Frau Gaugele, unsere Kleidung wird immer informeller. Driften wir in eine uniformierte Bequemlichkeit ab?
Das würde ich nicht sagen. Seit der Corona- und dann Homeofficezeit ist das Tragen von Athleisure Wear üblich geworden. Athleisure Wear ist sozusagen ein Mix aus bequemer Sportkleidung und alltäglicher Freizeitmode. Sie zeichnet sich durch leichte, angenehme Materialien und bequeme Schnitte aus. Ethical Fashion, Öko- und Yogamarken spiegeln unseren Wunsch nach Komfort, aber auch nach gesellschaftlicher…
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Ethical Fashion, Öko- und Yogamarken spiegeln unseren Wunsch nach Komfort, aber auch nach gesellschaftlicher Veränderung, Nachhaltigkeit und Entschleunigung wider.
Kurzum, Mode ist zu einem Zeichen und Wunschbild eines entspannteren Lebensstils geworden. Denken Sie an den gestressten Manager, der in weiten Jeans und Turnschuhen daherkommt, um cool und entspannt zu wirken. Was die Uniformität angeht: Ich finde nicht, dass sie überhandnimmt. Uniformität war einerseits schon immer ein Teil der Mode und ihrer seriellen Massenproduktion. Andererseits zeichnet sich Mode doch durch eine enorme Vielfalt aus.
Sind damit die alten Kleiderregeln überholt? Macht man sich zu bestimmten Anlässen nicht mehr schick?
Diese Frage lässt sich nicht pauschal beantworten. Dass wir heutzutage informeller geworden sind, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Beispielsweise gibt es unterschiedliche Vorstellungen je nach Alter und Generation. Ältere Menschen möchten oft jünger aussehen und übernehmen Elemente aus der aktuellen Jugendkultur oder altern im Outfit ihrer eigenen Jugendzeit.
Stimmt mein Eindruck, dass auch die Designermode immer lässiger wird?
Es ist ein Prozess, der sich seit längerem abzeichnet: Designermode wird zunehmend von Streetstyles beeinflusst, orientiert sich an Jugendkulturen und am globalen Markt. Die einstige Aussage von Karl Lagerfeld, dass „wer eine Jogginghose trägt, die Kontrolle über sein Leben verloren hat“, gilt längst nicht mehr.
Selbst in die Haute Couture ist diese Lässigkeit eingezogen.
Wenn wir zurückblicken: Mode war historisch vor allem ein Luxusprodukt. Die Trends wurden geprägt von der Haute Couture. Das ist mittlerweile nicht mehr der Fall. Im Gegensatz zur traditionellen Mode, die von Designerinnen und Designern im Atelier für den Laufsteg produziert wird, entstehen Streetstyles direkt auf der Straße. Jugendkulturen und Styles wehren sich gegen bestimmte Normen wie Klasse, Geschlecht und Ethnizität, die von einem etablierten Mode- und Gesellschaftssystem vorgegeben werden. Und sie haben ein großes kreatives Potenzial. Eine jüngere Generation von Modedesignerinnen experimentiert inzwischen erfolgreich mit informellen Kleidungsstilen. Exklusivität spielt nunmehr eine andere Rolle, sie bezieht sich nicht mehr nur allein auf Eleganz.
Weil inzwischen auch Turnschuhe schick und exklusiv sein können?
Turnschuhe haben sich zu Luxusartikeln entwickelt. Kooperationen zwischen Designer- und Sportmarken wie die zwischen Prada und Adidas – von Fans „Pradidas“ genannt – zeigen, dass das Konzept von Mode, Sport und Streetstyle oft miteinander verschmilzt. Es gibt mittlerweile Jogginganzüge, die als Luxusartikel und Designerwear gelten können. Ein Beispiel dafür ist der Jogginganzug von Gucci, der 3000 Euro kosten kann. Das zeigt auch, dass sich soziale Unterschiede bei der Athleisure neu präsentieren, auch wenn sie natürlich bestehen bleiben.
Ist es ein Unterschied, ob ich in einer teuren Jogginghose oder in einem Anzug ausgehe?
Das hängt vom Kontext ab. Der Look kann sowohl sportlich-elegant als auch professionell wirken, je nachdem wie wir die einzelnen Teile miteinander kombinieren und in welchen öffentlichen Bereichen wir uns bewegen. Natürlich macht es einen Unterschied, ob ich eine teure Jogginghose oder einen klassischen Anzug trage. Während der Designer-Tracksuit im Club, in der Musik- und Kreativbranche durchaus funktioniert, ist er in anderen Bereichen wie in der Wirtschaft oder Politik noch immer ein No-Go. Hier geht es um ein ganz anderes öffentliches Selbst: ökonomisch, rational, vernünftig, bürgerlich. Letztlich spiegelt unsere Kleidung nicht nur unseren persönlichen Stil wider, sondern auch unsere gesellschaftlichen Rollen und die Botschaft, die wir vermitteln möchten.
Das heißt, manchmal ist Lässigkeit die falsche Botschaft?
Bei manchen beruflichen und offiziellen Anlässen kann das Tragen von zu legerer Kleidung den Eindruck von Unprofessionalität erwecken. Darüber hinaus kann unangemessene Kleidung in bestimmten sozialen Kontexten als respektlos oder gar als Provokation wahrgenommen werden. Dennoch ist es wichtig zu betonen, dass Mode auch eine Form des persönlichen kreativen Ausdrucks ist, und es gibt viele Gelegenheiten, in denen Individualität und Stil geschätzt werden.
Ist die informelle Mode mehr als nur eine vorübergehende Erscheinung?
Sie ist in der Tat Ausdruck eines gesellschaftlichen Wandels. Heute haben wir eine große Auswahl an Stilen, die immer wieder neu aufgelegt, neu zusammengesetzt und interpretiert werden. So sind Miniröcke aus den 60er Jahren nach wie vor präsent, daneben aber auch weite lange Hosen. Diese Vielfalt zeigt, dass sich etwas verändert hat. Der Feminismus und die Queerbewegung haben die Mode entscheidend revolutioniert. Immer weniger Menschen möchten in traditionellen Geschlechterrollen feststecken, die oft stereotyp mit dem Streben nach äußerlicher Schönheit verbunden sind. Schick sein bedeutet nunmehr, cool zu sein, sich selbst treu zu bleiben und Diversität zu zeigen. Man möchte sich nicht verbiegen oder in etwas hineinzwängen, das nicht zu einem passt. Aber es gibt natürlich unterschiedliche Entwicklungen, parallel dazu verkörpern auch weiterhin viele Influencerinnen konventionelle Schönheitsideale und Geschlechterdarstellungen.
Was sagt unser Kleidungsstil über unsere Werte und Prioritäten aus?
Der allgemeine Trend zu bequemer Kleidung zeigt, dass Komfort in unserer schnelllebigen Gesellschaft an Bedeutung gewinnt und die eigene Komfortzone weiter gefasst wird. Individuell können wir durch bestimmte Kleidungsstile wie Businesskleidung oder Streetwear unterschiedliche soziale Hierarchien und Zugehörigkeiten signalisieren. Letztlich ist der Kleidungsstil ein Spiegelbild dessen, wie wir uns in der Welt positionieren. Selbst Werte können zur Mode werden, wenn sie über bestimmte Objekte demonstrativ zur Schau gestellt werden.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Zum Beispiel kann die Wahl von nachhaltiger Mode auf ein wachsendes Bewusstsein für Umweltfragen und soziale Verantwortung hinweisen. Der Begriff Ethical Fashion spiegelt das ganz gut wider. Er verknüpft ökologische Werte mit einem Bewusstsein für globale und soziale Gerechtigkeit. Es geht also um Mode, die unter fairen und transparenten Arbeitsbedingungen hergestellt wurde. Diesen Leitprinzipien folgen inzwischen auch manche Hersteller von Athleisure.
Kann legere Kleidung auch unser Selbstbild oder sogar unser Verhalten beeinflussen?
Wenn wir uns in bequemer und lässiger Kleidung wohlfühlen, fördert das ein positives Selbstwertgefühl, fördert unsere Beweglichkeit und gibt uns ein Gefühl der Entspanntheit. Viele Menschen möchten sich nicht mehr von ihrer Kleidung unter Druck setzen lassen, etwa durch den Zwang, Gewicht zu verlieren, damit ein bestimmtes Outfit „tragbar“ wird. Dieses neue Bewusstsein für den eigenen Körper führt dazu, dass wir uns mehr von unseren Gefühlen leiten lassen und uns nicht mehr in enge Kleidung und normierte Kleidergrößen reinpressen wollen.
Sie meinen, es gibt ein neues Körpergefühl?
Ja, wir wollen nicht mehr bestimmten gesellschaftlichen Normen entsprechen. Wir akzeptieren immer mehr, dass unser eigener Körper nicht immer gleich, sondern flexibel ist, mal dicker, mal dünner, an den unterschiedlichsten Stellen, manchmal sogar im Verlauf eines einzigen Tages. Durch legere Kleidung können wir uns an diesem Punkt selbst treu bleiben, unsere Individualität ausdrücken und uns gut fühlen.
Auch die einzelnen Generationen haben ja ganz unterschiedliche Vorstellungen von Kleidung. Wie kommt das?
Es war schon immer so, dass sich Stile ergänzen und abgrenzen. Yogahosen und Leggings im Alltag haben die Skinnyjeans der Generation Y abgelöst. Die jüngere Generation Z findet zudem, dass die Anklesocks, die knöchelkurzen Socken der Generation Y ein No-Go sind. Die Gen Z bevorzugt nicht nur längere Socken, sondern auch bequeme, weitere Kleidung. Diese minimale Entwicklung zeigt einmal mehr, dass Kleiderregeln, Stil und Geschmack in einem ständigen Wandel begriffen sind und sich den aktuellen gesellschaftlichen Gegebenheiten anpassen.
Welche Rolle spielt Instagram dabei?
Trends entstehen mehr denn je im Internet. Influencerinnen und soziale Medien haben einen großen Einfluss auf die Modewelt. Sie haben die traditionellen Modezeitschriften ebenso wie die klassischen jugendkulturellen Streetstyles abgelöst. Ein Beispiel dafür ist der Trend Dark Academia, bei dem sich junge Menschen im Stil amerikanischer Colleges kleiden und hochwertige Vintagemode aus schweren, teuren Stoffen in gedeckten Farben tragen. Dieser Retrostil setzt auf die Old Money-Ästhetik im Stil wohlhabender Familien. Das ist definitiv ein Gegentrend zu den gegenwärtigen Athleisure-Outfits. Aber auch Serien und Filme beeinflussen die Mode, indem der Stil beliebter Charaktere übernommen wird. Insgesamt gibt es heutzutage viel mehr visuelle Vorlagen als früher und damit mehr Möglichkeiten, seinen persönlichen Stil noch individueller auszudrücken.
Und wie findet man seinen eigenen Stil?
Persönlich finde ich es spannend, Inspiration an verschiedenen Orten zu suchen: Dazu gehören Kunst, soziale Medien, aktuelle Designerkollektionen, das Anschauen von historischen Modefotografien oder auch Reisen. Ich finde auch das Stöbern in Secondhandshops, im eigenen Kleiderschrank oder sogar in dem von Freundinnen und Familie hilfreich. Da geht es um kleine Veränderungen, die nachhaltiger sind, als ständig etwas Neues zu kaufen. Wer Zeit hat, kann selbst etwas nähen, Textilien reparieren oder im Sinne des Upcyclings neu zusammensetzen. Neues auszuprobieren fördert die Kreativität und die Freude am Gestalten. Letztendlich ist Mode eine kreative Praxis und ein Spiel. Es gibt keine festen Regeln und das Experimentieren kann viel Spaß machen.
Elke Gaugele ist empirische Kulturwissenschaftlerin und Professorin für Moden und Styles an der Akademie der bildenden Künste Wien.