Stürmische Zeiten – stabiles Ich

Krise? Ist heute der Normalfall! Aber wie geht man damit um, ohne den Halt zu verlieren? Auf der Suche nach Beständigkeit in turbulenten Zeiten

Die Illustration zeigt eine Frau, die gedehnt mit ausgestreckten Armen und geschlossenen Augen, den Kopf nach hinten haltend, dasteht, während vor ihre Strömungen sind
Manchmal passiert alles zugleich und wir verfallen dem Stress. Dann hilft es, sich mit und nicht gegen die Veränderung zu bewegen. © Lisa Seitz für Psychologie Heute

Das Lied ist alt, doch der Text klingt brandaktuell. “I don’t have a friend who feels at ease”, dichtete der US-Songwriter Paul Simon in den 1970er Jahren auf eine Melodie, die einem Bach-Choral sehr ähnelt. Kein Kumpel mehr, der sich noch wohlfühlt in seiner Haut! Paul Simon nannte den Song American Tune. Die ganze Welt schien in Aufruhr zu sein. Krisen überall. Alles veränderte sich in rasender Geschwindigkeit. Und dann war auch noch ein Mann von zweifelhaftem Charakter zum Präsidenten gewählt worden.…

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Und dann war auch noch ein Mann von zweifelhaftem Charakter zum Präsidenten gewählt worden. Damals war es Richard Nixon, heute ist es Donald Trump. Geschichte, so scheint es, wiederholt sich. Und unsere psychologische Reaktion darauf tut das auch.

Ukraine, Palästina, Klimakrise, Rezession. Wie soll man bei diesen Nachrichten noch ruhig schlafen? So geht es vielen Menschen am Jahresbeginn. Die Welt hat augenscheinlich ihre Beständigkeit verloren – und wir wissen: Das neue Jahr wird neue Stürme bringen. Wann, so fragen wir, kommt endlich wieder Ruhe ins Leben?

Fundamental anders, aber robust flexibel

Der Gesundheitswissenschaftler Brad Stulberg hat dazu einige kluge Antworten gegeben. Master of Change heißt sein Buch. Stulberg ist überzeugt: Unser Wunsch nach Ruhe ist Ausdruck eines tiefen Irrglaubens. Denn in einem normalen Erwachsenenleben durchlaufen wir im Durchschnitt 36 sogenannte disorder events, also Ereignisse, die unseren Alltag auf den Kopf stellen: eine schwere Erkrankung, eine Trennung, eine Pandemie, eine Kündigung. All das sind Vorgänge, „die fundamental verändern, wie wir uns selbst erleben und die Welt, in der wir leben“, schreibt Stulberg. Ruhe und Beständigkeit, so die Botschaft, gab es in Wahrheit nie und es wird sie niemals geben. Stulberg und andere Fachleute kennen eine ganze Reihe von Strategien, die uns helfen, ein solch wechselhaftes Dasein zu meistern. Die erste Strategie erklärt sich am besten anhand einer Fantasyfigur:

Ein heller Blitz zuckt durch die Wohnung im Westen Englands. Ein Überfall! Als er vorbei ist, sind zwei ­Erwachsene tot. Zwei weitere Menschen kommen verletzt mit dem Leben davon: der Attentäter – und das Wickelkind der beiden Todesopfer. So beginnt die berühmte Story von Harry Potter. Als Baby überlebt er einen Mordversuch, und auf seiner Stirn bleibt eine markante Narbe in Form eines Blitzes.

Stulberg glaubt, dass wir die Lehre aus Harry Potters Narbe im Alltag zu oft vergessen. Wenn uns ein kritisches Lebensereignis heimsucht, wünschen wir uns sehnlichst, dass alles bald wieder beim Alten ist, everything back to normal steht auf dem Wunschzettel der Welt. In Wahrheit geschieht das aber nie. Alle großen Veränderungen hinterlassen Spuren. Auf unserer Haut, in unserer ­Seele, in unserem Selbst. Die innere Haltung, die diese Veränderungen akzeptiert, bezeichnet Brad Stulberg als rugged flexibility, als „robuste Flexibilität“. Wir reagieren mit Beständigkeit und Anpassungsfähigkeit zugleich – es ist vielleicht kein ­Zufall, dass der älteste erhaltene Jagdbogen der Menschheitsgeschichte aus Weidenholz gefertigt wurde, einem sehr biegsamen Naturstoff, der trotzdem über hunderte von Generationen stabil und intakt bleiben kann.

Eine Reise ohne Zurück

„Robuste Flexibilität erkennt an, dass es nach Phasen der Unordnung kein Zurück mehr gibt zum Zustand davor“, schreibt Stulberg. Nur eine Neuordnung ist möglich. Die verheilte Haut auf Harry Potters Stirn wird nie mehr so glatt sein, wie sie einmal war. Für Stulberg ist daher eine robuste ­Flexibilität die wichtigste Tugend unserer Zeit, sowohl für private Einschnitte als auch für die globalen Krisen, die wir gerade erleben. Dass dies leichter gesagt als getan ist, belegt ein klassisches Experiment aus dem Jahr 1949:

An der Harvard University erscheinen vor den Augen der Freiwilligen nacheinander mehrere Spielkarten auf einer Leinwand: eine Piksieben, ein Karoass, eine Kreuzneun. Um die Karten zu identifizieren, brauchen die Versuchspersonen kaum länger als einen Wimpernschlag: 28 Millisekunden im Durchschnitt. Doch den meisten von ihnen entgeht, dass manche der gezeigten Karten in einem gewöhnlichen Blatt überhaupt nicht vorkommen, etwa eine rote Piksechs oder eine schwarze Herzvier. Erst als man die Karten für eine viermal längere Dauer einblendet, fällt der Schwindel auf. Das Experiment von Jerome Bruner und Leo Postman aus der Nachkriegszeit beweist, wie sehr unsere Sicht auf die Welt von unseren Erwartungen bestimmt wird – und wie lange wir brauchen, um eine Veränderung in unserer Umwelt überhaupt wahrzunehmen.

Die Illustration zeigt eine nackte Frau mit einem roten Gebilde als Haare, das um sie herumwuchert
Unsere Umgebung verändert sich ständig und wächst uns über den Kopf. Doch schauen wir genau hin, finden wir unseren alten Platz – auf neue Weise.
Die Illustration zeigt eine nackte Frau mit einem roten Gebilde als Haare, das um sie herumwuchert
Unsere Umgebung verändert sich ständig und wächst uns über den Kopf. Doch schauen wir genau hin, finden wir unseren alten Platz – auf neue Weise.

Das Gehirn spart Energie – und liegt falsch

Wir ignorieren offenbar vieles, was unseren Annahmen zuwiderläuft. Heute begreift auch die moderne Hirnforschung unser Gehirn als eine Art Vorhersagemaschine. Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist, sondern wie wir sie antizipieren. Dieses Prinzip des predictive coding hat Konsequenzen für unseren Alltag. Starke Abweichungen von unseren Erwartungen kosten unser Gehirn große Mengen an Mühe und Energie. Wie fühlt sich das an?

Genau das hat jetzt eine Metastudie an der Universität Nijmegen untersucht. Alle dafür ausgewerteten Untersuchungen arbeiteten mit dem NASA Task Load Index, einem Werkzeug der US-Raumfahrtbehörde, mit dem man misst, wie anstrengend einzelne Aufgaben für uns Menschen sind. Die Daten sprechen eine deutliche Sprache: Was immer unser Gehirn viel Energie kostet, sorgt dafür, dass wir uns subjektiv „unsicher, entmutigt, gereizt, gestresst oder genervt“ fühlen, so die Studie. Das ist unsere automatische Reaktion auf die Vorhersagefehler unseres Gehirns. Deshalb belasten uns Veränderungen so sehr.

Auch hier kann uns robuste Flexibilität dabei helfen, im Inneren elastisch zu bleiben. Denn wer damit rechnet, dass alles sich wandelt, wird von Veränderungen nicht auf dem falschen Fuß erwischt. Man erwartet, dass in der großen Einkaufstüte des Lebens immer auch ein paar Pfund Leid zu finden sein werden.

Tragischer Optimismus

So tat das der Maler Serge Hollerbach (1923–2021). Mit 70 bemerkte er, dass mit seinen Augen etwas nicht stimmte. Er war nach dem Zweiten Weltkrieg aus Europa in die USA ausgewandert und dort ein erfolgreicher Maler geworden. Jetzt bekam er eine niederschmetternde Diagnose: Er litt an einer unheilbaren Makuladegeneration und würde die Welt bald nur noch sehr verschwommen wahrnehmen können.

Aber statt depressiv zu werden, malte Serge Hollerbach einfach weiter. Die teilweise Erblindung sei sogar eine Art Befreiung gewesen, verriet er kurz vor seinem Tod in einem Interview. „Wenn ich keine Details mehr malen kann, dann kann ich etwas anderes umso besser ausdrücken: mich selbst.“ Hollerbach malte fortan nicht mehr die Bilder seiner Augen, sondern die Bilder seiner Seele.

Viktor Frankl hat diese Haltung einmal als „tragischen Optimismus“ bezeichnet. Ein tragisch-optimistischer Mensch wird, wie Frankl schreibt, trotz allem „ja zum Leben sagen“.

Robuste Flexibilität entsteht also zum einen durch einen bestimmten Blick auf die Welt und das Dasein als solches. Doch sie wächst auch durch eine zweite Eigenschaft: nämlich durch eine neue Perspektive auf uns selbst.

Dem Dasein einen Sinn geben

Ein Beispiel dafür ist der schwedische Doppelolympiasieger Nils van der Poel. Als Eisschnellläufer folgte er über viele Jahre einem knallharten Trainingsprogramm. Irgendwann begann er jedoch, seine Schlittschuhe nach fünf Tagen der Arbeit für zwei Tage in der Ecke stehen zu lassen. „Ich habe versucht, ein ganz normales Leben zu führen“, schreibt Nils van der Poel in seinem Essay How to skate a 10k.

Er lernte durch seine Pausentage, dass er mehr war als nur der gefeierte Spitzensportler. Dass Hobbys wichtig sind, Freunde wichtig sind. „Als Teenager war der Sport alles für mich“, schreibt er. „Ich halte das für keine gute Sache.“ So verordnete sich van der Poel eine Art Selbsttherapie in robuster Flexibilität. Diese ließ ihn Misserfolge leichter wegstecken und den Medienhype nach gewonnenen Medaillen besser einordnen. In der Motivationspsychologie bezeichnet man van der Poels neue Einstellung zu sich selbst als „harmonische Leidenschaft“. Er identifizierte sich mit seinem Sport – und doch hatte er daneben noch andere soziale Rollen, die ihn erfüllten und die seinem Dasein einen Sinn gaben. Er setzte nicht alles auf eine Karte.

Der kanadische Psychologe Robert Vallerand hat in mehreren hundert Studien gezeigt: Solch ein Selbstbild wird besonders wichtig in Zeiten von Krisen und Veränderung. Wenn Verletzungen kommen. Wenn die Karriere endet. Oder wenn einem der Erfolg über den Kopf wächst.

Innere Werte als Kompass

Mit der Veränderung rechnen, nicht erwarten, dass wir danach noch dieselben sein werden, die Leidenschaften harmonisch über das Leben verteilen – diese Techniken machen uns flexibel. Was aber macht uns innerlich stabil? Eine Antwort darauf liefert eine neurowissenschaftliche Studie an der University of Pennsylvania. Die Psychologin Emily Falk und ihr Team legten dabei mehr als 40 Freiwillige in einen Hirnscanner. All diese Menschen verdienten ihr Geld mit einer sitzenden Tätigkeit. Während sie in der Röhre lagen, konfrontierte man sie mit bedrohlichen Aussagen: „Je mehr Sie sitzen, desto mehr schadet das Ihrem Körper.“ Oder: „Ein sitzender Lebensstil erhöht das Risiko für Diabetes, Bluthochdruck, Darmkrebs, Depression und Angstzustände.“

Normalerweise reagieren wir auf solche Botschaften nicht mit Vernunft, sondern mit einer Art Vogel-Strauß-Strategie. Wir finden Ausflüchte, um uns die Sache vom Leib zu halten, und stecken gleichsam den Kopf in den Sand. Wir denken zum Beispiel: „Diese Studien sind reine Panikmache.“ Oder: „Mich betrifft das nicht.“ Oder: „Ich habe Wichtigeres zu tun.“ Einigen Versuchspersonen hatte Emily Falk zuvor jedoch eine sogenannte Selbstaffirmationsübung verschrieben: Sie hatten einen Aufsatz über ihre core values geschrieben, die inneren Werte also, die ihnen für ihr Leben und ihr Selbstbild am wichtigsten waren.

Falks Studie zeigt, dass die Menschen nach dieser Werteübung nicht nur offener dafür waren, die als bedrohlich empfundenen Botschaften anzunehmen. Sie änderten danach auch ihr Verhalten, ernährten sich gesünder und trieben regelmäßiger Sport. Das Nachdenken über die eigene Identität hatte sie befähigt, die intuitive Vogel-Strauß-Reaktion zu überwinden und möglichen Veränderungen rational zu begegnen.

Emily Falk konnte auch nachweisen, was dabei im Gehirn vor sich geht: Wer zuvor über seine inneren Werte nachgedacht hatte, bei dem registrierte die Wissenschaftlerin eine erhöhte Aktivität in einer Region, die direkt hinter der Stirn liegt, knapp oberhalb der Nasenwurzel: dem ventromedialen präfrontalen Kortex. Diese Hirnaktivität, so folgert Falk, lässt uns „erkennen, dass Botschaften, die ansonsten bedrohlich wirken, etwas mit uns zu tun haben und wertvoll sind“.

Sobald wir uns auf unsere inneren Werte besinnen, können wir trotz aller Veränderung dieselben bleiben. Unser innerer Kompass weist uns gleichsam den Weg durch das unruhige Meer der Zeit.

„Du hast Angst“ statt „Ich habe Angst“

Dass dieser Kompass nicht immer funktioniert, lehrt uns die Geschichte des biblischen Königs Salomon. Er galt als der weiseste Monarch seiner Zeit. Doch wenn es um Liebe, Sex und Frauen ging, traf er oft katastrophale Fehlentscheidungen. Die moderne Psychologie spricht noch heute vom „Salomonparadox“, um zu beschreiben, dass wir manchmal sehr klug sein können und in anderen Phasen sehr dumm. Häufig sind es Zeiten der Veränderung, in denen unsere schwachen Seiten den Laden übernehmen. Wir stolpern dann so orientierungslos durch unser Leben, als hätte uns jemand die Augen verbunden. Wie erlösen wir uns von diesem Blindekuhspiel?

Dieser Frage hat der Sozialpsychologe Ethan Kross von der University of Michigan weite Teile seines Forscherlebens gewidmet und dabei mehrere wirksame Interventionen entdeckt. In einer Studie bat er seine Freiwilligen zum Beispiel, an eine stressige Aufgabe zu denken, die unmittelbar vor ihnen lag – und dann aufzuschreiben, was sie dazu dachten und fühlten. Die eine Hälfte sollte dies in einer Art Tagebuchform aus der Ich-Perspektive heraus tun. Diese Personen schrieben zum Beispiel den Satz: „Ich fürchte mich.“ Die andere Hälfte schrieb dagegen einen Brief an sich selbst und sprach sich dabei mit dem eigenen Vornamen an, verwendete also zum Beispiel Phrasen wie: „Tja, lieber …, ich glaube, du hast ganz schön Angst davor.“

Dieser doch winzige sprachliche Perspektivwechsel zeigte eine erstaunliche Wirkung: Die Menschen aus der Briefgruppe waren hinterher dreimal häufiger dazu bereit, die anstehende Aufgabe mutig anzugehen, statt sich vor ihr zu verkriechen. Forschende von der University at Buffalo konnten die hilfreiche Wirkung eines „selbstdistanzierenden Selbstgesprächs“ inzwischen sogar in unserem Herz-Kreislauf-System nachweisen.

In einer seiner Studien bat Kross die an dem Versuch Teilnehmenden, sich an ein besonders kränkendes Ereignis zu erinnern, das sie kürzlich erlebt hatten. Die Hälfte sollte sich die Szene allerdings so vorstellen, als wären sie „eine Fliege an der Wand“, also eine neutrale Beobachterin des Vorfalls. Auch diese Form der Selbstdistanzierung wirkte Wunder: Die Freiwilligen erlebten die ursprünglich belastende Situation viel ruhiger, klarer und differenzierter. „Unser Versuch hatte bewiesen, dass wir gut damit beraten sind, einfach mal einen Schritt zurückzutreten, wenn wir mit etwas […] ins Reine kommen möchten“, schreibt Ethan Kross in seinem lesenswerten Buch Chatter. Die Stimme in deinem Kopf.

„Nicht alles lässt uns wachsen“

Unsere Psyche ist ein Rätsel. Die Probleme von anderen Menschen durchschauen wir oft mit großer Klarheit, nur bei uns selbst versagt bisweilen der Verstand. Die robuste Flexibilität in einem chaotischen Leben erreichen wir dann, wenn wir Selbstdistanzierung üben – und unsere eigene Situation von außen betrachten, als wäre sie einem anderen Menschen widerfahren.

Dass man diese Haltung noch radikaler betreiben kann, zeigt ausgerechnet das persönliche Schicksal von Brad Stulberg selbst. Im Jahr 2017 wird er auf einmal von merkwürdigen Gedanken heimgesucht: „Was, wenn ich mir selbst etwas antue? Was, wenn ich anderen etwas antue? Werde ich verrückt?“, so schreibt er rückblickend über sich in der New York Times. Die Gedanken kommen immer wieder und Stulberg kann sie weder abstellen noch kontrollieren. Es hilft ihm nicht, das Leben als permanenten Fluss von Veränderungen anzuerkennen, Leid als eine Konstante des Lebens zu sehen, über seine inneren Werte nachzudenken oder Selbstdistanzierung zu üben.

„Ich konnte keinen Sinn in meiner Zwangsstörung sehen“, gesteht er. Seine Therapeutin vermittelt ihm die entscheidende Einsicht: „Nicht alles im Leben ergibt einen Sinn. Nicht alles lässt uns wachsen. Warum muss alles, was du erlebst, eine tiefere Bedeutung haben? Warum kann es nicht einfach ätzend sein?“

Kein Zweifel: Manche Veränderungen treffen uns so fundamental, dass die Tricks der Psychologie dagegen zunächst wenig ausrichten können. Dann, so schreibt Brad Stulberg, hilft nur Geduld. Studien belegen das für traumatische Erlebnisse: In den ersten drei Monaten geht es allen Betroffenen schlecht. Danach wird es für weit mehr als die Hälfte von ihnen Schritt für Schritt wieder besser. Ganz von selbst. „Die robuste Flexibilität akzeptiert, dass die Dinge sich manchmal sinnlos anfühlen und wir unserem psychischen Immunsystem die Zeit geben müssen, die es braucht, um effektiv seine Arbeit zu verrichten.“

Ehrfurcht als Gegenmittel

Stulberg beschreibt die Haltung dahinter als eine Art innerer Kapitulation. Man hört auf, sich selbst reparieren und die Situation aktiv ändern zu wollen. Man vertraut darauf, dass die Zeit alle Wunden heilt. Dies mag wie ein Tipp unserer Großmütter klingen und doch passt er perfekt zu den neueren Erkenntnissen aus der Emotionspsychologie.

Diese besagen, dass unsere Probleme manchmal kleiner werden, wenn unser Ich kleiner wird, wenn wir uns also nicht mehr selbst für den Mittelpunkt des Universums halten. Dieses Gefühl überkommt uns zum Beispiel im Angesicht verschneiter Alpengipfel oder majestätischer Fjorde. Im Englischen nennt man diesen Zustand awe, was im Deutschen nur halbtreffend mit „Ehrfurcht“ übersetzt wird.

Eines der wichtigsten Begleitsymptome von awe besteht darin, dass wir uns selbst für ein paar Augenblicke klein und unbedeutend vorkommen. Wenn man Menschen, während sie awe erleben, in einen Hirnscanner legt, sieht man, dass mehrere Gehirnregionen ihre Aktivität herunterfahren. Sie alle gehören zum sogenannten default mode network, das unter anderem unser Selbstbild repräsentiert. In der Fachsprache spricht man vom small self effect. Der Sänger Reinhard Mey hat ihn besungen in seinem bekanntesten Lied Über den Wolken. Wenn wir durch die Lüfte schweben, werden nicht nur wir selbst, sondern auch unsere Probleme „plötzlich nichtig und klein“.

Auch im Körper lässt sich dieser Mechanismus nachweisen. Eine Studie aus dem Jahr 2015 entdeckte, dass durch die Adern von Menschen, die awe erleben, weniger Interleukin fließt, ein Molekül, das Hinweise liefert auf Stress und innere Entzündungen. Was kann man tun, um sich in so einen Zustand der inneren Ehrfurcht zu bringen?

Die Antwort fand der Psychologe Dacher Keltner in einem beeindruckend schlichten Experiment: Er bat Senioren und Seniorinnen, regelmäßige Spaziergänge zu unternehmen. Die Hälfte von ihnen bekam eine Zusatzanweisung: Sie sollten ihre Route in der Nähe von Seen, Flüssen oder am Meer wählen oder sich in Wäldern oder Parks bewegen. Keltner ermunterte sie, bewusst innezuhalten, wenn sich irgendwo ein beeindruckender Ausblick bot, und Pausen einzulegen, um die Blätter eines Baumes zu betrachten, mit all ihren feinen Zacken, Mustern und inneren Verästelungen. Der Blick auf die kleinen Wunder der Welt bewirkte tatsächlich ein kleines psychologisches Wunder. Von Woche zu Woche erlebten die Versuchspersonen mehr awe, sie fühlten sich weniger niedergeschlagen und verspürten im Alltag zunehmend weniger Stress. Momente der Ehrfurcht machen uns offenbar stabil genug, um mit den Veränderungen klarzukommen, die das Leben uns auferlegt.

In der Herde gut aufgehoben

Brad Stulberg vermutet, dass Ehrfurcht und Akzeptanz noch einen zweiten, mindestens ebenso wichtigen Effekt nach sich ziehen: Wer nicht mehr daran glaubt, Krisen schnell und aus eigener Kraft lösen zu können, wird auch eher bereit sein, andere um Unterstützung zu bitten. So aktivieren wir die vielleicht wichtigste Superpower, welche die Natur unserer Spezies geschenkt hat: die Hilfe von Menschen, die es gut mit uns meinen.

Allein ihre Anwesenheit macht uns stabiler, wie neuere Studien zeigen: Fitnesskurse senken unseren Stresslevel deutlich stärker, wenn wir sie in der Gruppe absolvieren. Gottesdienstbesuche senken in Lebenskrisen die Entzündungswerte im Blut. Synchrones Tanzen mit anderen macht uns weniger empfindlich für Schmerzen. Am Ende sind es stets auch die Familie, Freunde und Bekannte, die unser Ich stabil halten in den Stürmen, die das neue Jahr uns bringt. Der robust-flexible Mensch weiß genau, dass auch er am Ende nichts anderes ist als ein Herdentier.

Wollen Sie mehr zum Thema erfahren? Dann lesen Sie auch, welche Tipps Sozialwissenschaftler Tim Müller finden konnte, um mit Veränderungen klarzukommen in „Die Liste der wichtigsten Dinge im Leben“.

Selbsttest: Wie hoch ist mein Stressrisiko?

Was hat sich im vergangenen Jahr verändert? Welche Veränderungen stehen kurz bevor? – Machen Sie den Test und erfahren Sie, wie hoch ihr Stressniveau ist:

Ereignis

Punkte

Trifft bei mir zu

Tod des Partners/der Partnerin

100

Scheidung/Trennung

70

Tod eines/einer nahen Angehörigen

63

Schwere Verletzung/Unfall/Krankheit

53

Heirat

50

Jobverlust (Kündigung)

47

Renteneintritt

45

Krankheit/Verletzung eines nahen Familienmitglieds

44

Schwangerschaft

40

Probleme beim Sex

39

Große Veränderung in den eigenen Finanzen

38

Tod eines guten Freundes/einer guten Freundin

37

Große Veränderung im Job

36

Starke Veränderung in der Anzahl von Streitigkeiten mit Partner/Partnerin

35

Auszug eines Kindes

29

Herausragender Erfolg

28

Schule/Ausbildung beginnen oder beenden

26

Ärger mit Vorgesetzten

23

Umzug

20

Meine Gesamtpunktzahl

Auswertung

Die Punktwerte sind Auszüge aus der klassischen Stressskala von Holmes und Rahe. Diese nennt nur einen Teil der möglichen Belastungen, liefert aber dennoch erste Hinweise auf unser aktuelles Stressniveau. Je mehr sich innerhalb kurzer Zeit verändert, desto größer wird in der Regel auch der Stress, dem wir ausgesetzt sind. Ab einer Gesamtpunktzahl von 170 Punkten ist bei Ihnen die Anfälligkeit für Krankheiten vermutlich erhöht. Zwischen 85 und 170 Punkten ist sie vermutlich leicht erhöht.

Quellen

Jerome Bruner, Leo Postman: On the perception of incongruity: A paradigm, Journal of Personality, 18, 1949, 206–223

Louise David u.a.: The unpleasantness of thinking: A meta-analytic review of the association between mental effort and negative affect, Psychological Bulletin, 150/9, 2024, 1070–1093

Emily Falk u.a.: Self-affirmation alters the brain’s response to health messages and subsequent behavior change, PNAS, 112/7, 2015, 1977–1982

Viktor Frankl: ... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. Penguin 2018

Thomas Holmes, Richard Rahe: The Social Readjustment Rating Scale. Journal of Psychosomatic Research, 11/2, 1967, 213–218

Gail Ironson u.a.: The relationship between religious and psychospiritual measures and an inflammation marker (CRP) in older adults experiencing life event stress, Journal of Religion and Health, 57, 2018, 1554–1566

Dacher Keltner: Awe: The Transformative Power of Everyday Wonder. Penguin 2024

Ethan Kross: Chatter. Die Stimme in deinem Kopf. Wie wir unseren inneren Kritiker in einen inneren Coach verwandeln. btb 2022

Tim Müller u.a.: Determinanten radikalisierungsbezogener Resilienz im Jugendalter. Entwicklung eines Interventionstoolkits zur Förderung der Resilienz gegenüber rechtsextremen und radikal-islamistischen Ideologien. Ergebnisbericht und Handreichung für Praktiker:innen der Extremismusprävention. Humboldt-Universität zu Berlin 2023

Bronwyn Tarr, Jacques Launay, Robin IM Dunbar: Silent disco: dancing in synchrony leads to elevated pain thresholds and social closeness, Evolution and Human Behavior, 37/5, 2016, 343–349

T. Moritz Schladt u.a.: Choir versus solo singing: Effects on mood, and salivary oxytocin and cortisol concentrations, Frontiers in Human Neuroscience, 11/2017, 430

Lindsey Streamer u.a.: Not I, but she: The beneficial effects of self-distancing on challenge/threat cardiovascular responses, Journal of Experimental Social Psychology, 20/2017, 235–241

Brad Stulberg: Master of change: How to excel when everything is changing – including you. HarperOne 2023

Robert Vallerand: The psychology of passion: A dualistic model. Oxford University Press 2015

Dayna Yorks u.a.: Effects of group fitness classes on stress and quality of life of medical students, Journal of the American Osteopathic Association, 117/11, 2017, e17

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2025: Stürmische Zeiten - stabiles Ich