„Die Liste der wichtigen Dinge im Leben“

Trennung, Kündigung – und dann noch die Weltlage... Tim Müller erforscht, was bei Veränderungen hilft, um das eigene Selbstbild zu stabilisieren.

Sechs Menschen liegen im Kreis und halten sich an den Händen und ihre Haare formen in der Mitte ein Herz
Je turbulenter die Zeiten, desto wichtiger zu wissen, welche Ressourcen ich habe. Ein Beispiel: Sozialer Rückhalt. © Lisa Seitz für Psychologie Heute

Herr Dr. Müller, man weiß aus der Forschung, dass große Veränderungen im Leben stressig sind. Das liegt unter anderem daran, dass wir dann für eine Weile nicht mehr richtig wissen, wer wir eigentlich sind. Wie lässt sich das erklären?

Uns Menschen ist es wichtig, unsere globale Selbstintegrität zu bewahren. Das heißt: Wir wollen in den Spiegel schauen und in ihm jemand sehen, der gut ist, der moralisch handelt und mit seinen Handlungen auch etwas bewirkt. Solch eine Selbstintegrität speist sich aus vielen…

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handelt und mit seinen Handlungen auch etwas bewirkt. Solch eine Selbstintegrität speist sich aus vielen unterschiedlichen Quellen. Zum Beispiel aus unseren sozialen Rollen, unseren Werten, den Dingen, an die wir glauben.

All diese Puzzleteile ergeben zusammen ein stimmiges Gesamtbild. Und dieses Gesamtbild kann durch große Lebensveränderungen bedroht werden?

Durch große Veränderungen, aber auch durch kleine Ereignisse im Alltag; wenn uns zum Beispiel jemand sagt: „Du ernährst dich ungesund und bewegst dich zu wenig – dein Lebensstil erhöht die Chance auf einen Herzinfarkt.“

Ich verstehe. Die Botschaft dahinter lautet: „Das, was du da tust, ist nicht in okay. Du schadest dir damit selbst.“ Wir sehen im Spiegel dann womöglich jemanden, der sich ziemlich unvernünftig und ungesund verhält.

Genau. Oder – und auch das ist gut erforscht – wir werden Argumenten ausgesetzt, die unsere Kernidentität angreifen.

Was könnten bei-spielsweise solche Argumente sein?

Die meisten Deutschen möchten sich etwa nicht gerne damit auseinandersetzen, dass sie möglicherweise diskriminierend gegenüber anderen sozialen Gruppen sind…, dass sie Vorurteile haben. Auch das bedroht die Selbstintegrität.

Und so eine Bedrohung erleben wir subjektiv als Stress?

Absolut. Diese Stresserfahrung ist empirisch gut belegt. Große Lebensveränderungen können so ein Stressor sein. Oder wie schon gesagt: die vielen kleinen alltäglichen Belastungen. Auch im Schulkontext gibt es viele solcher Belastungen. Mein Kollege David Sherman hat dazu eine Tagebuchstudie gemacht. Da hat man junge Menschen gebeten, jeden Tag zu notieren, was sie erlebt haben. All die Momente, in denen sie sich zurückgesetzt gefühlt haben, wo sie kleine Niederlagen erlebt haben und so weiter. Wenn sich solche Erlebnisse häufen, kann das zu relativ hohem Stress führen.

Sie haben Interventionen erforscht, die in solchen Momenten helfen. Sie arbeiten dabei mit der sogenannten Selbstaffirmation.

Selbstaffirmation hilft uns nachweislich, solche Stressoren in einem Kontext zu sehen, in dem das Ganze dann nicht mehr so bedrohlich erscheint. Wir haben ja gesagt: Solche Stressoren bedrohen unsere Selbstintegrität. Eine Selbstaffirmation stellt diese Integrität wieder her – und zwar innerhalb weniger Minuten.

Was genau ist eine Selbstaffirmation?

Das ist eine wichtige Frage, denn der Begriff wird immer wieder falsch verwendet oder falsch verstanden. Selbstaffirmation bedeutet nicht, dass man sich auf die Schulter klopft und sagt: „Ich bin der Allergrößte.“ Es handelt sich um eine sehr spezifische Technik.

Wie machen Sie das in Ihren Studien?

In einer relativ aktuellen Studie mit jungen Menschen haben wir unseren Versuchspersonen eine Liste mit dreizehn Dingen vorgelegt. Und dann haben wir gefragt: Was davon ist dir ganz persönlich besonders wichtig?

Ich habe mir die Studie angesehen. Da steht zum Beispiel „Sport machen“, „jeden Moment genießen“, „frei sein und machen, was ich möchte“, „mein religiöser Glaube“, „Leute zum Lachen bringen“, „meine Familie und die Freunde“, „Musik hören und Musik machen“ und so weiter. Was davon kreuzen junge Leute am häufigsten an?

„Familie und Freunde“ ist auf jeden Fall das, was am häufigsten angekreuzt wird. Danach ist die Rangfolge sehr vielfältig. Manche wollen frei sein, andere wollen sich künstlerisch betätigen oder politisch aktiv sein. Auch der religiöse Glaube ist manchen jungen Menschen sehr wichtig.

Angenommen ich würde bei dieser Studie mitmachen. Ich kreuze also an, was von diesen dreizehn Punkten mir am wichtigsten ist. Bei mir wäre das auch „Familie und Freunde“. Und auf Platz zwei folgte vielleicht der Punkt „zu einer Gruppe dazugehören“. Was mache ich als Nächstes?

Danach sagen wir sinngemäß: „Denken Sie bitte an Situationen, in denen diese Dinge eine wichtige Rolle in Ihrem Leben gespielt haben. Was haben Sie dabei gedacht und gefühlt?“

Okay, ich stelle mir zum Beispiel diesen Urlaub vor, im letzten Frühjahr mit meiner Großfamilie. Wir haben dafür ein Haus gemietet irgendwo im Nirgendwo. Ich habe mich da sehr wohl und aufgehoben gefühlt.

Prima. Sie schreiben zwei, drei Sätze dazu – und werden damit wieder in eine Situation zurückversetzt, wo eine wichtige Ressource in Ihrem Leben sichtbar geworden ist. Das Entscheidende ist, dass diese Punkte intrinsisch wichtig sind. Wenn ich zum Beispiel viel Tennis spiele, weil meine Eltern das unbedingt wollen – damit funktioniert es nicht. Es muss von innen kommen. Danach stellen wir noch weitere Fragen. In Ihrem Fall zum Beispiel: Wie glücklich und zufrieden sind Sie, wenn Sie an Ihre Freunde und Familie denken? Wie sehr haben Sie das Gefühl, dass die Großfamilie ein wichtiger Teil von Ihnen ist und Ihr Leben beeinflusst?

Mich macht es sehr glücklich, an meine Familie zu denken. Und klar: Natürlich ist das ein Teil von mir und etwas, das mein Leben beeinflusst.

Durch all diese Antworten machen Sie sich klar: Ja, die Familie ist wirklich ein Teil von Ihnen. Wir haben ja vorhin gesagt, dass unsere Selbstintegrität bedroht wird durch große Lebensveränderungen oder kleine Stressoren im Alltag. Mit so einer Selbstaffirmation wird Ihnen deutlich: Manche Bereiche Ihres Selbst sind sehr stabil und Ihr Selbstbild ist also gar nicht bedroht. Das führt bei vielen Menschen und in vielen Situationen dazu, dass diese Stressoren, diese Angriffe von außen viel weniger bedrohlicher erscheinen.

Ich hatte immer den Verdacht, dass Selbstaffirmation eine Art Manipulation ist und man sich selbst etwas einredet. Jetzt klingt es für mich eher so, als würde man sich dabei lediglich etwas vor Augen führen, was schon da ist. Man erinnert sich nur deutlicher daran.

Genau. Es geht hier nicht um irgendein magisches positives Denken. Man aktualisiert nur das, was ohnehin vorhanden ist.

Und wenn ich jetzt an die Übung denke, die Sie gerade mit mir gemacht haben: Klar, Sie haben die Fragen gestellt. Aber eigentlich habe ich die Selbstaffirmation gemacht. Ich habe entschieden, was mir wichtig ist. Ich habe mich an eine konkrete Situation erinnert. Und ich habe auch gesagt: Ja, das ist ein Teil von mir, das ist mir wichtig.

Auch das ist ein guter Gedanke. Ich als Wissenschaftler kann eine Selbstaffirmation zwar anstoßen, aber die eigentliche Arbeit machen die Versuchspersonen immer selbst.

Viele Ihrer Studien zur Selbstaffirmation finden an Schulen statt. Wenn ich an meine eigene Schulzeit zurückdenke: Ich habe den Übergang von der Dorfgrundschule zum Gymnasium als große Umstellung empfunden, durch die mein Selbstbild auch ein bisschen wackelig geworden ist.

Das geht vermutlich vielen so.

Bei mir ist damals alles gut gelaufen. Aber ich stelle mir jetzt ein Kind vor, das in seiner ersten Englischklausur eine Vier schreibt und dann vielleicht denkt: „Ich bin nicht gut in Fremdsprachen.“ Oder: „Ich gehöre eigentlich nicht an diese Schule.“ Wäre das ein klassischer Fall für eine Selbstaffirmation?

Möglich. Das Entscheidende ist aber, dass so eine Intervention niemals auf den Bereich des Selbst zielt, der gerade bedroht wurde. Man würde das Kind also nicht bitten, über sein Selbstbild als lernfähiges und intelligentes Wesen nachzudenken. Das geht in der Regel nach hinten los. Man affirmiert vielmehr einen Lebensbereich, der mit der Bedrohung überhaupt nichts zu tun hat – das ist das Faszinierende daran. Wir stabilisieren unser globales Selbstbild in einem Bereich, der gerade nicht bedroht ist. Und das führt im Idealfall dazu, dass sich zum Beispiel eine erhaltene schlechte Zensur weniger bedrohlich anfühlt.

Ich habe in der Forschungsliteratur gelesen, dass es bei einer Selbstaffirmation sehr auf das Timing ankommt.

Das stimmt. Selbstaffirmation funktioniert am besten kurz vor oder kurz nach einem bedrohlichen Ereignis. Am Beispiel des kleinen Jungen, der frisch ans Gymnasium kommt: Wenn ich mit der Selbstaffirmation ein Dreivierteljahr warte, wird sie nicht viel verändern. Wenn ich sie aber in den ersten Wochen des neuen Schuljahres mache, kann sie das gesamte Schuljahr positiv beeinflussen.

Woran liegt das?

Das ist ein Phänomen, das wir in unseren Studien immer wieder sehen: Eine Selbstaffirmation ist nur ein kleiner Impuls in die richtige Richtung. Aber dieser Impuls ändert unser Verhalten – und unser Verhalten sorgt wiederum dafür, dass die Welt anders auf uns reagiert. Angenommen der kleine Jochen schreibt eine Vier in seiner ersten Englischarbeit. Aber dann macht er eine Selbstaffirmation, er stabilisiert sein Selbstbild – und in der nächsten Englischstunde beteiligt er sich weiter am Unterricht und bleibt interessiert am Fach, statt sich zurückzuziehen und den erlebten Stress durch Vermeidung zu regulieren. Die Lehrkraft wird ihn anders wahrnehmen. Der kleine Jochen wird vermutlich positive Rückmeldungen bekommen, was ihn wiederum motiviert, weiter dranzubleiben und zu lernen. Deshalb sehen wir, dass eine einzige Selbstaffirmation oft über Monate hinaus wirken kann. Sie setzt eine ganze Kaskade an Rückkopplungsschleifen in Gang.

Funktioniert das auch bei Erwachsenen?

Eine aktuelle Studie hat das in der Schweiz getestet, und zwar an mehr als 500 Personen, die gerade ihren Job verloren hatten. Die Hälfte von ihnen machte eine 15-minütigen Selbstaffirmation, die andere nicht. Vier Wochen später hat man nachgesehen, wer von den Teilnehmenden einen neuen Job gefunden hatte. Diese Zahl war in der Selbstaffirmationsgruppe mehr als doppelt so hoch wie in der Kontrollgruppe.

Gelingt eine Selbstaffirmation auch, wenn ich sie nur allein für mich selbst mache als so eine Art stille Schreibübung?

Wir wissen aus den Studien, dass viele Menschen das ohnehin tun. Bei Rückschlägen und Problemen denken sie automatisch an ihre eigenen Stärken oder an die Beziehungen, die ihnen wichtig sind. Solche Menschen kommen besser durch Krisen, mit weniger Angst und depressiven Symptomen. Oder denken Sie an ein Familienfoto, das vielleicht auf Ihrem Schreibtisch steht. Das Familienfoto ist eine Selbstaffirmation. Es sagt Ihnen: Das ist meine Familie, die ist mir wichtig, das bin ich!

So gesehen sind auch Pokale, Preise und Auszeichnungen eine Art Selbstaffirmation. Sie erinnern an vergangene Erfolge und an Tätigkeiten, die einem etwas bedeuten.

Das ist durchaus möglich. Wir umgeben uns mit kleinen Dingen und mit Gegenständen, die vielleicht viel wirkmächtiger und hilfreicher sind, als wir ahnen.

Wollen Sie mehr zum Thema erfahren? Dann lesen Sie auch, wie wir in privaten und globalen Krisenzeiten den Halt nicht verlieren in Stürmische Zeiten - stabiles Ich.

Tim Müller ist promovierter Sozialwissenschaftler und Nachwuchsgruppenleiter an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er forscht unter anderem zu Selbstaffirmation bei Jugendlichen und zu radikalisierungs-bezogener Resilienz.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2025: Stürmische Zeiten - stabiles Ich