Migräne: Im Tumult der Sinne

Jede zehnte Person leidet an Migräne. Psychologische Therapien zielen auf Entspannung – und ein behutsames Herantasten an die Auslöser.

Die Illustration zeigt eine Person, die mit beiden Händen ihren vor Schmerz zerbrechenden Kopf hält
Alle Sinne stehen Kopf und dann ist da dieser dröhnende Schmerz. Akzeptanz und Entspannung hilft Migränepatienten. © Joni Majer für Psychologie Heute

Vor dem Urlaub noch letzte Termine abarbeiten, Schreibtisch aufräumen, Koffer packen, morgens um vier Uhr aufstehen, ohne Frühstück aus dem Haus hetzen: Anke Schneider steht mit ihrem Mann am Check-in im Berliner Flughafen und merkt auf einmal, wie ihr Gesichtsfeld enger wird. Als wenn sie Scheuklappen aufhätte, die immer weiter zugehen. Ihr Kiefer verkrampft sich, ihre Hände und Finger. Sie muss ständig auf die Toilette gehen. Übelkeit setzt ein. Und erst dann kommen die Kopfschmerzen – pochend, auf der…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

auf die Toilette gehen. Übelkeit setzt ein. Und erst dann kommen die Kopfschmerzen – pochend, auf der rechten Seite – und werden immer stärker. Die Migräne ist da.

Sie nimmt früh genug ein Schmerzmittel, hochdosiert, und ein Medikament gegen die Übelkeit. Aber Anke Schneider weiß: Sie wird trotzdem die ersten drei Urlaubstage auf La Palma krank im Bett liegen. Ein halbes Jahr ist dieser Anfall her, seitdem hatte sie keine erneute Migräneattacke mehr. In ihren schlimmsten Zeiten erlitt die 51-Jährige solche Attacken zweimal in der Woche. „Da blieb nicht viel Lebensqualität übrig“, berichtet Schneider, die in Berlin für eine Unternehmensberatung die Geschäftsreisen organisiert. Sie ging trotzdem immer zur Arbeit, wollte funktionieren. Ihre Hausärztin ermahnte sie: „Sie müssen Ihr Leben ändern!“ „Das hat sie mir 20 Jahre lang immer wieder gesagt. Aber ich wusste einfach nicht, wie das gehen sollte.“

Hohe Reizempfindlichkeit des Gehirns

Migräne ist weit mehr als ein gewöhnlicher Kopfschmerz. Migräne ist eine komplexe neurologische Erkrankung. Heftige einseitige Kopfschmerzen quälen die Betroffenen, Übelkeit und Erbrechen, Licht- und Geräuschempfindlichkeit kommen hinzu. Auch Gerüche werden oft als unerträglich empfunden. Manche Menschen, so auch Anke Schneider, erleben vor der eigentlichen Schmerzattacke eine Aura. Eine Aura bezeichnet neurologische Ausfälle, die sich vor den Kopfschmerzen langsam entwickeln und sich nach einer oder mehreren Stunden wieder zurückbilden. Das sind Sprach- oder Sehstörungen oder Missempfindungen im Körper, von Kribbeln über Krämpfe bis hin zu Lähmungen. „Ich fühle mich wie unter einem tonnenschweren Stein begraben“, so schildert es eine Betroffene, die während einer Attacke ihre Gliedmaßen nicht bewegen kann.

Die Anfälle können durch eine Reihe von Triggern ausgelöst werden: Stress, eine ausgelassene Mahlzeit, körperliche Aktivität, Schlafstörungen, hormonelle Schwankungen wie etwa bei der Menstruation, Wetterwechsel, Alkohol, grelles Licht, emotionale Belastungen – oder einfach zu viele Reize.

„Ursache für die Migräne ist eine erhöhte ­Reizempfindlichkeit des Gehirns“, erklärt Anna-Lena Guth vom Kopfschmerzzentrum Frankfurt. Die Psychologin ist auf Schmerzpsychotherapie spezialisiert und Co-Autorin eines Ratgebers zu Migräne. „Das Gehirn hat rein physiologisch Schwierigkeiten, sich an unbedeutende Reize wie zum Beispiel das Ticken einer Uhr zu gewöhnen und sie rauszufiltern.“ Es ist dann schnell überlastet, die Reizschwelle zur Migräneattacke überschritten: „Ein Anfall wird als Notabschaltung des Gehirns verstanden“, sagt Guth. „Die Signalübertragung im Gehirn ist dann vorübergehend gestört, schmerzleitende Nervenfasern werden aktiviert.“

Medikamente nur mit Maß und Ziel

Weltweit und in Deutschland ist mindestens jede zehnte Person von Migräne betroffen. Das erhöhte Risiko, an einer Migräne zu erkranken, wird zum großen Teil vererbt, oft gibt es weitere Betroffene in der Familie. Die Erkrankung beginnt häufig schon im Kindes- oder Jugendalter. Die Ausprägung könne sehr unterschiedlich sein, sagt Guth: „Manche erleben ein bis zwei Attacken im Jahr, manche ein bis zwei Attacken in der Woche.“

Vielen Betroffenen ergeht es so, wie es Anke Schneider über viele Jahre erging: Die Migräne bestimmt ihr Leben. In jüngerer Zeit wurden zwar einige Medikamente gegen Migräne entwickelt, doch sie helfen nicht allen und nicht immer und wenn, dann nur bedingt. Zudem sollten die Schmerz- und speziellen Migränemittel nicht häufiger als zehn Tage im Monat genommen werden, damit es nicht zu einem Übergebrauch kommt. Eine 2017 in dem Journal Lancet veröffentlichte Studie zeigte: Unter 328 Krankheiten in 195 Ländern gehört Migräne zu den Top Ten, was die Beeinträchtigung des Lebens angeht.

"Du übertreibst doch nur!"

Das Leben ändern – damit hat Anke Schneiders Ärztin einen zentralen Punkt getroffen: „Migräne ist zwar eine körperliche Erkrankung, die aber durch Stress stark beeinflusst wird“, so Schmerzpsychotherapeutin Guth. Stress ist der häufigste Auslöser für Migräneattacken. Darin liegt auch eine große Chance: Stressbewältigung und Entspannung haben einen erheblichen Einfluss auf die Schwere und den Verlauf der Erkrankung.

„Betroffene können mit einer Verbesserung der Migräne von etwa 40 Prozent rechnen, wenn sie psychologische Verfahren anwenden, wie etwa eine Entspannungsmethode, Achtsamkeit, Biofeedback oder kognitive Verhaltenstherapie“, sagt Guth. Damit wirken diese Verfahren bei der Vorbeugung von Migräneattacken so effektiv wie Medikamente. Das ist durch Studien gut belegt. Kündigt sich jedoch eine akute Attacke an, brauchen die meisten Menschen Medikamente, um den Anfall durchzustehen.

Die Bedeutung psychologischer Behandlungen sei bisher wenig bei Ärztinnen und Patienten angekommen, bemängelt die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft. Ein Grund dafür sind tradierte Vorurteile, die verhindern, dass die Erkrankung wirklich ernst genommen wird. „Dann nehmen Sie doch mal was ein!“ „Stell dich nicht so an!“ „Das sind doch nur Kopfschmerzen!“ So etwas müssen sich Menschen mit Migräne immer wieder anhören – vor allem Frauen, die etwa doppelt so häufig betroffen sind wie Männer, eventuell auch bedingt durch Schwankungen der Sexualhormone.

Selbst das Klischee, Migräne sei etwas für Frauen, die keine Lust auf Sex haben, hält sich hartnäckig. In einer amerikanischen Umfrage von 2019 meinten drei von zehn Befragten, dass Frauen und Männer mit Migräne ihre Beschwerden übertrieben, um Aufmerksamkeit zu erheischen oder Termine nicht wahrnehmen zu müssen. Die Folge: Die Betroffenen empfinden ihre Erkrankung als Stigma, verheimlichen sie, holen sich keine professionelle Hilfe.

Zwei Tassen Espresso und weiter

Viele Betroffene brauchen Jahre, bis sie die Migräne als Erkrankung erkennen und akzeptieren. Doch das ist die Voraussetzung dafür, um sich aus dem Teufelskreis herauszuarbeiten, der die Migräne gedeihen lässt: „Schlafen, Arbeiten, Schmerzen – so sieht bei vielen Migränepatienten der Alltag aus“, sagt Guth.

So auch bei Volker Horst. „Ich war der 150-Prozent-Typ, ich wollte allem und jedem gerecht werden und habe mich immer weiter überfordert“, berichtet der 53-Jährige, der in Frankfurt im Finanzdienstleistungssektor tätig ist. „Wenn sich eine Attacke anbahnte, habe ich eine Migränetablette genommen, noch zwei Tassen Espresso draufgekippt und weitergearbeitet.“ Wenn das nicht reichte: noch mehr Espresso und noch mehr Tabletten. „Am Wochenende war ich immer völlig im Eimer und lag nur noch im Bett.“ Litt er als junger Mann unter etwa drei Schmerztagen im Monat, liegt er heute bei 20 bis 25 Tagen.

Dieses Durchhaltenwollen, sagt Anna-Lena Guth, sei der wichtigste Grund dafür, dass die Migräne sich verstärkt. „Wenn dem Gehirn nicht die nötige Zeit zur Regeneration gegeben wird, kommt es nicht zur Ruhe, bleibt quasi auf halber Höhe hängen, so dass womöglich schon am nächsten Tag die Reizschwelle zur Migräne wieder überschritten wird.“ Als Folge geraten viele in einen Übergebrauch von Medikamenten, denn Arzneimittel gegen akute Kopfschmerzen und Migräne verursachen, wenn sie zu häufig genommen werden, wiederum Kopfschmerzen. In dieser verfahrenen Situation kommt dann oft noch eine Depression hinzu. Für Menschen mit Migräne ist das Depressionsrisiko doppelt so hoch wie für andere.

Angst vor der Attacke

Auch Volker Horst ist durch die ständige Schmerzbelastung depressiv geworden. Mehrmals begab er sich in stationäre Behandlung – in eine Kopfschmerzklinik oder in eine psychosomatische Klinik. Viele Jahre hat es gedauert, bis er sich selbst erlauben konnte, auch mal krank zu sein. In einem zweiten Schritt hat er sich zugestanden, nicht mehr Vollzeit, sondern nur noch 80 Prozent zu arbeiten. In einer Psychotherapie hat er gelernt, sich auch dann als wertvollen Menschen zu begreifen, wenn er nicht so leistungsfähig ist. Meistens sitzt er nun im Homeoffice und kann sich den Arbeitstag so gestalten, wie er es braucht. Spürt er, dass sich eine Migräneattacke anbahnt, gönnt er sich Rückzug. Er legt sich hin, schließt die Augen und macht Entspannungsübungen.

In der Freizeit versucht er, mehr am Leben teilzunehmen, „schließlich bin ich eigentlich ein geselliger Mensch“. Statt aus Angst vor einer Migräne eine Verabredung abzusagen, geht er trotzdem hin – und wenn es nur für eine halbe Stunde ist. Er wagt eine Wanderung in einer Gruppe – und klärt vorher, wer ihn zurückbegleitet, falls eine Attacke im Anzug ist. „Neulich habe ich in einer Männerrunde ein Bierchen getrunken, wenn auch ein alkoholfreies, das hat richtig gutgetan.“ Lange Zeit hatte er solche Aktivitäten vermieden: „Ich hatte Angst vor einer erneuten Attacke mit starken Schmerzen“, sagt Volker Horst, der bei der MigräneLiga inzwischen zwei Onlineselbsthilfegruppen leitet. „Zum anderen befürchtete ich, wieder für ein oder zwei Tage bei der Arbeit auszufallen.“

Triggervermeidung geht nach hinten los

Psychotherapeuten bezeichnen solche Befürchtungen als „Attackenangst“, die eine Migräne verschlimmern kann. „Wenn ich mich zum Beispiel nicht auf eine Geburtstagseinla­dung freue, sondern nur mit meiner Angst vor einer Attacke beschäftigt bin, kann das zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden“, erklärt Guth. Oder wenn man sich schon im Voraus fragt, wie die anderen wohl reagieren, wenn man schon wieder absagen muss. Oder schon vorarbeitet, um einen eventuellen Ausfall zu kompensieren. Oder vorsichtshalber vorab Medikamente einnimmt. Ein solches Verhalten und solche Gedanken erhöhen den Stresspegel, was wiederum eine Attacke wahrscheinlicher macht.

Die Betroffenen meinen oft, es sei einfacher, von vornherein allen eventuellen Auslösern aus dem Weg zu gehen. Das ist verständlich: Niemand nimmt gerne Schmerzen in Kauf. „Doch eine generelle Triggervermeidung führt dazu, dass die Reizschwelle des Gehirns immer weiter sinkt und Migräneattacken deshalb immer häufiger werden“, warnt Guth.

Helles Licht zum Beispiel ist für viele Migränegefährdete ein Trigger. Wenn sie aber selbst bei bedecktem Himmel nur noch mit Sonnenbrille rausgehen oder sich sogar nur noch in Innenräumen aufhalten, gewöhnt sich das Gehirn an die niedrige Reizschwelle. Dann bricht die nächste Attacke womöglich trotz Sonnenbrille aus. Anderes Beispiel: Viele vermeiden jeglichen Sport, weil körperliche Aktivität einen Anfall auslösen könnte. Auch diese Vorsicht geht nach hinten los, denn moderater Ausdauersport kann Migräneattacken nachweislich reduzieren.

Triggermanagement

Wichtig wäre also, sich in kleinen Schritten an die Aktivität heranzutasten, auch wenn das eine Menge Mut erfordert. „Ein flexibler Umgang mit den Auslösern kann langfristig Migräneattacken reduzieren und das Wohlbefinden verbessern“, sagt die Schmerzpsychotherapeutin Eva Liesering-Latta vom DRK-Schmerz-Zentrum Mainz. Zusammen mit ihrem Kollegen Timo Klan von der Universität Mainz hat sie ein kognitiv-verhaltenstherapeutisch ausgerichtetes Programm für ein Migränemanagement ausgearbeitet, MIMA genannt. Ein Modul befasst sich auch mit der Attackenangst und einem differenzierten „Triggermanagement“.

„Doch nicht alle Migränepatienten brauchen ein komplexes Migräneprogramm oder eine Schmerzpsychotherapie“, sagt Liesering-Latta. Betroffene können zunächst für sich versuchen, ihren Lebensstil auszubalancieren und sich mit den vermuteten Triggern gezielt zu konfrontieren, dosiert wohlgemerkt.

Selbsttherapie durch Entspannung

Basis der Selbstbehandlung ist das Erlernen eines Entspannungsverfahrens – um Anspannung abzusenken und das Gehirn zu beruhigen. „Allein ein regelmäßig praktiziertes Entspannungstraining kann die Häufigkeit von Kopfschmerzen um 30 bis 50 Prozent reduzieren, das ist durch Studien belegt“, so Liesering-Latta. „Das Gehirn lernt, weniger sensitiv auf Reize zu reagieren. Zudem werden körpereigene schmerzhemmende Systeme aktiviert.“

Dabei wirken Entspannungsverfahren nicht nur vorbeugend, sondern auch während einer akuten Attacke. In dem Programm MIMA wird eine ganze Palette angeboten: progressive Muskelrelaxation, autogenes Training, achtsames Atmen, Qigong, Imaginationsübungen, Techniken zur inneren Reizabschirmung oder Eigenmassage.

"Der Kopf war vom Körper abgeschnitten."

Anke Schneider fand über Entspannung den Hebel, wie sie ihr Leben ändern konnte. Lange hatte sie nach dem Motto „Deadline war gestern“ gelebt, hatte sich keine Ruhe gegeben, nicht auf ihren Körper gehört. „Der Kopf war vom Körper völlig abgeschnitten“, bemerkt sie. Irgendwann befand sie sich in einer Migränedauerschleife: Hatte sie sich gerade nach zwei Tagen von einer Attacke erholt, bahnte sich schon die nächste an.

Die Wende brachte ein Yogakurs. „Wenn ich am Freitagabend an einer Stunde teilgenommen hatte, habe ich die Entspannung am Mittwoch darauf immer noch gespürt.“ Im Laufe der Zeit wurde die Migräne seltener und weniger heftig, das war allerdings ein Prozess von vielen Jahren. Sie blieb dran am Yoga, knüpfte eine Ausbildung als Yogalehrerin an, sattelte Yogatherapie noch obendrauf. „Die Inhalte der Ausbildungen gaben mir den Anstoß, auch mit meinen eigenen Themen aufzuräumen: mich nicht mehr so unter Druck zu setzen, klare Grenzen zu ziehen, mir bewusst Pausen zu gönnen.“ Inzwischen hat sie nur noch ein- oder zweimal im Jahr einen Migräneanfall. Ihre Erfahrungen teilt sie mit anderen Betroffenen und bietet ein Migränecoaching an.

Akzeptanz heißt auch anzukämpfen

Nicht immer bekommen Menschen mit Migräne die Erkrankung so gut in den Griff. Dann spielt Akzeptanz eine große Rolle. „Akzeptanz bedeutet nicht, alles gutzuheißen oder zu resignieren“, sagt Liesering-Latta, „sondern es geht darum, die Realität anzunehmen, wie sie im Moment ist, und nicht dagegen anzukämpfen.“ Auch ihr Programm MIMA integriert diese akzeptierende Haltung, angelehnt an die Akzeptanz- und Commitmenttherapie (siehe Definition auf dieser Seite). Ann-Katrin F. aus Berlin braucht viel Akzeptanz, um mit ihrer Migräne umgehen zu können. Vor vielen Jahren musste die heute 50-Jährige wegen ihrer schweren Migräne ihren turbulenten Beruf in der PR-Branche aufgeben.

Obwohl sie alle möglichen Therapieansätze ausprobiert hat, regelmäßig meditiert, sich mit Atemtechniken beschäftigt, ein sehr strukturiertes Leben führt, geht es ihr insbesondere im Winter oft schlecht. Während eines Anfalls kommt sie drei Tage und drei Nächte nicht aus ihrem Ohrensessel heraus – sie muss halb aufrecht sitzen, „Liegen geht bei mir dann gar nicht“. Sie hat damit zu kämpfen, dass sie sich wertlos fühlt. Oder macht sich Vorwürfe, wenn eine Attacke sie mal wieder stoppt. „Hast du wieder übertrieben?“ Ihre Neurologin hat ihr eine Therapie-App verschrieben, die auf der Akzeptanz- und Commitmenttherapie basiert. Mit ihr übt Ann-Katrin F. nun, sich freizumachen von dem, was in ihrem Kopf vorgeht.

30 Prozent schaffen? In Ordnung!

Auch die Angst vor Attacken legt sie manchmal lahm: „Wenn ich etwas vorhabe, kommen starke Bedenken hoch, ob ich das wohl schaffe.“ Doch sie versucht immer wieder, ihren Radius zu erweitern. Nach dem letzten schwierigen Winter wollte sie gerne an einem Schweigeretreat teilnehmen. Doch wie sollte sie das durchhalten, eine Woche von morgens bis abends zu meditieren? Ihr Mann beruhigte sie: Wenn sie die Hälfte schaffe, würde das reichen. Die Seminarleiterin beruhigte sie noch mehr: Auch 30 Prozent seien in Ordnung. Letztlich konnte sie an 80 Prozent des Programms teilnehmen – mit viel Freude und Genuss. „Immer wieder muss ich mich aus meiner Enge befreien und Möglichkeiten ausloten, wie ich die Grenzen erweitern kann.“

Mit Triggern umgehen

Strategien des Migränemanagementprogramms MIMA im Umgang mit den Auslösern der Attacken

Experiment: Es geht darum zu experimentieren: Bringt mich beispielsweise schon ein Glas Wein tatsächlich über die Reizschwelle? Wenn ja: in welchen Situationen? Während im stressigen Alltag vielleicht ein Gläschen das Fass zum Überlaufen bringt, wird der Wein im Urlaub möglicherweise gut vertragen.

Vermeidung: Eine ausgelassene Mahlzeit – zu 100 Prozent Migräne? Klarer Fall, das sollte man vermeiden. Doch oft gibt es keinen einzelnen Trigger, sondern mehrere ungünstige Faktoren kommen zusammen. Das gilt es auszutesten.

Stressbewältigung: Eine Bewältigungsstrategie wäre beispielsweise, sich bei einer Geburtstagseinladung immer mal wieder aus dem Geschehen zu ziehen und einen Spaziergang zu machen. Oder sich ein Hintertürchen offenzulassen: Ich gehe hin, kann nach einer halben Stunde aber wieder verschwinden.

Exposition: Das besagt, es immer wieder – wohldosiert und schrittweise – zu probieren, sich dem Auslöser zu stellen. Vor allem wenn es um Vorhaben oder Dinge geht, die einem wichtig sind.

Akzeptanz: Wenn ein Trigger sich nicht vermeiden lässt (etwa ein Wetterumschwung) oder die Attacken immer wieder kommen, ist es entlastend, nicht auch noch innerlich gegen das Unvermeidliche anzukämpfen.

ACT

Die Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT) ist ein Ansatz aus der sogenannten dritten Welle der Verhaltenstherapie. Ziel ist, belastende Gefühle und Gedanken zu akzeptieren, statt sie verändern zu wollen. Es wird zwischen dem natürlichen Leid durch Schmerzen und einem zusätzlichen Leid unterschieden, das durch die Aversion gegen diese Schmerzen entsteht und sich noch auf den körperlichen Schmerz draufsetzt.

Quellen

Charly Gaul, Andreas Totzeck, Anna-Lena Guth: Patientenratgeber Kopfschmerzen und Migräne. ABW Wissenschaftsverlag 2021 (4., überarbeitete und erweiterte Auflage)

Bettina Rubow: Der Migräne Kompass. Migräne endlich verstehen und besser mit ihr leben. Heyne 2021

Thomas Dresler u.a.: Psychologische Kopfschmerztherapie in Zeiten von COVID-19. Der Schmerz, 34/6, 2020

Thomas Dresler u.a.: Psychologische Behandlungsverfahren bei Kopfschmerz. Nervenheilkunde, 38, 2019, 745–756

Thomas Dresler u.a.: Nicht-medikamentöse Therapie der Migräne. MMW – Fortschritte der Medizin, 10, 2017

Anna-Lena Guth: Warum Vermeiden keine gute Idee ist. Migräne Magazin, Ausgabe 93

Timo Klan, Eva Liesering-Latta: Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Migränemanagement (MIMA). Ein Behandlungsmanual zur Krankheitsbewältigung und Attackenprophylaxe bei Migräne. Hogrefe 2020

Timo Klan u.a.: Attackenangst bei Migräne: Diagnostik und Behandlung. Der Schmerz, April 2023

Peter Kropp u.a.: Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne, S1-Leitlinie, 2022. Herausgegeben von der Kommission Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) in Zusammenarbeit mit der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG)

Peter Kropp u.a.: Entspannungsverfahren und verhaltenstherapeutische Interventionen zur Behandlung der Migräne. Leitlinie der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft. Nervenheilkunde 7-8, 2016

R. E. Shapiro u.a.: Stigmatizing attitudes about migraine by people without migraine: Results of the OVERCOME study. Headache – The Journal of Head and Face Pain. July 2019

Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft: www.dmkg.de

Selbsthilfeverband MigräneLiga e.V.: www.migraeneliga.de

Susanne Alef: Migräne: „Nur für Sexmuffel und Faule“. In: DocCheck.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2024: Die schönste Zeit: Alleinsein