Vom Trost der Spiritualität

Therapiestunde: Eine Schmerzstörung beeinträchtigt das Leben der 16-Jährigen Victoria. Der Therapeut profitiert von ihrem Interesse für Spiritualität.

Die Illustration zeigt eine Frau auf einer Couch, daneben sitzt ihr Therapeut und schreibt, darunter ist eine große Hand, die die Szene trägt
Das Interesse an spiritueller Vielfalt seiner Patientin macht sich der Therapeut zu nutzen. Er schafft einen Raum zum gemeinsamen Philosophieren. © Michel Streich für Psychologie Heute

In meiner Tätigkeit zuerst als Kinderarzt, später als Kinder- und Jugendpsychiater und -psychotherapeut hatte ich das Privileg, junge Menschen und ihre Familien durch schwere körperliche Erkrankungen und psychische Krisen zu begleiten. Solche nicht erwünschten Lebenseinschnitte können die schon vorhandene Spiritualität aktivieren – gerade bei Kindern und Jugendlichen. Im Laufe der Jahre habe ich verstanden, dass ich durch das Zuhören der eigentlich Lernende bin. Nicht ich gebe Inhalte oder Themen vor,…

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verstanden, dass ich durch das Zuhören der eigentlich Lernende bin. Nicht ich gebe Inhalte oder Themen vor, sondern werde bereichert durch das, was mir im Vertrauen mitgeteilt wird.

Durch intensives Zuhören konnte ich immer wieder erfahren, wie weise, offen und spirituell junge Menschen sind – oft viel mehr als Erwachsene. Die Spiritualität, das heißt das Bedürfnis nach transpersonaler Verbundenheit, ist bei allen Menschen angelegt, sie muss nicht erworben werden. Von manchen Kindern und Jugendlichen werden spirituelle Erfahrungen versteckt gehalten, aus Schamgefühlen gegenüber ihrer Umwelt. Der geschützte Rahmen der Psychotherapie bietet die Möglichkeit, diese Erfahrungen nicht nur mitzuteilen, sondern gemeinsam zu explorieren.

Starke Verbindung zum Lebendigen

Manche Jugendliche sind sehr nahe an der spirituellen Dimension, wie zum Beispiel die 16-jährige Victoria*, die an einer chronischen Schmerzstörung litt. Die bisherigen Behandlungsversuche waren nicht erfolgreich gewesen. Schon in den ersten Stunden fiel mir auf, dass sie nicht über ihre Schmerzen klagte, sondern gleich und intensiv in den Dialog über die für sie wichtigen Themen einstieg.

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Eines davon war ihre Desillusionierung über ihre Kindheitsreligion. Sie sagte, dass sie inzwischen nicht mehr an Gott glaube. Als sie in der fünften Klasse war, betete sie jeden Abend zu Gott und las die Bibel. Dann begann sie nachzudenken, und durch ihre Gedanken bemerkte sie, dass sie ihren Glauben nicht mehr akzeptieren konnte. Ihr Hauptargument war: „Wenn Gott tatsächlich so allmächtig wäre, würde er mit Sicherheit dafür gesorgt haben, dass jeder an ihn glaubt.“

Victoria kam zum Schluss, dass ein starker Gott nicht erlauben würde, sich infrage stellen zu lassen. Da er es zulasse, könne er nicht so mächtig sein. Aber bei derartigen philosophischen Überlegungen blieb Victoria nicht stehen, sondern entwickelte ihre eigene persönliche Spiritualität. Mit Wundern und Staunen betrachtete sie den nächtlichen Sternenhimmel und kam zu der Überzeugung: „Ich bin sicher, dass es eine höhere Kraft gibt.“

Sie liebt es, den Mond und die Sterne anzuschauen, und ist sicher, dass sie einen Einfluss auf sie haben, obwohl sie denkt, dass die Sterne tot sind und nicht selbst leuchten: „Sie reflektieren das Licht und sind trotzdem so stark.“ Sie ist sicher, dass ihr inneres Wesen weiterleben wird, obwohl der Körper zurückbleiben wird. Ihre persönliche Spiritualität gab ihr nicht nur Kraft und Trost, sondern auch Glück und Freude trotz ihrer Erkrankung.

Sie zeigte eine intensive Verbundenheit gegenüber allen Lebewesen. Sie sagte, dass sie einfach keine Lebewesen essen könne, und verzichtete deshalb auf Fleisch. Sie erklärte: „Wir alle haben die gleiche Art von Zellen – wie kann ich dann jemanden essen, der mir so ähnlich ist?“

„Liebe ist das Größte im Leben.“

In einer Stunde fragte sie: „Kennen Sie das Lied All You Need Is Love von den Beatles?“ Ich antwortete: „Ja, natürlich.“ Sie sagte: „Das ist das beste Lied aller Zeiten, da die Botschaft die allerwichtigste ist. Liebe ist das Größte im Leben.“ Sie erzählte, dass sie später gerne eine weiße Hochzeit im Wald feiern würde und dass dazu All You Need Is Love spielen sollte. Wenn sie stirbt, wünscht sie sich ein weißes Begräbnis als Zeichen, dass etwas Neues beginnt. Wieder würde sie sich dabei das Lied All You Need Is Love wünschen. Es ist interessant, dass sie sowohl Hochzeit wie auch Beerdigung mit dem berühmten Lied der Beatles assoziiert, das aussagt, dass nichts wich­tiger ist als die Liebe.

In einer anderen Stunde sagte sie: „Ich weiß, dass ich eine Aufgabe und Vorsehung im Leben habe.“ Sie verriet mir, dass dies sei, andere Menschen glücklich zu machen und ihnen zu helfen. Deshalb versucht sie zum Beispiel, mit dem Busfahrer auf dem Weg zur Schule zu sprechen. Immerhin fährt er sie und die anderen Schülerinnen und Schüler jeden Tag vorsichtig und sicher dorthin. Er muss den ganzen Tag im Bus verbringen. Vielleicht hätte er gerne eine andere Arbeit gehabt. Vielleicht muss er den Bus fahren, da er keinen anderen Beruf gefunden hat. Wenn sie andere Menschen glücklich macht, fühlt sie sich auch glücklich. Zusätzlich kann sie sich nicht glücklich fühlen, wenn sie andere Menschen unglücklich macht. In einer anderen Stunde sagte Victoria: „Wenn jeder Mensch Liebe hätte, gäbe es keinen Grund für Kriege. Umfassende Liebe hindert einen daran, anderen zu schaden, aber auch sich selbst zu schaden.“

Harmlose Déjà-vu-Erfahrungen

Trotz ihrer Erkrankung sagte Victoria, dass sie eine sehr glückliche Person sei. Wenn sie unglücklich ist, denkt sie an all die Dinge, die wir haben und die viele andere Menschen auf der Welt nicht haben, wie genügend Nahrung und Ausbildung. Sie denkt auch an die vielen kleinen Dinge in ihrem Leben, für die sie dankbar ist, zum Beispiel wenn ihr älterer Bruder sie in seine Arme nimmt, um sie zu trösten, oder wenn ihre kleine Schwester sie fragt, ob sie mit ihr spielen will.

Mit zunehmendem Vertrauen konnte Victoria auch über ihre mystischen Erlebnisse sprechen. Sie hatte Déjà-vu-Erfahrungen, bei denen es so scheint, als ob man diese Situation schon einmal erlebt hätte. Bei Victoria waren diese schon sehr früh aufgetreten: „Als Kind wusste ich, dass ich die Situation schon einmal gesehen und erfahren hatte. Ich kam zum Beispiel gerade die Treppe herunter und wusste, dass ich schon mal hier gewesen war.“

Als Jugendliche wurden sie immer länger: „Manchmal weiß ich genau, was eine Person sagen wird, ich weiß genau, was anschließend folgen wird. Ich kann die Déjà-vus nicht geschehen oder ungeschehen machen. Es liegt nicht innerhalb meines Willens zu entscheiden, ob sie kommen werden oder nicht. Die Déjà-vu-Erfahrungen sind niemals bedrohlich und ich habe niemals Angst. Ich weiß, dass es mir gutgehen wird. Ich weiß auch, dass diese Situationen vorherbestimmt sind.“

Wundern und Staunen

Victoria war eine authentische, offene und weise Jugendliche, die differenziert über ihr tiefes Verständnis vom Leben berichten konnte. Was sie sagte, wirkte echt, nicht aufgesetzt oder angelesen. Sie klagte nicht über ihr eigenes Leid, in vielen Stunden spielten ihre Schmerzen gar keine Rolle, da sie in einem größeren, transpersonalen Zusammenhang sehen konnte, dass alle Menschen in ihrem Leben Schmerzen erfahren werden.

Während der Therapie fühlte ich mich beschenkt und bereichert. Eigentlich habe ich nicht sehr viel getan; ich habe versucht, ihr einen Rahmen und Raum zu bieten und ihr zurückzuspiegeln, dass ihre Erkenntnisse wirklich wertvoll sind und Bedeutung haben. Ich förderte ihre Offenheit und ihre Bereitschaft zur Veränderung. Ich habe versucht, sie so anzunehmen, wie sie war, und ihre Gedanken anzureichern. Natürlich haben wir auch über die Alltagsprobleme besprochen, die alle Jugendlichen betreffen. Spiritualität und Alltag sind nicht zu trennen, sondern gehen miteinander einher.

Victoria zeigte sämtliche wesentlichen Grundaspekte der Spiritualität: Wundern und Staunen (zum Beispiel über den Nachthimmel); Philosophieren (über Religion, Gerechtigkeit und Ethik); Weisheit (über die wirklichen Prioritäten im Leben); interpersonelle Spiritualität (ihre innige Verbindung mit anderen Lebewesen); mystische Erfahrungen (ihre Déjà-vu-Erlebnisse).

Mit Offenheit, Vertrauen und der Kenntnis der Vielfalt der Spiritualität kann die gemeinsame Exploration für beide Seiten eine entscheidende Erfahrung bedeuten.

Prof. Dr. Alexander von Gontard ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Kinder- und Jugendmedizin und psychotherapeutische Medizin und arbeitet an der Hochgebirgsklinik Davos, Schweiz. Er ist Autor der Bücher Spiritualität von Kindern und Jugendlichen und Buddhismus und kindliche Spiritualität.

* Persönliche Daten und alle Einzelheiten, die die Klientin erkennbar machen könnten, wurden verändert

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2024: Die Straße der guten Gewohnheiten