Herr Arunagirinathan, Sie sagen, wir sollten Herz und Psyche nicht als getrennte Einheiten sehen. Warum ist das falsch?
Wenn ich als Herzchirurg eine OP an diesem lebenswichtigen Organ durchführe, geht es natürlich um technische Dinge wie Klappen, Gefäße, Blutzufuhr, Kanäle. Das Herz ist materiell gesehen ein Hochleistungsmaschinenraum, der jeden Tag 7000 Liter Blut durch den Körper pumpt. Und trotzdem ist dieses Organ enorm abhängig von unserer Gemütsverfassung. Auch wenn es uns noch viele Rätsel aufgibt…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
ist dieses Organ enorm abhängig von unserer Gemütsverfassung. Auch wenn es uns noch viele Rätsel aufgibt und man keine feste Formel aufstellen kann – Ängste, Enttäuschungen, einschneidende Erlebnisse schlagen uns aufs Herz. Bis zu einem gewissen Grad ist das sogar messbar.
Wie gelangen diese psychischen Ereignisse bis zum Herzen?
Bei großem Stress oder in einer seelisch herausfordernden Situation werden Hormone wie Adrenalin oder Kortisol ausgeschüttet. Dadurch steigt unter anderem der Blutdruck, was einen unmittelbaren Effekt auf das Herz hat. Die Hormone spielen eine wesentliche Rolle als Vermittler zwischen Körper und Seele. Das sind alles messbare Dinge, wir spüren diese Verbindung auch. Wenn wir uns zum Beispiel ein Bein brechen, können wir uns, physisch gesehen, schlecht bewegen. Aber wir empfinden gleichzeitig auch seelischen Schmerz, sind deprimiert und nicht gut drauf.
Psychosomatische Beschwerden, die durch psychischen Druck ausgelöst werden, betreffen ja nicht nur das Herz.
Genau. Ich selbst habe jahrelang unter einem trockenen Husten gelitten. Habe immer wieder die Lunge abchecken lassen, da war nichts. Bis ich merkte, dass es immer passiert, wenn ich stark gestresst bin. In meinem Magen ist es zu einer Übersäuerung gekommen, die einen Reflux und in der Folge den Husten auslöste. Da verstand ich: „Junge, du musst mal einen Gang zurückschalten.“ Wenn wir genau hinschauen, gibt es ganz klare und starke Beweise, wie stark der Körper mit der Seele verbunden ist.
Eines der erstaunlichsten Beispiele für die Verbindung von Psyche und Herz ist das broken heart syndrome, bei dem Menschen so sehr an Liebeskummer leiden, dass sie daran sterben können.
Es lässt sich nachweisen, dass in Fällen von großem Kummer oder Angst ähnliche Symptome wie bei einem Herzinfarkt auftreten können, ohne dass die Herzkranzgefäße von innen verengt sind – wie bei einem Infarkt sonst üblich. Beim Broken-Heart-Syndrom ist das Adrenalinniveau 30-fach erhöht im Vergleich zu einem gesunden Herzen. Es kommt zu Krämpfen, durch die sich die Gefäße verengen, die den Herzmuskel eigentlich mit sauerstoffreichem Blut versorgen müssten. Man kann sich das bildhaft vorstellen: Wenn ich große Angst oder schlimmen Kummer habe, zieht sich alles im Körper zusammen, auch die Gefäße. Das Herz wird schlechter durchblutet und kann nicht mehr genügend Leistung bringen, um den Kreislauf aufrechtzuerhalten. Das ist Leidensdruck, der wirklich etwas mit den Organen macht! Es ist extrem wichtig, dass wir als medizinisches Personal für solche Erkrankungen stärker sensibilisiert sind.
Stattdessen hat man Betroffene mit solchen Symptomen lange Zeit als „überempfindlich“ abgestempelt.
Es gibt heute noch Ärztinnen und Ärzte, die das als „Psychokram“ abtun. Aber damit lag und liegt man falsch. Ich erinnere mich an einen Kunstlehrer von mir. Ein wunderbarer, fröhlicher Mensch, der immer begeistert von seiner Familie erzählte, von seiner Ehefrau, den Kindern und den tollen Ausflügen. Eines Tages starb sie. Und er ist ihr innerhalb eines Jahres gefolgt. Er hat plötzlich extrem abgebaut, ist immer depressiver geworden. Sein Verlust und seine Einsamkeit waren seelisches Leid, das seinen Körper und dessen Organfunktionen belastete. So ergeht es übrigens auch Menschen im Krieg. Mir ist das auf Sri Lanka aufgefallen: Dort bin ich vielen Menschen begegnet, die den Bürgerkrieg erlebt haben. Die tragen den Schock im Gesicht und sind extrem vorgealtert. Durch solche Traumata nehmen die Organe großen Schaden.
Allerdings geht jeder unterschiedlich mit Stress um. Und nicht jede hat das Gefühl, bei Liebeskummer sterben zu müssen.
Unbedingt. Die einen sind stabiler aufgestellt, die anderen zarter. Die einen bewältigen den Stress mit links, bei den anderen schlägt das seelische Erleben stärker durch. Das hat aber nichts mit Schwäche zu tun. Wir sind da unterschiedlich emotional ausgestattet. Aber es ist natürlich auch eine Kopfsache – wie gut kann ich lernen, mit Stress umzugehen?
Sie kritisieren, dass wir uns ohne Not zu viel Stress machen.
Ich beobachte mit Sorge, dass wir zu oft ins gesellschaftliche Hamsterrad geraten. Immer der Beste sein, noch eine extremere Herausforderung annehmen. Es gibt Menschen, die nie zur Ruhe kommen und immer noch etwas Neues suchen. Aber nicht, um das Leben irgendwann zu genießen, sondern nur, um einen Kampf mit sich selbst zu gewinnen. Auf Dauer kann das nicht gutgehen.
Sie empfehlen Menschen, die sich, salopp gesagt, die Dinge zu sehr zu Herzen nehmen, eine psychokardiologische Therapie. Wo setzt die an?
Das ist eine relativ junge Therapieform, die die Wechselwirkungen von Psyche und Herzerkrankungen sichtbar macht. Vor allem geht es darum, den Zusammenhang zu sehen: Wenn du unkontrolliert dein Herz mit derlei seelischem Stress fluten lässt, nimmt es Schaden. Ich möchte den Menschen die Augen öffnen, weil wir zu wenig über solche Dinge sprechen, die uns Angst machen oder auf der Seele lasten. Denn wir können lernen, zu Situationen, die uns in die Enge treiben, eine andere Haltung einzunehmen. Wir können nämlich fragen: „Warum lasse ich zu, dass ich für meine Ziele so einen hohen Preis zahle?“
Was können wir tun, um gut zu unserem Herzen zu sein?
Wir sollten mehr auf unser Herz hören, im wahrsten Sinne des Wortes. Speziell in Deutschland leben die Menschen, um zu arbeiten. Dabei sollte es umgekehrt sein. Oder sie verharren in Beziehungen, weil sie sich nicht trauen, ihren Eltern zu sagen, dass es nicht funktioniert hat. Aber wir würden unser Herz enorm erleichtern, wenn wir nicht immer nur nach außen schielen, sondern den Blick nach innen richten und fragen: „Hand aufs Herz, wie geht es mir wirklich? Tut mir das alles tatsächlich gut?“ Manchmal kann es auch die beste Freundin sein, die einem die Wahrheit sagt. Man selbst ist oft verblendet, hat einen blinden Fleck.
Es gibt viele Menschen, die psychisch leiden, das aber vollkommen verdrängen. Oft sind das Männer, die den Mächtigen, den Checker spielen. Die meinen, dass sie stark sind, weil sie ins Fitnessstudio gehen. Aber die Stärke eines Menschen beruht leider nicht auf Muskelkraft, sondern auf seelischer Resilienz.
Welche Dinge sollten wir uns weniger zu Herzen nehmen?
Wir konzentrieren uns zu stark auf unsere Niederlagen, sehen immer nur den leeren Teller vor uns. Weil Dinge nicht geklappt haben, schiefgehen. Dabei übersieht man aber all das, was schön ist im Leben. Die Freunde, die Familie, die eigenen Talente. Die vielen Möglichkeiten, die man in einem Land wie Deutschland hat, die große Freiheit. Wenn ich Patienten mit großer Angst oder Verzweiflung begegne, versuche ich, ihre verengte subjektive Wahrnehmung zu relativieren.
Ich frage dann: „Wissen Sie, was Sie schon alles in Ihrem Leben geleistet haben? Schauen Sie mal zurück, was Sie alles überwunden haben, wie alt Sie geworden sind.“ Ich erzähle Ihnen dann manchmal meine Geschichte: Wie ich allein mit dreizehn Jahren aus Sri Lanka hier ankam. Wie viel Angst ich hatte. Wie oft ich gestolpert und wieder aufgestanden bin. Dass ich es kenne, mich durchbeißen zu müssen. Ich bin immer erstaunt, wie viel Mut und Hoffnung das macht. Wir brauchen das Gefühl, dass da ein anderes Wesen ist, das im Prinzip so ist wie wir selbst.
Sie empfehlen interessanterweise auch, öfter in den Himmel zu schauen…
Ja, ganz wichtig. Ich möchte immer rufen: „Hebt den Blick, schaut in die Ferne! Weg vom Boden, weg von dem, was euch nach unten zieht und festhält.“ Gehen Sie an die frische Luft, lassen Sie den Blick schweifen, staunen Sie über die Farben des Himmels. Das entkrampft sehr. Gehen Sie ins Helle, raus aus der Wohnung. Licht ist ein unheimlich guter Antistressor und macht das Herz sofort froh. Und bewegen Sie sich. Ein einfacher Spaziergang, und ist er noch so kurz, senkt sofort die Stresshormone. Oder tanzen Sie, das öffnet sofort die Ventile für zu hohen Druck. Jegliche Bewegung in Maßen wirkt Wunder. Es ist ganz bestimmt nicht der Marathon, der uns seelisch entlastet. Das ist schon wieder mit viel zu viel Wettkampf verbunden.
Sie beobachten allerdings auch, dass viele Menschen zu sehr in ihrer Angst verharren.
Es ist erstaunlich, wie viel Angst die Menschen mit sich herumschleppen. Manchmal ist sie nachvollziehbar, oft ist sie übersteigert. Ich sehe viele, die vor allem und jedem Angst haben, das hat meist ganz wenig mit der Realität zu tun. Als Mediziner kommt man da nicht so gut heran. Was ich aber in meiner täglichen Arbeit beobachte: Bei Angst hilft immer Reden und körperlicher Kontakt. Wenn ich Patientinnen begegne, die einen Herzinfarkt erlitten haben oder die kurz vor einer Herz-OP stehen, dann ist da Panik pur im Raum.
Berechtigterweise.
Unbedingt! Manchmal lege ich dann meine rechte Hand auf ihre Brust, dort, wo das Herz liegt, und greife mit meiner linken den rechten Arm. Ich schaue den Leuten in die Augen und sage: „Ich werde auf Sie aufpassen.“ Sie glauben nicht, wie sehr das stärkt. Ich habe das von Professor Thomas Meinertz, einem Kardiologen, der jahrelang Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie war. Seine zutiefst menschlichen Visiten haben mich stark berührt und sehr geprägt. Mir gefällt es nicht, dass wir in der Herzmedizin viel zu sehr auf apparative Diagnostik setzen. Wir müssten mit viel mehr Empathie arbeiten. Ich achte darauf, dass ich einen Patienten bei jeder Visite einmal berühre. Das ist ein Signal des Vertrauens. Es ist erstaunlich, wie sehr das bei den Menschen etwas öffnet.
Was könnte Menschen helfen, die allein zu Hause sitzen und es nicht nach draußen schaffen?
Selbsthilfegruppen halte ich für etwas Großartiges. Man kommt zusammen, und über das Miteinander stellt sich ein Gefühl von Sicherheit ein. Wer allein im Wald durch die Dunkelheit nach Hause muss, fürchtet sich. Wenn man aber jemanden an der Seite hat, lässt auch die Angst nach. Panik hat auch viel mit Alleinsein zu tun.
Das heißt, wir sollten uns einen Ruck geben und etwas gegen das Alleinsein tun?
Ich würde es unbedingt versuchen. Ich weiß, man hat es nicht immer in der Hand, wie gesellig das eigene Leben ist. Aber letztlich sind die Zutaten dafür gar nicht so exotisch. Lassen Sie nicht zu, dass Sie tagelang ohne Begegnungen sind. Schon mit einem kleinen Plausch ist viel gewonnen. Besuchen Sie eine Veranstaltung, ein Konzert, eine Lesung. Vieles ist kostenlos. Und sprechen Sie Ihren Nachbarn an. Ein, zwei Minuten oder auch länger. Lächeln Sie andere Menschen an, freuen Sie sich über das Blau des Himmels, schöpfen Sie Atem. Da hüpft Ihr Herz sofort.
Dr. Umes Arunagirinathan wurde 1978 auf Sri Lanka geboren und kam als 13-jähriger unbegleiteter Geflüchteter nach Deutschland. Er ist als Herzspezialist in Bremen tätig undschreibt Bücher über das Gesundheitssystem, Rassismus und natürlich das Herz.
Quelle
Umes Arunagirinathan: Herzensdinge. Rowohlt 2024 (5. Auflage)