Die ungelebte Seite

Therapiestunde: Ihre Nebenbeziehung mit einer Frau führt die verheiratete Patientin in einen Konflikt. Wie kann ihr die Psychotherapeutin helfen?

Die Illustration zeigt ein Paar im Bett, und während er schläft, hält sie die Hand einer Person, die unter dem Bett herausschaut
Zwischen Familienglück und ersehnter freier Liebe, fühlt sich die Klientin erdrückt. Wie soll sie sich da bloß entscheiden? © Michel Streich für Psychologie Heute

Ich habe eine Affäre, platzt Jenny heraus, kaum dass wir sitzen. Es ist unsere fünfte Sitzung. Jenny kam zu mir, weil sie seit Monaten kaum noch schläft und ständig angespannt ist. Sie ist Anfang vierzig, hat zwei Töchter und die Aufgaben des Familienalltags teilt sie sich mit ihrem Mann, so dass sie eine eigene berufliche Karriere hatte aufbauen können. In den Stunden zuvor erzählte sie mir von Familienurlauben, Freunden und dem Stress auf der Arbeit.

Mir war aufgefallen, dass sich in mir recht schnell eine…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

Freunden und dem Stress auf der Arbeit.

Mir war aufgefallen, dass sich in mir recht schnell eine Müdigkeit eingestellt hatte. Ich bekam keinen emotionalen Kontakt zu Jenny, und ihre Erzählungen blieben irgendwie belanglos. Diese Art der Gegenübertragung ist mir über die Jahre meiner psychotherapeutischen Arbeit vertraut geworden und inzwischen weiß ich, dass sie vor allem dann auftritt, wenn Patientinnen oder Patienten etwas Bedeutsames zu verheimlichen versuchen.

Ein stilles Erkennen

Dahinter liegen in der Regel enorm scham- oder schuldbehaftete Themen, und die Patientinnen und Patienten haben Angst, verurteilt zu werden. Und auch davor, dass das eigene Selbstbild beschädigt werden könnte. Manche Patienten und Patientinnen glauben zudem, dass Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten moralische Wächter seien.

Sie wollen mehr Geschichten aus der Therapiestunde als Buch lesen?

Das Buch „Wenn Sie wüssten, wie ich wirklich bin“ versammelt die 50 besten „Therapiestunde“-Kolumnen, die in den letzten Jahren erschienen sind.

Das Prinzip der technischen Neutralität – ein wesentlicher Aspekt der psychoanalytischen Grund­haltung – ist ihnen nicht vertraut. Als Analytikerin vertrete ich die Auffassung, dass alles Seelische eine Bedeutung hat. Deshalb interessiert mich der subjektive Sinn, die seelische Logik, die einer Dynamik zugrunde liegt. Um Fragen der (moralischen) Richtigkeit oder um gesellschaftliche Ansprüche und Normen geht es dabei kaum. Ich persönlich erlebe dies als entlastend. Ich muss nichts entscheiden oder bewerten und darf einfach neugierig auf den Menschen sein, der mir gegenüber sitzt beziehungsweise auf meiner Couch liegt.

Und auch Jenny wirkt froh darüber, endlich mit jemandem offen sprechen zu können. Bereits seit zwei Jahren gibt es diese Nebenbeziehung, und für Jenny ist sie inzwischen wichtiger Bestandteil ihres Lebens. Angefangen habe alles, als sie mit dem Segeln begonnen habe. Direkt am ersten Tag des Segelkurses sei ihr Isabell aufgefallen. Die Frauen freundeten sich schnell an, teilten sich ein Boot, lernten zusammen für die Prüfung. Jenny erzählt, wie nah und vertraut es sich mit Isabell anfühlt, wie ihr Augenkontakt sie auf einer tiefen Ebene berührt habe. „Wie ein stilles Erkennen“, sinniert Jenny. Was sie denn erkannt habe, frage ich nach. „Ich glaube, ich bin mir darin selbst begegnet. Einer Seite in mir, die so noch nie gelebt wurde“, antwortet Jenny nach einer Pause. Bis sie Isabell getroffen habe, habe sie gar nicht gewusst, was ihr fehlte.

"Warum reicht mir das bisherige nicht?"

Dabei sei ihre Ehe gar nicht schlecht, erzählt Jenny. Sie und ihr Mann seien ein eingespieltes Team, nähmen Rücksicht aufeinander und hätten Verständnis für die Freiräume des jeweils anderen. Als Eltern funktionierten sie prima, teilten sich die Aufgaben und unterstützten sich. Körperliche Intimität dagegen suchten beide nur selten. Auch tiefere Gespräche über sich als Paar gebe es fast nie, es habe sich alles so ins Familiäre verschoben, erklärt Jenny und fragt mich, ob ich sie undankbar oder ansprüchig fände, weil sie durch die Begegnung mit Isabell gemerkt habe, dass sie noch mehr vom Leben wolle.

„Warum reicht mir das Bisherige nicht? Was stimmt nicht mit mir?!“ Mit einem Sack voller Selbstvorwürfe beantwortet Jenny ihre eigenen Fragen, gefolgt von Schuldgefühlen und der Überzeugung, mit ihren Bedürfnissen und Sehnsüchten falsch, zu viel, unverantwortlich, gemein, schädigend und überhaupt gänzlich ein Monster zu sein. So sieht es also in Jennys Seele aus, und es verwundert mich nicht, dass sie kaum schlafen kann. Nachts ist nicht nur das körperliche Immunsystem herabgesetzt, sondern auch die seelische Abwehr. Deshalb überkommen uns gerade nachts so viele schwierige Gefühle und Gedanken. Wie bei Jenny.

Immer deutlicher wird ihre seelische Not. Erzählt Jenny in dem einen Moment begeistert von ihrer Beziehung zu Isabell, von der neuen Lebendigkeit, den neuen Erfahrungen und wie sehr diese ihr Leben bereicherten, verfällt sie im nächsten Moment in Selbstanklagen, spricht sich alles Gute als Partnerin und Mutter ab und ist überzeugt davon, Isabell nie mehr sehen zu dürfen und die Beziehung sofort beenden zu müssen.

So angenommen, wie sie wirklich ist

Ich möchte genauer verstehen, welche neuen Erfahrungen Jenny meint, und sie erzählt von der körperlichen Intimität mit Isabell, die sich sehr natürlich und frei anfühle. Sie habe die Sexualität zwar nie als wirklich problematisch erlebt, aber es habe doch ein paar Irritationen in den früheren Begegnungen mit Männern gegeben. Dies habe dazu geführt, dass sie im Laufe ihres jungen Erwachsenenlebens unsicher darüber geworden sei, ob sie mit ihren Bedürfnissen, Wünschen, Vorlieben normal sei.

Unglücklicherweise bestätigte ihr Mann dieses Selbstbild, indem auch ihm die erotischen Wünsche von Jenny zu anstrengend, zu viel seien und er darauf nicht eingehen könne. Ihr Mann, erklärt Jenny, könne sie diesbezüglich bis heute nicht verstehen, fühle sich unter Druck gesetzt und sei frustriert darüber, dass es seiner Frau nicht genüge, was er ihr sexuell bieten könne. Dabei nehme sie sich schon seit Jahren mit ihren Wünschen zurück. Mit der Zeit sei Jenny dadurch immer unglücklicher, ja fast depressiv geworden. Bis sie Isabell traf, war sie beinahe schon bereit gewesen, diesen Zustand zu akzeptieren und sich selbst die ganze Schuld für ihr tief verborgenes Unglück zu geben. Wie traurig, reflektiert Jenny nachdenklich.

„Aber jetzt, wo ich das alles erlebe, kann ich es einfach nicht mehr loslassen. Selbst wenn ich die Beziehung zu Isabell beenden würde, könnte ich nicht mehr in mein früheres Leben zurück. Ich habe mich verändert. Das ist schön, aber es macht mir auch Angst.“ Jenny ist innerlich zerrissen und es ist deutlich spürbar, wie sehr sie mit sich ringt.

Schließlich gelingt es Jenny, die eigene Situation differenzierter zu betrachten. Wir sprechen über die bisher ungelebte Seite in ihr, die mit der neuen Beziehung geweckt wurde. Mit Isabell erlebt Jenny das erste Mal in ihrem Leben, sich so angenommen zu fühlen, wie sie ist. Das wieder loszulassen wäre ein großer Verlust.

Die Erfüllung abtöten?

Und nun? Wie kann eine gute Lösung aussehen? Gibt es überhaupt eine? Im Moment wohl nicht. Jenny akzeptiert also vorerst, dass sie aktuell keine Entscheidung treffen kann, da sie beide Beziehungen leben möchte. Sie kann erst einmal aushalten, dass sie sich damit ihrem Mann gegenüber schuldig macht, wobei die Frage unbeantwortet bleibt, ob er nicht auf einer unausgesprochenen, intuitiven Ebene von der Nebenbeziehung weiß. Nie zeigt er Interesse an der Segelfreundin, fragt nie, was die beiden Frauen eigentlich verbindet. Offenbar gesteht er seiner Frau eigene Freiräume zu, fühlt sich vielleicht sogar entlastet oder nimmt sich eigene Freiräume, die durch das unausgesprochene Arrangement ebenfalls geschützt bleiben.

Im Moment ist jedenfalls psycho­therapeutisch nicht mehr zu erreichen. Jenny versteht ihren inneren Konflikt und kann die damit verbundenen Ambivalenzen aushalten. Sie schläft besser, ist innerlich ruhiger. „Das, was in mir zum Leben erweckt wurde, kann und will ich jetzt nicht wieder abtöten. So was Schönes passiert einem vielleicht nur ein einziges Mal im Leben!“ Sehnsüchte drängen eben auf Erfüllung, bestätigt sich für mich nicht zum ersten Mal.

Yasemin Soytas ist Diplompsychologin und Psychoanalytikerin mit eigener Praxis in Bonn. In ihrem Psychotherapieblog neuesvondercouch.de berichtet sie aus der Praxis und versucht, Fachliches verständlich zu erklären.

* Persönliche Daten und alle Einzelheiten, die die Klientin erkennbar machen könnten, wurden verändert

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2024: Im Erzählen finde ich mich selbst