Ersatzmutter-Therapie: Der Anfang vom Ende

Therapiestunde: Die Therapie ist fast beendet – doch dann zaubert die Klientin neue Probleme aus dem Hut. Was hat ihre verstorbene Mutter damit zu tun?

Die Illustration zeigt eine Frau, die ihrer Mutter, die auf einem Fahrrad mit Stückrädern sitzt, wie ein Kleinkind helfend beisteht
Die ältere Klientin sieht in ihrer Therapeutin ihre jung verstorbene Mutter - und möchte sie auf keinen Fall erneut verlieren. © Michel Streich für Psychologie Heute

Als ich anfing, therapeutisch zu arbeiten, war ich 28 Jahre alt. Ich hatte einen Universitätsabschluss in Psychologie in der Tasche und mehrere Berufspraktika und die Ausbildung zur systemischen Therapeutin hinter mir. Ich war bereit für meine ersten Klientinnen und Klienten. Nur eine Sache war hinderlich: Ich sah so jung aus, dass ich sogar beim Lottospielen meinen Ausweis vorzeigen musste.

Zu meinen ersten Klienten zählten Marion* und ihr Mann Peter*, beide in ihren 60ern, also mehr als doppelt so alt wie…

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ersten Klienten zählten Marion* und ihr Mann Peter*, beide in ihren 60ern, also mehr als doppelt so alt wie ich. Ich kann mich noch gut an ihren ungläubigen Blick erinnern, als ich ihnen die Tür zu meiner Praxis öffnete. Wären sie nicht so verzweifelt und weniger höflich gewesen und hätten sie nicht der Empfehlung eines anderen Kollegen vertraut, sie hätten sicherlich auf dem Absatz kehrtgemacht. Nach Anfangsplaudereien („Haben Sie Ihre Praxis schon lange?“) fingen wir an, gemeinsam an ihren Problemen zu arbeiten, und sie schienen über meine Fragen und Interventionen mein Alter bald zu vergessen.

"Was mache ich falsch?"

Im Laufe der folgenden Sitzungen sprachen Marion und Peter Themen an, die sie bewegten, über die sie zuvor aber nie zu sprechen gewagt hatten. Sie kamen einander wieder näher. Anstatt sich nach Missverständnissen frustriert voneinander zurückzuziehen, fanden sie Mittel und Wege, sich auszusprechen. Ihr Vertrauen ineinander wuchs. Sie begannen, sich als Paar noch einmal neu zu entdecken.

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Der therapeutische Auftrag war bald erfüllt, denn das Ziel des Paares, wieder Freude miteinander zu haben, schien nach ein paar Sitzungen erreicht. Sie waren froh, ich war froh, die Therapie konnte also beendet werden. Aber immer wenn ich meinen Eindruck formulierte, brachte Marion ein weiteres drängendes Problem vor. „Ich bin noch nicht so weit! Es gibt noch so viel zu klären.“ Auch Peter war der Meinung, dass die Therapie nicht mehr notwendig war, während Marion darauf bestand, weitere Termine zu vereinbaren.

Verunsichert wandte ich mich an meinen Supervisor, einen erfahrenen Kollegen, mit dem ich meine Fälle besprach: „Alle Probleme sind gelöst und meine Klientin will einfach nicht aufhören. Was mache ich falsch?“

Die Mutter, die sie nicht erneut verlieren möchte

Er stellte mir ein paar Fragen zum Therapieverlauf und fragte dann unvermittelt: „Was wissen Sie eigentlich über die Beziehung Ihrer Klientin zu ihren Eltern?“ „Ihre Mutter ist gestorben, als Marion zwölf Jahre alt war. Zu ihrem Vater hatte sie kein enges Verhältnis. Sie war in ihrer Kindheit ziemlich einsam.“ Mein Supervisor nickte. „Vielleicht holt sich Marion bei Ihnen die emotionale Unterstützung, die sie in ihrer Kindheit vermisst hat. Man könnte auch sagen, Sie sind derzeit Marions Ersatzmutter.“

„Aber Marion ist doppelt so alt wie ich! Das macht doch keinen Sinn, sie könnte meine Mutter sein.“ Er lächelte. „Das spielt bei Übertragungsprozessen keine Rolle. Es sieht so aus, als ob Sie derzeit das Opfer einer positiven Mutterübertragung sind.“ Übertragung ist eigentlich ein Begriff, der aus der Psychoanalyse stammt. Freud ging davon aus, dass aus der Kindheit stammende Gefühle, Erwartungen oder Wünsche, die einst den Eltern galten, später auch auf andere Personen übertragen werden können. Beispielsweise dann, wenn eine 65-jährige Frau in ihrer 28-jährigen Therapeutin die Mutter sieht, die sie nicht erneut verlieren möchte.

Plötzlich ergab alles Sinn – dass Marion sich wie ein kleines Mädchen über ein Lob von mir freute und dass sie auf meine Anregung, die Therapie zu beenden, ein Problem nach dem anderen aus dem Hut zauberte, um die Therapie zu verlängern. Eine Last fiel von mir ab: Ich hatte nichts falsch gemacht oder ineffizient gearbeitet. Und auch mein Alter und mein jugendliches Aussehen waren im Grunde irrelevant. Denn auch für weitaus ältere Klientinnen konnte ich eine Mutter- oder Vaterfigur sein – je nachdem welche Assoziationen oder Gefühle ich auslöste und was meine Klienten gerade brauchten, um sich weiterzuentwickeln.

Mutterseelenallein in der alten Traurigkeit

Mein Supervisor unterbrach meine Gedanken. „Sie haben offensichtlich ein stabiles Vertrauensverhältnis etabliert. Sie bieten Ihrer Klientin eine sichere Bindung an, die sie durch den frühen Tod ihrer Mutter nicht lange genug genießen konnte. Vertrauen Sie dem Prozess. Vertrauen Sie Ihrer Klientin. Es geht im therapeutischen Prozess nicht nur darum, die akuten Probleme zu bearbeiten. Es geht auch darum, einen sicheren Beziehungsrahmen zu bieten und emotional bedürf­tige Klienten so weit nachzubeeltern, dass sie im Laufe der Zeit lernen, sich selbst zu versorgen. Diese neuen, gesunden Bindungserfahrungen sind mitunter sogar entscheidender als alles andere.“

In den folgenden Sitzungen hörte ich auf, vom Ende der Therapie zu sprechen. Stattdessen begleitete ich Marion nun bewusst dabei, den Verlust ihrer Mutter zu verarbeiten. Denn hinter der Muttersehnsucht, verbarg sich tiefer Schmerz, den sie seit ihrer Kindheit unterdrückt hatte. Marion erkannte, welche Auswirkungen der frühe Tod ihrer Mutter auf ihr gesamtes Leben und nicht zuletzt auch auf ihre Ehe gehabt hatte: „Wenn die alte Traurigkeit mich überfällt, fühle ich mich mutterseelenallein und werde wütend auf Peter, obwohl er gar nicht wissen kann, was in mir vorgeht.“ Als sie zu weinen begann, stand Peter auf und nahm sie in den Arm.

95% sicher, dass es ohne dir geht

Es war, als ob der alte Bann gebrochen war, ein neuer, positiver Kreislauf konnte entstehen: Marion fing an, ihre Gefühle zuzulassen und sie in Worte zu fassen, so dass Peter sie besser verstand. Und während Peter sich bemühte, liebevoller auf seine Frau einzugehen und sie zu trösten, gelang es Marion mit der Zeit immer besser, sich selbst zu beruhigen.

Und dann – nach weiteren sieben Monaten – teilte Marion mir mit, dass sie finde, dass sie nun genug Therapie gemacht habe und dass sie zu 95 Prozent sicher sei, dass sie den weiteren Weg auch ohne mich gehen könnten. Wir vereinbarten auf ihren Wunsch ein halbes Jahr später noch eine Abschlusssitzung, in der ich erfuhr: Alles war gut gelaufen. Es waren keine weiteren Probleme mehr aufgetreten, die die beiden nicht allein lösen konnten.

„Wir sind froh, dass es uns wieder so gut miteinander geht“, sagte Peter und Marion nickte. „Sollte etwas schief­laufen, können wir dann wiederkommen?“, fragte sie mich beim Abschied. „Na klar!“, beruhigte ich sie. „Ich bin aber ziemlich sicher, dass Sie zwei alles gut allein meistern werden.“

Marion und Peter brauchten keine weitere Sitzung mehr. Aber die folgenden Jahre nahm Marion sich meist kurz vor Weihnachten die Zeit, mir ein paar Zeilen zu schreiben, der Tenor war stets: „Es geht uns gut.“

Die Klientin bestimmt das Tempo

Noch heute, mehr als 20 Jahre später denke ich von Zeit zu Zeit an Marion, die mich gelehrt hat, dass Klienten alles Mögliche in ihre Therapeutinnen hineinprojizieren, um bisher Ungeklärtes aufzuarbeiten. Im Laufe der Zeit habe ich viele – auch negative – Übertragungen erlebt, ich bekam die Rolle der fordernden Mutter oder des strengen Vaters zugeteilt, ich wurde idealisiert und habe enttäuscht, genauso wie einst die jeweiligen Eltern. Wichtig und heilsam war in allen Fällen, dass alte Konflikte und Sehnsüchte im sicheren Rahmen der therapeutischen Beziehung bearbeitet werden konnten.

Marion half mir schon als junge Therapeutin zu verstehen, dass Therapie weit mehr ist, als nur das Erfüllen eines Auftrags oder das Verfolgen eines Ziels, auch wenn dieses nie aus den Augen verloren werden sollte. Sie brachte mir bei, dass die Klientin das Tempo bestimmt und nicht die Therapeutin. Dass nicht ich die Expertin bin, sondern vielmehr die Menschen, die mir gegenübersitzen. Denn Marion war es, die dafür gesorgt hatte, dass wir die Therapie erst beendeten, nachdem wir ihren wundesten Punkt erkannt und versorgt hatten. Ich lernte, dass Geduld eine wichtige therapeutische Fähigkeit ist. Und dass ein Abschied genau so lange dauert, wie er dauert.

Dr. Sandra Konrad ist Diplompsychologin und arbeitet seit über 20 Jahren als systemische Einzel-, Paar- und Familientherapeutin in eigener Praxis in Hamburg. Im Frühjahr erschien von ihr Nicht ohne meine Eltern. Wie gesunde Ablösung all unsere Beziehungen verbessert – auch die zu unseren Eltern (Piper).

* Persönliche Daten und alle Einzelheiten, welche die Klientin und den Klienten erkennbar machen könnten, wurden verändert.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2023: Intensiver leben