr viele Frauen demnächst riesige Lippen haben, wird sich dieses Ideal wieder ändern. Und das kann zum Problem werden. Wenn beim Aufspritzen der Lippen sehr übertrieben wurde und sich die sogenannte Sprungschanzenlippe oder Entenschnute bildet, besteht die Gefahr, dass das in zehn Jahren furchtbar veraltet aussieht.

Das zeigt sich gut an den Tattoos aus den 1990er Jahren. Die Arschgeweihe sind heute nicht nur verblasst und aus der Mode, sie machen ihre Trägerin auch besonders alt. Frisur- oder Kleidungsmode lässt sich vergleichsweise einfach ändern, aber Eingriffe am Körper nicht – und das ist vielen nicht klar.

Ada Borkenhagen ist Professorin für psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Magdeburg. Die Psychoanalytikerin und Psychotherapeutin forscht zu Körperoptimierung, Schönheitsmedizin, Persönlichkeits- und Identitätsstörungen.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2025: Meine verborgenen Seiten und ich