Die Blinden, die den Elefanten reiten

Über 500 Erfahrungsberichte von Meditierenden versammelt: In seinem Opus magnum liefert Thomas Metzinger Bewusstseinsforschung für Fortgeschrittene.

Der bekannte Bewusstseinsphilosoph Thomas Metzinger scheint die Coronapandemie produktiv genutzt zu haben: Nach Bewusstseinskultur erschien mit Der Elefant und die Blinden schon sein zweites Buch im Jahr 2023. Dabei greift das neue Werk im Epilog das Thema des älteren wieder auf. Doch fangen wir am Anfang an:

Im Buch ist der Elefant ein Symbol für das zentrale Thema, das „reine Bewusstsein“. Die Blinden sind die Erfahrungsberichte von 500 Menschen aus 57 Ländern, die Metzingers Online­fragebogen ausgefüllt haben. Daraus ergibt sich die Struktur des 960-seitigen Mammutwerks: Nach der Einleitung folgen 34 Kapitel, die Eigenschaften des reinen Bewusstseins behandeln. Das sind beispielsweise Stille, Klarheit, Leerheit, nonduales Sein oder das wahre Selbst.

Durch den Ego-Tunnel

Die Breite der Themen macht deutlich, dass es hier ans Eingemachte geht. Dazu kommt die Tiefe: Am Anfang jedes Kapitels präsentiert Metzinger zur Veranschaulichung einer Eigenschaft erst eine Auswahl von Erfahrungsberichten. Diese beruhen vor allem auf der Anwendung von Zen-, transzendentaler und Vipassanameditation.

Wie bei dieser Materie üblich, verwenden die Meditierenden Metaphern und Vergleiche. Die Eigenschaft der Ego-Auflösung wird etwa damit veranschaulicht, dass der Körper „verpixelt“ werde und sich in den Rest der Pixel (Bildpunkte) auflöse; dass man sich zersetze und in alle Richtungen ausbreite; oder dass man Boden, Gras, Bäume, Erde werde und Wind oder Würmer durch sich hindurch fühle. Metzinger kommentiert die Berichte ausführlich.

Im zweiten Teil jedes Kapitels setzt er sie in Bezug zu verschiedenen philosophischen Ansätzen. Dabei bedient sich der Autor nicht nur seiner eigenen Bewusstseinstheorie, sondern auch vieler Quellen der westlichen Philosophie, der indischen Denkschulen und sogar von mittelalterlichen Mystikern wie Meister Eckhart oder der Hadewijch von Brabant. Letztere sollen stärker auf Gerüche Bezug genommen haben. Vielleicht war dieser Sinn damals wichtiger als heute?

Metzinger hat zwar schon mit seinem Buch Der Ego-Tunnel bewiesen, dass er einen Bestseller für ein breites Publikum schreiben kann. Aufgrund der Materie seines neuen Werks kommt er aber nicht um die häufige Verwendung philosophischer Fachbegriffe herum. Dazu kommen viele, mitunter seitenlange Fußnoten sowie zahlreiche Zitate in Fremdsprachen.

Das reine Bewusstsein ausrechnen

Das wirft die Frage auf, um was für ein Buch es sich eigentlich handelt: Die Aufmachung mit dem Elefanten sowie der Untertitel „Auf dem Weg zu einer Kultur der Bewusstheit“ erwecken den Eindruck eines populärwissenschaftlichen Sachbuchs. Der komplexe Inhalt passt aber eher zu einem wissenschaftlichen Fachbuch. Am besten sieht man es als philosophisches Werk.

Der Autor hält für diejenigen, die bis Seite 827 durchhalten, eine Überraschung bereit: „Was Sie gerade gelesen haben, war eigentlich gar kein Buch. Sondern eher […] eine einleitende Diskussion zur Phänomenologie des reinen Bewusstseins. Ihr Zweck ist es, ein erweitertes Forschungsprogramm zu skizzieren.“ Und dieses müsse in Zukunft erst noch ausgeführt werden.

Folgt man Metzingers Sichtweise, dann ist ihm mit der ausführlichen Beschreibung dieses Zustands ein Coup gelungen, der die Bewusstseinsforschung revolutionieren wird. Von der (noch zu findenden) mathematisch-neurowissenschaftlichen Erklärung des reinen Bewusstseins aus soll die Wissenschaft später komplexere Erlebnisse beschreiben können. Dieses Versprechen ist allerdings spekulativ – und erinnert an die bisher eher bescheidenen Erfolge, mit neuropsychologischen Studien bestimmter Hirnschädigungen eine Bewusstseinstheorie zu entwickeln.

Friedliebende Seelenpflege

Apropos Psychologie: Diese fällt im Buch durch Abwesenheit auf. Das wird vor allem im Epilog deutlich, in dem endlich die im Untertitel versprochenen praktischen Folgen behandelt werden. Metzingers Bewusstseinskultur soll einer „Seelenpflege“ gleichkommen. Doch warum werden dann nicht etwa die Funde der positiven Psychologie behandelt? Nachdem der Philosoph nun schon rund 25 Jahre für ein Umdenken votiert, bleiben seine Fragen und Vorschläge vage. Er hofft schlichtweg, dass sich Menschen durch die Erfahrung des reinen Bewusstseins friedlicher und klimafreundlicher verhalten.

Viele der Berichte aus Metzingers Datenbank sind zweifellos schön. Sie sind aber eben auch das: sprachliche Vermittlungen von Erfahrungen, die nicht überprüfbar sind. Die Beispiele mit den Pixeln oder Gerüchen zeigen, wie sie kulturell geprägt sind. Wer nicht beruflich mit dem Thema zu tun hat, sollte schon viel eigene Meditationserfahrung mitbringen, um Metzingers Elefanten zu reiten. Denn in seiner Gänze ist das Buch Futter für Fortgeschrittene.

Thomas Metzinger: Der Elefant und die Blinden. Auf dem Weg zu einer Kultur der Bewusstheit. Berlin 2023, 960 S., € 48,–

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