Herr Quent, haben Sie die Umsturzpläne der Terrorzelle um Heinrich XIII. Prinz Reuß von Ende 2022 überrascht?
Nein, wir beobachten seit Jahren, dass auch hierzulande gewaltsame Umstürze vorbereitet werden. In den vergangenen Jahren liefen eine Reihe von Ermittlungsverfahren gegen verdeckte Terrorvorbereitungen. Überraschend ist, wie weit dieses Netzwerk schon fortgeschritten war hinsichtlich Geld- und Waffenbeschaffung.
Was hat diese neue Form des Terrorismus mit rechtsextremen Tendenzen noch mit dem NSU zu…
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schaffung.
Was hat diese neue Form des Terrorismus mit rechtsextremen Tendenzen noch mit dem NSU zu tun?
Das gemeinsame Element ist das Vorhaben eines Umsturzes mit dem Ziel einer autoritären, nichtdemokratischen und ethnisch homogenen Volksgemeinschaft. Aber es gibt große Unterschiede: Der NSU stammt aus der ostdeutschen Skinheadszene, von Jugend auf. Die neue Terrorzelle hat im Wesentlichen einen bürgerlichen Hintergrund. Die Altersstruktur ist ebenfalls anders – alle Verdächtigen sind über 40 Jahre alt.
Dennoch finden sich ähnliche politische Zielvorstellungen, wobei der NSU mehr auf der Bewegung des Neonationalsozialismus basiert. Die Bedeutung dieser neonationalsozialistischen Narrative nimmt jedoch ab. Es gibt neuere, diffusere, aber im Kern trotzdem antidemokratische rechtsautoritäre Erzählungen wie die Reichsbürgerbewegung oder die neue Rechte. Deren Einfluss nimmt zu und ist nicht weniger gefährlich.
Haben diese Bewegungen ein einheitliches Ziel?
Sie sehen Demokratie als etwas Unnatürliches an, etwas, das überwunden werden muss. Stattdessen sei eine Gesellschaft zu schaffen, die ethnisch homogen und autoritär strukturiert ist – also letztlich eine Form von Führergesellschaft, die „völkisch bereinigt“ ist. Manche wollen eine monarchische Struktur, was heute schon etwas spinnert wirkt, aber eine Spielart innerhalb des Rechtsextremismus ist.
Ist der NSU noch Vorbild für die Terrorgruppen der vergangenen zehn Jahre?
Es gibt Aspekte, die Parallelen zu späteren Anschlägen aufweisen, beispielsweise bei dem Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke. Da war es am offensichtlichsten, etwa von den Motiven sowie den Netzwerken des Täters her. Auch die Art des Verbrechens erinnert an den NSU – eine Erschießung aus nächster Nähe, die geplant wurde. Das heutige neonazistische Spektrum brüstet sich teilweise auch damit, dass es noch radikaler als der NSU sei. Sie nutzen Erfahrungen des NSU, zum Beispiel wie man sich vor Überwachung schützt und abschottet. Aber vor allem die Digitalisierung hat den Rechtsterrorismus verändert.
Ist das verbunden mit einer neuen Dynamik?
Ja. Es gibt heute ganz unterschiedliche Radikalisierungspfade, die genommen werden. Das macht es kompliziert und vielfältig.
In der organisierten militanten rechten Szene haben soziale Medien wesentlich dazu beigetragen, dass sich die extreme Rechte in Teilen vereinzelt radikalisiert hat. Wer sich allein vorbereitet, ist weniger repressionsanfällig. Insofern ist dieses sogenannte Reichsbürgerkomplott interessant, weil es so viele Menschen umfasst und offensichtlich so viele Personen davon wussten. Unter anderem deswegen wird dieses Komplott gescheitert sein, weil die Vorbereitung nicht konspirativ genug war.
Das NSU-Urteil jährt sich zum fünften Mal. Haben der Prozess und die folgende politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung neue Perspektiven gebracht auf die Ursprünge des NSU?
Ja, vor allem weil die Nebenklägerinnen und Nebenkläger so viel Wert auf die Aufarbeitung der politischen und sozialen Hintergründe gelegt haben – auch in Hinblick auf die 1990er. Aus dem Prozess kann viel gelernt werden. Zum Beispiel wie normal rechtsextreme Äußerungen damals waren oder wie da vor einem Hitlerbild mit der Nachbarschaft, die natürlich nicht in die rechte Ecke gestellt werden wollte, Bier getrunken wurde.
Aufschlussreich war auch die Aufarbeitung der Gewaltjahre, der sogenannten Baseballschlägerjahre in den 1990ern in Ostdeutschland, aber auch welche Bedeutung die Finanzierung der Szene durch den Verfassungsschutz hatte. Andererseits sind manche Hoffnungen der Angehörigen der Opfer nicht erfüllt worden. Das betrifft beispielsweise die Aufklärung darüber, inwiefern staatliche Institutionen in diese Verbrechen verstrickt waren.
Es heißt ja immer, das Versagen von Polizei und Behörden habe die Mordserie des NSU erst ermöglicht. Ist das aus heutiger Sicht auch Ihre Meinung?
Das ist sicher zutreffend, wobei „Versagen“ eine Defizitbeschreibung ist. Es gab an verschiedenen Stellen vielmehr ein aktives Zutun im Prozess der Radikalisierung. Also nicht nur eine Unterlassung in dem Sinne, dass die Behörden schlecht gearbeitet haben, sondern dass Personen in Behörden aktiv so gehandelt haben, dass sie diese Terrorakte begünstigt und ermöglicht haben.
Gleichzeitig warne ich davor zu sagen, dass es allein der im Dunklen operierende Verfassungsschutz war. Wir müssen uns vor Augen führen, dass weder die deutsche Zivilgesellschaft noch die Medien oder die Wissenschaft die Mordserie und ihre Muster erkannt haben. Vielmehr haben sich Institutionen an der Reproduktion von Rassismen beteiligt, wie etwa mit dem Begriff „Dönermorde“. Selbstverständlich haben Polizei und Verfassungsschutz die erste Verantwortung, Terror und Gewalt zu verhindern und unschuldige Menschen zu schützen. Aber es gibt auch ein gesellschaftliches und politisches Umfeld, das hier nicht mit der gleichen Schärfe hingeschaut hat wie damals zum Beispiel auf Islamismus.
Welche Voraussetzungen in der rechtsextremen Szene brauchte es, um die Radikalisierung mit Gewalt gegen andere zu ermöglichen?
Man braucht einen gesellschaftlich begünstigenden Diskurs, der Personengruppen als Außenstehende, als Bedrohung, als nicht geschützte und legitime Opfer erscheinen lässt – kurzum: eine rassistische Grundstimmung, die damals in Teilen der Gesellschaft vorhanden war und auch heute noch ist. Dann braucht es die Bewegung und Netzwerke, die entsprechende Lösungsmöglichkeiten bis zur Gewalt präferieren, verbreiten und dafür auch Anleitungen und Instrumente zur Verfügung stellen.
Es ist auch abhängig davon, ob eine funktionierende soziale und staatliche Kontrolle radikalisierter Akteure stattfindet: Rechtsextreme töten, wenn Staat und Gesellschaft dies zulassen. Das ist die logische Konsequenz dieser Ideologie der Entmenschlichung. Es braucht dann kleine Gruppen oder Einzelpersonen mit Zugang zu diesen ideologischen und operativen Ressourcen, die sich oft in besonderen persönlichen Konstellationen befinden, die Radikalisierung begünstigen: zum Beispiel weil sie meinen, nichts zu verlieren zu haben, oder bereits mit einem Bein im Gefängnis stehen und das Abtauchen in den Untergrund als attraktive Alternative wirkt. So war es beim NSU.
Inwiefern?
Am Anfang, lange vor dem Gang in den Untergrund, war die Zusammensetzung der Gruppe relevant: Mit Uwe Mundlos ist beispielsweise eine schon vor 1990 neonazistisch ideologisierte und radikalisierte Person mit Menschen zusammengekommen, die erst delinquent und kriminell waren und dann in der Gruppe ihre Delinquenz politisch aufgeladen haben. Die waren zwar am Ende nicht weniger rechtsextrem, haben aber eine andere Radikalisierungskarriere. Hier traf ein ideologischer Anführer mit gewaltaffinen Leuten zusammen, die im Rechtsextremismus eine Legitimation für Gewalt gefunden haben.
Und wie konnte das Ganze so eskalieren?
Der NSU hat sich radikalisiert, als nach den rassistischen Anschlägen in Rostock-Lichtenhagen und anderswo die Politik das Grundrecht auf Asyl faktisch abschaffte. Da hat die extreme Rechte gelernt: Mit einer radikalen Flanke kann man politische Unterschiede machen, sogar das Grundgesetz ändern. Damals gab es aber noch keinen flächendeckend parlamentarisierten Rechtsextremismus, wie wir ihn heute mit der AfD haben.
Heute ist das Motiv der extrem rechten Agitation stärker geprägt von dem Narrativ, dass der Staat in die Hände des Feindes gefallen sei. Dass er also von globalistischen jüdischen Eliten kontrolliert werde, die die Bevölkerung austauschen würden. Das ist heute eine zentrale Überzeugung, und das findet man auch in der Reichsbürgerbewegung. Nun richtet sich der rechtsextreme Terror häufiger direkt gegen den Staat und die herrschende Ordnung, als das im NSU-Kontext der Fall war, der sich vor allem marginalisierte Opfer gesucht hat. Walter Lübcke war der erste amtierende Politiker überhaupt, der seit 1945 von Neonazis ermordet wurde.
Haben wir irgendetwas aus dem NSU-Verfahren gelernt, das für die Bekämpfung des Rechtsextremismus nützlich sein könnte?
Ja, die Perspektive der Betroffenen ernst und wahrzunehmen. Das war das zentrale Manko bei den Ermittlungen zum NSU: dass die Behörden einem rechten Tatmotiv nicht nachgegangen sind, obwohl das die betroffene Community deutlich erkannt hatte. Das sollte man stärker in die Ermittlungen einfließen lassen. Immerhin: Das geschieht heute teilweise auch.
Was haben wir noch gelernt?
Ein weiterer Aspekt sind die komplizierten Interaktionsmechanismen zwischen den radikalisierten Bewegungen und dem Staat. Repression, Verbote und eine strafrechtliche Verfolgung bedeuten nicht, dass die Gefahr kleiner wird. Verbote führen nicht automatisch dazu, dass die Strukturen verschwinden oder dass sie weniger gefährlich werden, sondern es kann sogar gegenteilige Effekte geben, die eine Radikalisierung begünstigen. Das sollte man bei den dringenden Fragen von Prävention und Bekämpfung von Rechtsextremismus bedenken. Es ist grundsätzlich besser, die Entstehung von demokratie- und menschenfeindlichen Überzeugungen und Strukturen zu verhindern, als dann einen Umgang damit finden zu müssen.
Sie schreiben, für die künftige wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Auseinandersetzung sei es unerlässlich, die auf gesellschaftliche Veränderungen und staatliche Handlungen folgenden Gruppenprozesse und Reaktionen innerhalb der Bewegung aufmerksam zu beobachten und gründlich zu analysieren. Was bedeutet das?
Das heißt zum Beispiel, zu beleuchten, was aktuelle Einflüsse auf diese Erscheinungen sind. In der Ära Trump waren es noch in großem Ausmaß Einflüsse durch QAnon aus den USA, jetzt sind es mehr russische und russlandbezogene Einflüsse. Das führt dazu, dass die rechtsextreme Szene diffuser, weniger greifbar erscheint und sich zu einem Teil mit anderen oppositionellen Spektren durchmischt. Themenbesetzung, Mobilisierung und Organisation der Rechtsextremen wandeln sich ständig.
Ein Beispiel dazu: Die vor allem in Ostdeutschland von den äußersten Rechten angeführten Proteste im Kontext der Energiekrise sind zahlenmäßig zwar weniger geworden, das heißt aber nicht, dass die Leute jetzt mit der Politik zufrieden sind, sondern dass sich viel von den öffentlichen Protesten in den digitalen Raum verlagert hat. Wenn man die Radikalisierungsprozesse verstehen will, muss man solche Verschiebungen im Blick behalten.
Wie bewerten Sie, dass die rechte bis rechtsextreme Szene gerade in der Pandemie verstärkt auf Verschwörungstheorien zurückgegriffen hat?
Mit diesen Theorien lässt sich in den sozialen Medien durch emotionalisierte Botschaften hervorragend operieren. Sie können helfen, Ohnmachtserfahrungen zu überstehen. Aber vor allem funktionieren Verschwörungstheorien als Allegorie, in der weniger der Inhalt relevant ist als die Stimmungen und Strukturen, die darin symbolisiert werden. Globale Machtbeziehungen, denen man sich ausgeliefert fühlen kann, sind kompliziert.
Viel einfacher ist es zu behaupten: Da zieht eine kleine Gruppe mächtiger Leute die Fäden, um euch zu schaden. So hat der Antisemitismus der Nazis funktioniert, und so funktioniert er auch heute noch. Dabei werden Anleihen bei der Popkultur, bei Filmen wie Matrix sowie bei realen Machtzentren gemacht. Auch der NSU hat damals eine Reihe symbolischer Bezüge zur Populärkultur hergestellt, zum Beispiel zu Pink Panther oder den Simpsons.
In Verschwörungstheorien sehen wir so etwas Ähnliches: Da stoßen Sie auf Versatzstücke von George Orwells Dystopie 1984 oder Erzählungen, die an James Bond erinnern. Das ist ansprechend und wohl auch spannender als die Realität. Wir finden oft metaphorische Beschreibungen von vermeintlichen oder tatsächlichen gesellschaftlichen Problemen, die häufig antisemitisch und antidemokratisch interpretiert werden.
Bei der früheren Subkultur der Neonazis gab es eine starke Homogenität, die auf gleichen Erfahrungen beruhte. Man hatte einen zentralen historischen Bezugspunkt, man hatte eine Musikrichtung. Man hatte ähnliche Erfahrungen in der Welt der Arbeit, aus der man ausgeschlossen wurde, zumindest in Ostdeutschland. Heute ist das rechtsextreme Potenzial kulturell und soziologisch diffuser.
Wo steht die bundesrepublikanische Gesellschaft in ihrem Verhältnis zum Rechtsextremismus derzeit?
Es ist ein Paradox, das wir jetzt sensibler sind und wir mehr mitbekommen, etwa weil besser hingeschaut wird und durch neue Techniken auch mehr Kommunikation dokumentiert ist. Damit wird es für andere sichtbar und man muss sich damit auseinandersetzen. Es gibt mehr Expertise, mehr Professionalität und eine offenere Auseinandersetzung mit diesen Gefährdungen.
Aber…
…andererseits sehen wir eine Zuspitzung der Gefahr, die sich ganz besonders durch den Rechtsextremismus in Parlamenten in Form der AfD zeigt, die Zugang zu Institutionen, Daten und Wissensbeständen hat. Dies führt zu einer Normalisierung und Gewöhnung. Zudem trägt die Digitalisierung dazu bei, dass sich die rechtsextremen Spektren weiter ausdifferenzieren, und auch dazu, dass sie sich durch internationale Einflüsse anpassen und von ihnen lernen. Die Folge: Trends können sich schnell verändern.
Was bleibt dann als Conclusio für die Prävention?
Wir müssen verstehen, dass Rechtsextremismus die größte Herausforderung ist und auch bleiben wird, weil er sich immer wieder anpasst, Kraft aus den Reibungsverlusten sozialen Wandels zieht und sich aus den inneren Widersprüchen der Gesellschaft speist. Deshalb brauchen wir stabile Strukturen mit stabiler Finanzierung in der Forschung, in der Prävention, in der politischen Bildung und auch in Demokratieprojekten. Wir benötigen Profis, die die aktuellen Trends, Chiffren und die Codes der Szene kennen und die Zeichen deuten sowie die Muster erklären können. Und wir müssen an den sozialen Ursachen ansetzen.
Matthias Quent ist Professor für Soziologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte ist die Demokratie- und Rechtsextremismusforschung. Er war Sachverständiger im Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags zum NSU.
Zum Weiterlesen
Matthias Quent: Rassismus, Radikalisierung, Rechtsterrorismus. Wie der NSU entstand und was er über die Gesellschaft verrät. Beltz Juventa 2022 (3., überarbeitete und erweiterte Auflage)