Das Ende der Geschichte ist bekannt: Ein bis zwei Millionen Menschen sind allein in Deutschland von den einstigen Wundermitteln abhängig – oft ältere Frauen, die ansonsten einen weiten Bogen um alle Suchtstoffe machen. Dabei war Valium nach seinem Verkaufsstart im Sommer 1963 jahrelang eines der meistverschriebenen Mittel der Welt, möglicherweise das meistverschriebene.
Doch der ruinierte Ruf ist nicht die ganze Geschichte. Noch immer steht Valium auf der Liste der essenziellen Medikamente der…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
der Liste der essenziellen Medikamente der Weltgesundheitsorganisation – als Stellvertreter für die Gruppe der Benzodiazepine, zu denen es gehört. Wer in einer akuten Krise in die Psychiatrie eingeliefert wird, bekommt zur schnellen Beruhigung immer noch ein Benzodiazepin. Die Stoffe entspannen Kranke vor Operationen, mildern epileptische Anfälle und befreien Patienten von schweren Ängsten. Ihre Vielseitigkeit hat die Benzodiazepine allgegenwärtig gemacht. Und sie hat dazu verführt, sie häufig auch dann einzusetzen, wenn sie weit mehr schaden als nutzen.
Mit Valium gegen die Angst
Valium bedeutete den chemischen Sieg über die Angst. Oft ist er von kurzer Dauer und teuer erkauft, doch viele sind dankbar, wenn sie auch nur einige Schlachten gegen diesen lähmenden Feind gewinnen. „Die Benzodiazepine haben die Behandlung der Angst und verwandter Krankheiten revolutioniert“, jubeln die Autoren eines Buchs, das der Pharmakonzern Hoffmann-La Roche 2004 herausgegeben hat. „Sie brachten und bringen schnelle Erleichterung von den Symptomen vieler lähmender und behindernder Zustände.“ Die Begeisterung des Herstellers ist verständlich. Dank der Angstlöser wurde er vorübergehend zum lukrativsten Pharmaunternehmen der Welt. Zeitweise hatte Roche allein in seiner US-Fabrik drei riesige Produktionsmaschinen am Laufen. Pro Stunde konnten sie zwei Millionen Valiumtabletten ausspucken.
Die Benzodiazepine eroberten die Welt so gründlich, dass sie heute sogar in Flüssen zu finden sind – in wirksamen Konzentrationen. Schwedische Wissenschaftler um Tomas Brodin hielten Flussbarsche eine Woche in entsprechend mit einem Benzodiazepin versetzten Wasser. Flussbarsche verstecken sich normalerweise am liebsten, doch nun verloren sie ihre Scheu. „Sie begrüßten mich draußen, es waren völlig andere Fische“, berichtete Brodin der New York Times im Februar.
Der gewaltige Erfolg der Benzodiazepine ist umso erstaunlicher, als sie nicht die erste chemische Waffe gegen die Angst waren. Seit alters her versuchen Menschen, dieses lähmende Gefühl mit Alkohol zu ertränken oder mit Opium auszuräuchern. Anfang des 20. Jahrhunderts kam die erste Gruppe von Arzneimitteln heraus, mit denen Leidende ihre Ängste in großem Stil betäubten: die Barbiturate. Richtig populär wurden sie nach dem Zweiten Weltkrieg, in den Jahren, die Arthur Schlesinger Jr. ein „Zeitalter der Angst“ nannte. Der Historiker machte dafür die Umwälzungen in der Gesellschaft verantwortlich: Ehen zerbrachen, Familien fielen auseinander. Neue Technik veränderte das Leben rasant, immer mehr Menschen arbeiteten in anonymen Großbetrieben.
Die vergessene Geschichte der Lifestyledrogen
In Jacqueline Susanns autobiografisch inspiriertem Bestseller Das Tal der Puppen nehmen zwei Schauspielerinnen und ein Fotomodell Barbiturate, die sie „Puppen“ nennen. So wollen sie mit ihren turbulenten Karrieren und ihren unsicheren Beziehungen zurechtkommen. „Für mich ist eine Welt eingestürzt“, klagt eine, als sie vom Ehebruch ihres Manns erfährt, „ich glaube, ich nehme heute Abend mein erstes Püppchen.“ Im Badezimmer schluckt sie eine der roten Kapseln. Sie wirkt beeindruckend. „Nach zehn Minuten verschwamm der Druck vor ihren Augen. Es war fantastisch … ihr Kopf wurde leicht … die Augen fielen zu … Was für eine Wohltat.“
Doch Barbiturate machen abhängig, und schon wenn sie etwas zu hoch dosiert werden, können sie den Tod bedeuten. Trotzdem wurden sie auch in der Psychiatrie routinemäßig eingesetzt, es gab nichts anderes. „Wir haben Barbiturate jedem gegeben, der geschrien hat, jedem der stumm war oder regungslos“, erinnerte sich der US-Psychiater Max Fink später. Regelmäßig starben Patienten, weil die Ärzte sich mit der Dosis verschätzten. „Man sagte na ja und füllte eine Unfallmeldung aus.“ Als die Benzodiazepine kamen, begrüßten die Mediziner sie als Segen. Die neuen Tabletten hatten ungleich weniger Nebenwirkungen, und vor allem starb niemand versehentlich an ihnen.
250.000 Tabletten in einem Winter verkauft
Die Benzodiazepine verdrängten aber noch eine andere Gruppe von Medikamenten, und zwar gründlich. So ist heute fast vergessen, dass vor den Benzodiazepinen Mittel zu Kassenschlagern wurden, die sehr ähnlich wirkten. Das bekannteste von ihnen hieß Miltown – nach einem Dorf, das sein Erfinder von seinem Bürofenster aus sehen konnte.
Als eine bis dahin vor allem für ihr Abführmittel bekannte Firma Miltown 1955 herausbrachte, wurde es sofort zum Sensationserfolg. Besonders reißend war der Absatz in Hollywood. Eine von vielen Stars frequentierte Apotheke am Sunset Boulevard verkaufte schon im ersten Winter sagenhafte 250.000 der kleinen weißen Tabletten. Sie wäre noch viel mehr losgeworden, doch der Nachschub stockte immer wieder. Als einmal eine neue Ladung in Los Angeles eintraf, verkündete eine Anzeige: „Achtung Ärzte, gerade mit dem Flugzeug angekommen, eine neue Lieferung Miltown.“
Bei einer riesigen Filmparty gab es nicht nur einen Champagnerbrunnen, sondern auch einen Doktor, der mit einem prall gefüllten Sack herumging. Daraus bot er neben Barbituraten und Aufputschmitteln auch Miltown an. Die Gäste griffen vor allem danach. „Miltown wurde selbst ein Star“, schreibt die Medizinhistorikerin Andrea Tone von der kanadischen McGill University, „man musste es probiert haben.“ Das „Aspirin fürs Gefühl“ wurde zur frühen Lifestyledroge. Tiffany bot erfolgreich mit Rubinen und Diamanten geschmückte Pillendosen an – für alle, „die ihr neu gefundenes Glück glorifizieren wollen“. Dazu passten neu kreierte Drinks, etwa der Miltini: Martini mit einer Miltownpille statt einer Olive.
Librium – das erste Benzodiazepin
Das Abhängigkeitspotenzial von Miltown war umstritten. 1966 leitete die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA eine Untersuchung ein. Da hatte sich die Frage allerdings schon weitgehend erledigt. Denn nun beherrschten die Benzodiazepine das Feld.
Erfunden hatte sie der Chemiker Leo Sternbach. Mitte der 1950er Jahre erhielt er den Auftrag, mit seinem Team in der Roche-Niederlassung in New Jersey ein verbessertes Beruhigungsmittel zu schaffen. Seine Vorgesetzten legten ihm nahe, einfach die Struktur von Miltown ein bisschen zu verändern. Sternbach aber wollte ein ganz neues Medikament. Seine Ausgangssubstanz wählte er ziemlich willkürlich. Er bastelte an Molekülen herum, aus denen er früher erfolglos versucht hatte, Farbstoffe herzustellen. Doch auch als Beruhigungsmittel schienen seine Kreationen nicht zu taugen. Das Team kapitulierte und gab nur der Vollständigkeit halber eine noch ungetestet herumstehende Substanz ins Tierlabor. Sie wirkte besser und stärker als Miltown. Es war das erste Benzodiazepin. Später wurde es Librium getauft.
Auch bei Menschen zeigte es dramatische Effekte. Als besonders eindrucksvoller Härtetest galt ein Experiment mit texanischen Strafgefangenen – solche Versuche riefen damals noch keine Ethikkommission auf den Plan. Unter ihnen waren auch Gewalttäter mit psychopathischer Persönlichkeit. Was die beruhigt, beruhigt jeden, dachten sich die Verantwortlichen – und das tat Librium. Sehr überzeugend fanden viele auch einen erfolgreichen Versuch mit Raubkatzen im Zoo von San Diego. „Das Medikament, das Tiger zähmt – was wird es für nervöse Frauen tun?“, fragte eine Zeitungsschlagzeile.
Eine Menge – wie sich zeigte, als Roche Librium 1960 herausbrachte. In kleinen Dosen sollte es gegen mittelschwere Ängste helfen, gegen Kopfschmerzen, Menstruationsbeschwerden und eine Fülle psychischer Begleiterscheinungen von Krankheiten. Höhere Dosen halfen angeblich gegen schwere Ängste, chronischen Alkoholismus, Neurosen und Zwangsstörungen. Tatsächlich verringerte Librium bei Millionen von Menschen das Leiden an solchen Problemen. Wirklich gelöst wurden sie in den meisten Fällen freilich nicht.
Als Librium auf den Markt kam, hatte Sternbach in seinem Labor schon das Benzodiazepin fertig, das seinem Vorläufer nach und nach den Rang ablaufen würde: Valium. Es löst Ängste stärker, ohne gleichzeitig müder zu machen.
Eine Pille für unklare Beschwerden – von Hausärzten verschrieben
Das Zeitalter der Angst wurde nun zum Zeitalter der Benzodiazepine. Dafür sorgten massive Kampagnen. Allein der Werbeaufwand von Roche für ein einziges Jahr wurde auf 400 Millionen Dollar geschätzt. Anzeigen in Fachblättern klärten die Ärzte auf, wofür Valium noch alles gut sein sollte. Da wurde eine Frau vorgestellt, die mit 35 immer noch keinen Mann gefunden hatte, der dem Vergleich mit ihrem Vater standgehalten hätte. Deshalb wurde sie „psychoneurotisch“. Valium schuf Abhilfe. Eine andere porträtierte Frau hatte sich in den Wechseljahren in eine „unberechenbare Nörglerin“ verwandelt. Vier Valium am Tag lösten das Problem binnen einer Woche, versicherte Roche den Ärzten.
Frauen schluckten den Großteil der Tabletten, doch Roche empfahl sie auch für Männer. Dabei gab sich der Konzern zeitkritisch. 1968 beklagte eine Broschüre für Ärzte die „unausgesprochene Verpflichtung, dem gesellschaftlichen Konzept der idealen Männlichkeit zu entsprechen“. Ehe, Vaterschaft und Karriere bedeuteten Stress, und der verlangte nach Beruhigungsmitteln.
So wurden Benzodiazepine keineswegs nur Patienten mit eindeutig diagnostizierten Ängsten verschrieben. Hauptkonsumenten wurden Menschen mit unklaren Beschwerden, etwa einer Mischung von ängstlichen und depressiven Symptomen. Das Gros der Tabletten wurde von Hausärzten verschrieben. Was die Patienten genau hatten, konnten sie nicht diagnostizieren. Wozu auch, die Mittel dämpften Klagen aller Art. So wurden sie zum Symbol der unpersönlichen Fünfminutenmedizin.
Der Siegeszug der Benzodiazepine war nicht aufzuhalten. Sie gingen in die Alltagskultur ein. Musiker nannten sich DJ Valium oder Valium Purple Souls. Eine Band spielte Valium Jazz, ein Komponist schrieb ein Ballett namens Valium. In vielen Romanen nehmen die Helden Benzodiazepine, oft ganz beiläufig. Der radikale Tierschützer in Wenn das Schlachten vorbei ist von T. C. Boyle schluckt Xanax gegen seine Wutanfälle. Der mordende Antiheld aus American Psycho konsumiert es auch, genau wie zwei Jahrzehnte lang sein Schöpfer Bret Easton Ellis.
Die frustrierte Erzählerin in Brigitte Schwaigers autobiografischem Bestseller Wie kommt das Salz ins Meer aus dem Jahr 1977 erträgt ihre öde Ehe mit Valium, und sie ist nicht die Einzige im Ort: „Die Frau des Verschönerungsvereinsobmanns ist auch valiumsüchtig, heißt es. Wenn sie besonders freundlich grüßt, steht sie gerade unter Höchstwirkung.“
Die Gefahren der Benzodiazepine wurden lange heruntergespielt. Dabei gab es frühe Alarmmeldungen. Kurz bevor mit Librium das erste Benzodiazepin eingeführt wurde, lud Roche den Medizinprofessor Leo Hollister von der Universität Stanford ein. Um das Suchtpotenzial zu überprüfen, gab er Patienten sehr hohe Dosen und setzte das Medikament dann abrupt ab. Etliche konnten nicht mehr einschlafen, waren aufgeregt, verloren den Appetit oder litten unter Übelkeit. Zwei erlitten sogar Krampfanfälle.
Schnell stellte sich heraus, dass auch der Entzug von weniger extremen Mengen zu Entzugserscheinungen führen kann. Schon nach vier bis sechs Wochen kommt etwa jeder vierte Patient nicht mehr leicht davon los. Die Risiken der Stoffe wurden nur allmählich öffentlich. Selbst in der Roten Liste, der Medikamentenbibel der Ärzte, wurde die Suchtgefahr erst 1984 erwähnt, also nach fast einem Vierteljahrhundert.
Karriere eines Medikaments: Heute ein „riskantes Schlafmittel“
Viele Behandlungsleitlinien empfehlen, Benzodiazepine höchstens vier bis maximal acht Wochen zu geben. Doch etwa jeder dritte Patient erhält sie länger. Die Mittel dürfen dann nur ganz langsam wieder abgesetzt werden. Viele ältere Patienten wollen auf ihre gewohnten Friedensbringer aber nicht mehr verzichten, etliche können es auch nicht. Ihnen drohen Nebenwirkungen: Das Denkvermögen kann auf Dauer so leiden, dass ein Verdacht auf Demenz aufkommt. Auch die Bewegungskoordination kann gestört werden, sodass es gerade bei Älteren zu gefährlichen Stürzen kommt.
Weil die Benzodiazepine in Verruf gerieten, brachten Pharmafirmen Ende der 1980er Jahre Schlafmittel auf den Markt, die sie stolz als „Nichtbenzodiazepine“ bewarben. Da ihre Namen alle mit „Z“ beginnen, werden sie Z-Substanzen genannt. Doch diese Wirkstoffe setzen im Gehirn an der gleichen Stelle an wie die Benzodiazepine. Anders als versprochen, können sie daher auch abhängig machen. Sie werden ebenfalls oft viel zu lange verordnet.
Damit der Missbrauch beider Arten von Schlafmitteln nicht auffällt, sind viele Ärzte auf einen einfachen Ausweg verfallen: Sie verordnen die Medikamente auch Kassenpatienten auf Privatrezept. In den Kassenstatistiken hat sich der Absatz der riskanten Schlafmittel darum während der vergangenen Jahre halbiert. Doch in Wirklichkeit ist er etwa gleich geblieben.
Als Tranquilizer werden die Benzodiazepine dagegen tatsächlich immer weniger verschrieben. Im Jahr 2010 wurden in Deutschland knapp 9,9 Millionen Packungen verkauft, womit die einstigen Wunderstoffe binnen eines Jahres fünf Prozent ihres Absatzes eingebüßt hatten. Doch sie sind immer noch die führenden Tranquilizer, wirkliche Nachfolger gibt es bis heute nicht. Zwar weichen die Ärzte oft auf Antidepressiva aus, doch die wirken nur langsam, wenn überhaupt. Psychotherapie hilft bei Ängsten gut, aber auch nicht von heute auf morgen, und längst nicht alle Patienten erhalten sie.
Manche Wissenschaftler hoffen daher auf einen Stoff, der wie ein Benzodiazepin wirkt, aber nicht abhängig macht. Für andere ist diese Hoffnung jedoch ein Widerspruch in sich: Denn was die Angst nimmt, wird als so befreiend empfunden, dass automatisch der Drang nach der nächsten Tablette entsteht.
Quellen
Gerd Glaeske: Medikamentenabhängigkeit: Die verheimlichte Sucht. PiD – Psychotherapie im Dialog, 13, 2012, 39–43
Rüdiger Holzbach: Benzodiazepin-Langzeitgebrauch und -abhängigkeit. Fortschritte der Neurologie – Psychiatrie, 78, 2010, 425–434
Andrea Tone: The age of anxiety: A history of America’s turbulent affair with tranquilizers. Basic Books, New York 2009
Alex Baenninger u. a.: Good chemistry. The life and legacy of valium inventor Leo Sternbach. Hoffmann- La Roche, McGraw-Hill, New York 2004
Edward Shorter: Before Prozac: The troubled history of mood disorders in psychiatry. Oxford University Press, Oxford 2009