Eigentlich hatte ich schon vor Jahren entschieden, nicht mehr mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. Es kam aber alles ganz anders. Eine Institution in Wien, die geflüchtete Kinder betreut, bat mich um einen Therapieplatz für ein zehnjähriges Mädchen. Meine einzige Bedingung war: keine Infos vor dem Erstkontakt, ganz den kostbaren Eindrücken einer ersten Begegnung vertrauend.
Es klingelte und ein freundlich lächelndes Mädchen stand vor meiner Tür. Sie fragte, ob ich jetzt ihre Therapeutin sei, die anderen…
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lächelndes Mädchen stand vor meiner Tür. Sie fragte, ob ich jetzt ihre Therapeutin sei, die anderen Kinder in ihrer WG hätten schließlich auch eine. Ich versicherte ihr, dass ich ab jetzt ihre Therapeutin sei. Sie nahm mir gegenüber in einem für sie viel zu großen Sessel Platz, schlug die Beine übereinander und meinte, wir sollten jetzt beginnen!
Die schwer traumatisierte Mutter
Halima* wurde in der Grenzregion zweier im Krieg stehender Länder geboren. Ihre Eltern sind gläubige Muslime, trennten sich jedoch, als die Tochter zwei Jahre alt war; die Mutter bekam dann von einem anderen Mann drei weitere Kinder, sein Aufenthalt ist derzeit unbekannt. Halima, ihre Mutter und die drei Kleinen wechselten auf der Flucht mehrmals die Lager, gerieten immer wieder unter Beschuss, und nach drei Jahren des Herumirrens kamen sie in Österreich an und erlangten schließlich den Asylstatus. Irgendeine Behörde entschied, dass man Halima der Mutter vorläufig abnehmen solle, und so lebt die Zehnjährige seit zwei Jahren in einer betreuten WG. Der Kontakt zur schwer traumatisierten und immer noch nicht Deutsch sprechenden Mutter war zwischenzeitlich unterbrochen, ließ sich aber im letzten Jahr stabilisieren. Besuche inklusive Übernachtungen an den Wochenenden finden regelmäßig statt.
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Der leibliche Vater von Halima ist inzwischen auch in Österreich und hat eine eigene Familie, auch hier gelang es der WG, einen guten Kontakt zum leiblichen Vater zu vermitteln. Wenn Halima ein Wochenende bei ihm verbringt, fühlt sie sich im Mittelpunkt seiner neuen Familie stehend, während sie nach den Aufenthalten bei der Mutter und ihren Halbgeschwistern ambivalent ist. Einerseits gefällt es ihr dort, andererseits streitet sie viel mit der Mutter. Sie fühlt sich berufen, auf die Kleinen aufzupassen, um die Mutter zu entlasten. Dass diese von ihr regelmäßig verlangt, mit ihr zu beten, findet sie blöd. Dann werde eben gestritten.
Was Halima im Detail erlebt und erfahren hat, weiß man nicht. Sie redet nicht darüber. Sie ist eine sehr gute Schülerin und liebt sportliche Aktivitäten. Wenn Halima nach dem Wochenendbesuch bei der Mutter wieder in die WG kommt, klagt sie über starke Bauchschmerzen, manchmal auch nach der Schule.
In unserer ersten Sitzung zeigte ich Halima meine Musikinstrumente. Sie stehen im Behandlungsraum, das Klavier ist im Nebenzimmer. Sie liebt das Klavier von Beginn an und arbeitet daran sehr konsequent, ist wissbegierig und möchte in jeder Stunde auf dem Erlernten der Stunde zuvor aufbauen. Und so hat sich schnell ein Standard etabliert: Wir beginnen redend im Behandlungsraum und wechseln für die zweite Hälfte der Zeit zum Klavier.
Im unentwegten Augenkontakt
Beginn der elften Sitzung: Halima setzt sich in den großen Sessel und sagt, sie sei so traurig, ohne aber dabei entsprechende Gefühle zu zeigen. Dann spricht sie in Bildern, die aus ihrer Vergangenheit zu kommen scheinen. Ihre Sprache ist jetzt wirr, plötzlich ist ihr Deutsch sehr schlecht und ich habe Mühe, sie zu verstehen. Es scheint um eine Brücke zu gehen, die eingestürzt ist. Und immer wieder darum, dass alles kaputt ist, immer wieder diese Brücke. Dazwischen eine tröstende Oma, die aber verstorben sei.
Offensichtlich ist Halima in eine intrusive Erinnerung eingetaucht – sie erlebt Vergangenheitsepisoden, verliert die Fähigkeit zur deutschen Sprache, sie ist wie in einem anderen Bewusstseinszustand, einer anderen Zeit.
Ich höre schweigend zu. Dann hält sie inne: „Können wir jetzt zum Klavier gehen?“ Ich nicke nur und wir gehen ins Nebenzimmer. Sie setzt sich hin und improvisiert. Sie ist bemüht, einen Ton nach dem anderen zu spielen, wir hatten das einmal mit ihren fünf Fingern beidhändig geübt. Dabei schaut sie mich unentwegt an, ihr Gesicht so nah an meinem, dass sie abwechselnd von einem meiner Augen zum anderen schauen muss. Sie spielt weiter, zieht dabei die Unterlippe ein als wolle sie drauf beißen und schaut unentwegt in meine Augen. Irgendwann hört sie auf. Sie setzt sich wieder gerade hin. Ich sage weiterhin nichts, wissend, dass soeben etwas Wichtiges geschehen ist.
Nach einer Pause schlage ich eine neue Übung vor: Wir improvisieren gemeinsam am Klavier, nur auf den schwarzen Tasten. Ich habe ihr mal gesagt, das sei „chinesisch“, und ich weiß, dass sie das liebt. Sie spielt mit einer Hand und mit der anderen macht sie zum Spiel weiche fließende Bewegungen, so als wolle sie mich (oder sich?) dirigieren. Die Musik wirkt verträumt, warm, lieblich …, nun, man könnte alles Mögliche hineininterpretieren. Irgendwann steht Halima auf und fragt: „Bringst du mich wieder bis zur Kreuzung?“ Ich begleite sie bis zur Kreuzung und wir plaudern scheinbar Belangloses. Sie ärgert sich über die Baustelle vor meinem Haus und findet, das sei eine Zumutung! Gut, man kann sich auch über Baustellen ärgern.
„Das Chinesische“ in den Sitzungen
Zwölfte Sitzung: In dem Klavierraum hängt ein großer Spiegel. Nach dem Wechsel in diesen Raum spielt sie wieder mit mir „chinesisch“ und macht wieder diese Armbewegungen dazu. Ich frage sie, ob ich spielen dürfe und sie könne sich frei vor dem Spiegel bewegen, und ich versichere ihr, ich würde auch nicht hinschauen. Sie stimmt dem zu. Für ungefähr zehn Minuten tanzt sie zu meiner Musik und ich schaue tatsächlich nicht hin. Ich glaube zu spüren, dass ihre Bewegungen im Zusammenhang mit ihrer arabischen Herkunft stehen.
Seitdem hat Halima eine Möglichkeit gefunden, etwas aus ihrem Inneren, das ich und sie noch nicht kennen, einen Ausdruck zu verleihen. Die Arbeit am Klavier wird immer intensiver und „das Chinesische“ muss in jeder Sitzung vorkommen. Wir hatten jetzt die 20. Sitzung. Inzwischen will sie auch auf der Flöte spielen. Ihre Töne sind leise, und wollte man sie unbedingt interpretieren: Sie klingen wie ein leises Jammern.
Halima hat Schreckliches erlebt, daran besteht kein Zweifel. Auch wenn sie jetzt nicht darüber reden kann, findet sie doch einen adäquaten Weg im nonverbalen Ausdruck. Erlebnisse, die für das Kind nur verstörend und bedrohlich waren und (deshalb) nicht verarbeitet werden konnten, drängen ins Bewusstsein, suchen nach Ausdruck und Bewältigung. Der Organismus hält nach Wegen Ausschau, das Unsagbare zu integrieren. Zwischenmenschlicher Halt, Verbundenheit mit einem Sicherheit vermittelnden Menschen können die Basis dafür bilden; Musik, Tanz, oder andere Gestaltungs- und Ausdrucksräume können den Pfad hin zu einer Bewältigung bahnen – jenseits von Worten. Und ja, auch die Vorhersagbarkeit einer schlichten Tonleiter, zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt, kann Halt und Sicherheit geben.
Halima hat enorme Ressourcen – sie ist intelligent, wird gut betreut, ist strebsam und sie liebt es, Menschen zu beobachten. In unserer Therapie geht sie nur so weit, wie es für sie aushaltbar ist. Don’t push the river, it flows by itself ist das gestalttherapeutische Credo und es gehört (auch) zu meiner DNA. Noch kontrolliert sie mich in den Sitzungen, und das erlaube ich ihr. Sie wird einen Grund dafür haben!
* Persönliche Daten und alle Einzelheiten, die die Patientin erkennbar machen könnten, wurden verändert
Dr. Elena Fitzthum ist Musiktherapeutin, Psychotherapeutin und Supervisorin in freier Praxis. Von 1990 bis 2020 war sie Lektorin an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, seit 2000 ist sie Lehrmusiktherapeutin an der Zürcher Hochschule der Künste.
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