Wie im richtigen Film

Therapiestunde: Wie kann ein Kinofilm das Trauma eines Menschen nachfühlbar machen? Otto Teischel erzählt drei Fallgeschichten aus der Filmtherapie.

Die Illustration zeigt eine Frau, die hinter einem TV-Bildschirm steht und sich darin in der Filmrolle sieht
Ihr Kindheitstraum war es Balletttänzerin zu werden. Ein Film konnte den Wunsch aufs Neue erwecken. © Michel Streich für Psychologie Heute

Die Filmtherapie ist ursprünglich eine Form der Gruppentherapie. Inzwischen konnte ich sie in sehr vielen verschiedenen Settings im stationären und ambulanten Bereich anwenden – in offenen Großgruppen, in intimen Kleingruppen sowie im Einzelsetting – und habe sie dabei in ihren vielfältigen Wirkungsweisen untersucht. Drei eindrückliche Beispiele aus meiner Praxis zeigen, wie es zu nachhaltigen Lebensveränderungen kam, als Filme in die Therapie einbezogen wurden:

Frau A. (49) und der wiedergefundene Traum

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eränderungen kam, als Filme in die Therapie einbezogen wurden:

Frau A. (49) und der wiedergefundene Traum

Als in der Therapiegruppe beim Film Billy Elliot – I Will Dance (Stephen Dal­dry, 2000) Frau A.* plötzlich laut aufschluchzend den Raum verließ, wunderten wir uns alle, was der Grund dafür gewesen sein könnte bei dieser so hoffnungsvollen Geschichte über einen 11-jährigen Jungen aus der nordenglischen Arbeiterklasse, der eigentlich wie Vater und Bruder Bergmann und Boxer hätte werden sollen, doch mit Unterstützung einer engagierten Lehrerin schließlich die Ballettschule in London besucht.

In der Pause nach dem Film kam Frau A. zurück in den Raum und vertraute der Gruppe das Trauma ihres Lebens an. Es musste seit langem so tief in ihr vergraben bleiben, weil sie unbewusst Todesangst vor ihrer Erinnerung daran hatte. Als Jugendliche sei es ihr Lebenstraum gewesen, Balletttänzerin zu werden, weil sie dafür eine ganz besondere Begabung hatte, die in ihrer Kindheit auch eine Zeitlang von der Mutter unterstützt worden war. Doch als die Entscheidung ernst wurde und Frau A. ihrer Leidenschaft auch beruflich folgen wollte, verprügelte ihr gewalttätiger Vater sie auf Leben und Tod, damit sie sich „diesen Blödsinn“ endlich ein für alle Mal aus dem Kopf schlage. Dafür habe er nicht sein ganzes Leben lang so hart gearbeitet. Frau A. weinte und zitterte am ganzen Leib, als sie uns die schrecklichen Ereignisse anvertraute, die der Film so jäh bei ihr wieder wachgerufen hatte.

Danach hörte sie aufmerksam zu, was die anderen in der Gruppe sich über Billys Filmgeschichte erzählten und wie begeistert alle von deren gutem Ausgang waren, bis zu der ergreifenden Schlussszene des Films, als Billy seinen ersten großen Auftritt in London hat, unter den Augen seines stolzen Vaters.

Gegen Ende der Filmtherapie überlegte die Gruppe gemeinsam, bewegt vom dramatischen Schicksal ihrer Mitpatientin, welche Möglichkeiten es heute für Frau A. gäbe, sich wieder ihrer alten Leidenschaft für das Tanzen zuzuwenden. Vielleicht könnte sie bei einer Tanzschule mitarbeiten und versuchen, talentierte Kinder so zu bestärken wie Billys Lehrerin im Film? Oder sich selbst bei einem Tanzkurs anmelden, um die Kraft ihrer Träume leibhaftig wiederzubeleben? Frau A. war sichtlich gerührt vom aufrichtigen Mitgefühl der Gruppe und hatte am Ende des Filmnachmittags in der Klinik Freudentränen in den Augen.

Frau B. (26): Gewissheit jenseits der Scham

In einer anderen Gruppe geriet eine junge Patientin, Frau B.*, durch den Film Das Fest (Thomas Vinterberg, 1998), der das besonders heikle Thema sexueller Gewalt in der Familie auf erschütternd wahrhaftige Weise inszeniert, in einen inneren Ausnahmezustand, der sie gleich anschließend das Schwesternzimmer aufsuchen und um eine zusätzliche Medikation bitten ließ.

In ihrem Fall erwies sich der geschützte Rahmen einer Klinik und die Begegnung mit diesem Filmdrama als befreiendes Erlebnis zur richtigen Zeit: Sie kam nach der Gruppe zu mir in den Praxisraum der Klinik, denn es gab die Vereinbarung, dass bei emotionalen Krisen nach einem Filmerlebnis eine zusätzliche Therapiestunde möglich wäre. Dabei konnte mir die Patientin die jahrelang verdrängte Wahrheit über die sexuellen Übergriffe ihres Vaters anvertrauen, die tatsächlich immer wieder – wie in dem Film – im Badezimmer des Elternhauses stattgefunden hatten, als sie etwa dreizehn Jahre alt war und sich aus Angst nicht gegen den Vater zu wehren traute. Mit ihrer Mutter konnte sie nie darüber reden, weil die ihr ohnehin nicht geglaubt hätte und schon in der Kindheit dauernd eifersüchtig auf die Tochter war.

Frau B. hatte ihre zutiefst beschämenden Erlebnisse verdrängt und sie im Lauf der Zeit als „Einbildung“ abgetan. Doch durch diesen Film wusste die Patientin auf einmal wieder, was sich im Badezimmer ihrer Kindheit wirklich abgespielt hatte. Durch die Pro­tagonisten im Film wurde es Frau B. endlich möglich, Gewissheit über ihr eigenes Trauma zu bekommen, und sie konnte noch während ihres Aufenthaltes in der Klinik mit dessen gründlicher Aufarbeitung beginnen.

Frau C. (58): Endlich beginnt das eigene Leben

Frau C.* arbeitete seit vielen Jahren als leitende Beamtin bei der Stadtverwaltung und jetzt, da sie allein mit ihrem alten, schwerkranken Vater in der Familienvilla auf dem Land lebte, kam ihre chronische Depression immer mas­siver zum Vorschein. Wie sich herausstellte, war sie schon als Jugendliche zur schweren Alkoholikerin geworden und in den Augen ihrer Eltern zur „Rabentochter“, der ihre jüngere, brav angepasste Schwester vom Vater stets vorgezogen worden war. Der Vater hatte sich ohnehin einen Sohn gewünscht und war in der Kindheit von Frau C. meistens abwesend, ebenso wie die berufstätige depressive Mutter, die ihre Erstgeborene schon als Baby oft zu den Großeltern abgeschoben hatte, weil ihr selbst alles zu viel geworden war.

So verbrachte Frau C. schon als Mädchen die meiste Zeit in Cliquen und auf Partys, wurde früh alkoholabhängig und verlor sich zwischen sexuellen Eskapaden und lebensbedrohlichen Rück­fällen, bis ihr herrischer Vater, ein angesehener Polizeikommandant, der die Tochter für eine „Familienschande“ hielt, entschieden durchgriff und die junge Frau mit Gewalt in ein Leben zwang, das sie nie hatte führen wollen. Durch Beziehungen verschaffte er ihr eine Arbeitsstelle bei der Stadtverwaltung, die er sie im Anschluss an eine Langzeittherapie anzunehmen zwang.

All die Jahre hatte sie sich vergeblich bemüht, die Achtung ihres Vaters zu verdienen, und jetzt, da sie von ihm auch noch zur Pflegerin bestimmt worden war, brach ihre Wut auf ihn durch. Schon nach wenigen Sitzungen gab ich dieser zutiefst verbitterten und jahrelang emotional eingefrorenen Patientin zwei Filme mit, an die ich mich durch ihre Lebensgeschichte erinnert fühlte, und empfahl ihr, sie möglichst ganz in Ruhe für sich allein anzuschauen: Der Film 28 Tage (Betty Thomas, 2000) behandelt die Therapiezeit einer alkohol­kranken jungen Frau, die das schwarze Schaf in ihrer Familie war. In dem Film Familiensache (Carl Franklin, 1998) bemüht sich die Tochter vergeblich um die Anerkennung ihres selbstgerechten Vaters, bis die vermeintlich „heile Welt“ der Familie zusammenbricht.

In der nächsten Woche kam Frau C. wundersam gelöst in die Therapiestunde und fragte mich lächelnd, woher ich eigentlich ihre Lebensgeschichte so gut kennen würde. Sie habe mir doch noch kaum etwas über sich erzählt. Seit Jahren habe sie zum ersten Mal wieder weinen können, heftig und befreiend, bis zur Erschöpfung. Sie habe ihr ganzes Elend auf einmal wieder durchlebt und sich verstanden gefühlt wie noch nie. Von da an konnte sich Frau C. schrittweise von ihren Schuldgefühlen befreien. Sie organisierte für den Vater eine 24-Stunden-Pflege, beantragte die Frühpensionierung und begann mit einer berufsbegleitenden psychotherapeutischen Ausbildung. Sie kam sich in ihrem Leben nicht mehr „wie im falschen Film“ vor, sondern hatte endlich ihr eigenes Drehbuch zu schreiben begonnen.

* Persönliche Daten und alle Einzelheiten, die die Patientinnen erkennbar machen könnten, wurden verändert

Dr. Otto Teischel ist Psychotherapeut in Klagenfurt am Wörthersee in eigener ­Praxis. Viele Jahre leitete er eine film-therapeutische Gruppe in einer psycho-somatischen Klinik. Näheres: filmtherapie.org. Sein Buch Im Kino des Lebens. Wie ­Filmkunst uns daran erinnert, wer wir sein könnten erschien 2024 bei Büchner.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2025: Ziele loslassen