Warum E-Scooter besser sind als ihr Ruf

E-Roller liegen überall rum. Wer nutzt sie und was bringen sie für die Mobilitätswende? Der Verkehrspsychologe Tibor Petzold im Interview.

Die Illustration zeigt einen Radfahrer, der einer E-Scooter-Fahrerin entgegenfährt, die auf ihr Smartphone schaut
E-Scooter lassen sich leichter im öffentlichen Nahverkehr und im Auto transportieren als Fahrräder. © Matthias Schütte für Psychologie Heute

Herr Petzoldt, seit einigen Jahren gehören die E-Roller oder E-Scooter, wie sie auch heißen, zum Stadtbild vieler Großstädte und sind seitdem Gegenstand ständiger Debatten. Wie kann ein einfaches Fahrgerät nur so viele Emotionen entfachen?

E-Scooter sind neu, anders und passen nicht in die bestehende Infrastruktur. Sie passen aber auch nicht in unsere Vorstellung, wie Verkehr funktioniert.

Warum nicht?

Wir haben eine recht klare Vorstellung, wie der Verkehrsraum aufgeteilt ist und wem er „gehört“. Es gibt die…

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eine recht klare Vorstellung, wie der Verkehrsraum aufgeteilt ist und wem er „gehört“. Es gibt die Straße für Autos und die Gehwege für Fußgänger. Schon wenn Radwege fehlen, tun wir uns schwer. Die Radfahrerinnen sind den Autos im Weg und auf den Gehwegen stören sie die Fußgänger. Vielerorts gibt es zum Glück inzwischen eine Radinfrastruktur, wir haben also das Fahrrad irgendwie untergebracht. Und dann kommt wieder so ein neues Ding, das nicht so richtig reinpasst!

Die E-Scooter teilen sich doch im Idealfall mit den Fahrrädern die Radwege.

Und da fangen die Probleme an: Auf freier Strecke sind sie ein bisschen langsamer als Radfahrerinnen und Radfahrer, harmonieren mit diesen also nicht wirklich. Sie werden aber auch auf Gehwegen gefahren und geparkt. Und dort, wo es keine Radwege gibt, fahren sie auf der Straße. Dort passen sie aber erst recht nicht hin, unter anderem weil sie zu langsam sind. Egal wo wir sie einsortieren wollen, sie fügen sich nicht so hundertprozentig ein. Die meisten empfangen solch neue Fahrzeuge deshalb nicht mit offenen Armen.

Wer nutzt die E-Scooter denn überhaupt?

Vor allem junge Männer. Und das prägt auch die Sichtweise auf die Gruppe der E-Scooter-Fahrer. Würden vor allem Rentnerinnen die Elektroroller nutzen, würden wir anders über die Roller reden. Aber so nutzen sie junge Leute, die dabei auch noch Spaß haben. Spaß haben, das geht nämlich gar nicht!

Warum stehen denn vor allem junge Männer auf den E-Scootern? Sind die einfach technikaffiner und können mit der App umgehen, die es braucht, um die Fahrzeuge zu bedienen?

Das hat wohl mehr mit einem subjektiven Sicherheitsgefühl im Verkehr zu tun. Junge Männer trauen sich tendenziell eher zu, etwas auszuprobieren, das gefährlich sein könnte. Selbst Fahrräder werden häufiger von Männern genutzt als von Frauen.

Warum wollen sich erwachsene Menschen überhaupt wieder auf einen Roller stellen?

Das hängt ganz davon ab, ob die Leute die Roller ausleihen oder besitzen. Nehmen wir die E-Scooter-Besitzer: Deren Zahl wächst. Das sind auch primär Männer, aber sie haben ein ganz anderes Nutzungsverhalten: Meist pendeln sie damit zur Arbeit. Sie fahren in der Regel längere Strecken als die Nutzerinnen und Nutzer von Leihrollern, das wissen wir aus Befragungen.

Warum steigen sie dann nicht einfach aufs Fahrrad?

Die Roller lassen sich leichter im öffentlichen Nahverkehr transportieren, ebenso im Kofferraum eines Autos. Manche ziehen die Roller auch dem Fahrrad vor, um nicht verschwitzt bei der Arbeit anzukommen. Die Fahrten mit E-Scootern ersetzen deshalb nicht unbedingt Fahrten mit dem Fahrrad, sondern werden mit anderen Verkehrsmitteln neu kombiniert, was vorher eben nicht ging.

Und was ist mit denen, die sich einen Elektroroller ausleihen?

Das sind oft Touristen und Touristinnen, die mal hierhin, mal dorthin wollen, ohne ständig den U-Bahn-Plan studieren zu müssen. Auch viele Gelegenheitsnutzer sind dabei. Allerdings sind Regelkenntnis und Erfahrung mit dem Fahrzeug noch eher gering. Der Nutzer, der seinen eigenen, privaten E-Scooter regelmäßig fährt, kennt seine Strecken und sein Gerät, er hat auch häufig einen Helm auf. Bei der Leihrollernutzung ist das meist nicht der Fall. Die regelmäßigen Nutzer machen das den anderen gerne zum Vorwurf, wie wir aus Umfragen wissen, und grenzen sich deshalb von ihnen ab.

Nehmen sich Leihrollernutzerinnen und -nutzer eher spontan einen Elektroroller, weil er gerade vor ihnen steht, oder suchen sie gezielt nach dem nächsten Roller?

Die wenigsten planen ihre Wege von vornherein durch. Eher ist es so: Es gibt die Option und als solche wird sie auch wahrgenommen. Ein junger Mensch, der abends in der Stadt ausgeht, steht häufig vor dem Dilemma, dass nach Mitternacht Bus und Bahn selten oder gar nicht mehr fahren. Womöglich hat er gar keinen fixen Plan, den E-Scooter für den Heimweg zu nutzen, hat aber vielleicht die passende App dafür, und das Fahrzeug steht praktisch direkt vor ihm. Leute, die einmal drin sind im System, nutzen die Elektroroller eher, denn sie müssen sich keine Gedanken darüber machen, wie sie funktionieren.

Ein Hauptgrund für die Einführung der E-Scooter war, den Verkehr nachhaltiger zu gestalten: Wenn Menschen die Möglichkeit erhalten, die letzte Meile zu überbrücken, also etwa den Weg vom Bahnhof zur Wohnung oder zur Arbeitsstelle, dann steigen sie ja vielleicht um vom Auto auf die öffentlichen Verkehrsmittel. Ist das Kalkül aufgegangen?

So richtig gut geklappt hat es nicht. Meistens ersetzen die ­E-Scooter-Fahrten Fußwege. Die Erwartung war aber auch etwas naiv.

Warum?

Das System funktioniert nur deshalb, weil die Dinger überall rumstehen. Aber das tun sie in der Regel nur dort, wo viele Leute sind – und gerade dort funktionieren auch die öffentlichen Verkehrsmittel. Auf der vielbeschworenen letzten Meile platzieren die Anbieter sie deutlich seltener, also zum Beispiel an der Endstation einer S-Bahn-Linie. Denn sie wollen ja Masse machen, damit sich das Geschäft lohnt. Inzwischen versuchen Städte auch, dieser Problematik mit entsprechenden Verpflichtungen der Anbieter entgegenzuwirken. Es gibt aber noch einen anderen Grund, warum es völlig naiv ist, zu glauben, E-Scooter könnten schon kurzfristig einen durchschlagenden Effekt für den Klimaschutz haben.

Welchen denn?

Die allerwenigsten werden ihr Auto verkaufen, weil sie auf einmal die Option haben, die letzte Meile zu überbrücken. Solange sie das Auto weiterhin für bestimmte Wege brauchen, werden sie es behalten. Und wenn ich sowieso schon TÜV, Versicherung und Reparaturen bezahle, dann werde ich auch nicht permanent auf Roller oder öffentliche Verkehrsmittel umsteigen.

Ist das Konzept E-Scooter schon gescheitert?

Langfristig kann es durchaus funktionieren. Nehmen wir die Leute, deren Auto kaputtgeht oder die darüber nachdenken, sich ihr erstes Auto anzuschaffen – und sich dann dagegen entscheiden, weil sie noch andere Optionen haben. Wenn ich das Auto einmal habe, ist die Hürde höher, es abzuschaffen. Auch wenn es dauert: Es wird einen Wandel geben, weil es in der Summe ein besseres Alternativangebot zum eigenen Auto gibt – unter anderem wegen der E-Scooter.

Aber bislang ersetzen sie ja in erster Linie Fußwege, wie Sie sagen. Ist es verwerflich, sie auf diese Weise zu nutzen?

Solange die Gesellschaft akzeptiert, dass Leute mit dem Auto um die Ecke zum Brötchenholen fahren oder Städte mit Autos zugeparkt sind, fällt es mir schwer, dem E-Scooter vorzuwerfen, dass er Fußwege ersetzt. Wenn sich Leute dafür entscheiden, dann sollten wir das akzeptieren.

Einige nutzen E-Scooter auch für Fahrten, die sie ansonsten überhaupt nicht unternommen hätten. Einer Umfrage des ADAC zufolge ist das jede siebte Fahrt mit einem E-Scooter, die sogenannten Spaßfahrten.

Ja, das deckt sich auch mit unseren Befragungen. Nur: Dürfen die Leute denn keinen Spaß haben? Andere fahren am Wochenende mit dem Cabrio oder Motorrad raus, wenn die Sonne scheint, gehen irgendwo Mittagessen und fahren dann wieder nach Hause. Und das nehmen wir selbstverständlich hin.

Wer im Netz nach dem Begriff „e-scooter“ sucht, bekommt Ergebnisse wie diese: „Betrunken mit dem E-Scooter in den Graben“, „Unter Drogeneinfluss mit E-Scooter unterwegs“, „Treppensturz mit E-Scooter“. Das erweckt fast den Eindruck, dass die Roller Anarchie in die Städte gebracht haben.

Weil E-Scooter neu sind, stürzen sich die Medien auf jeden Einzelfall. Auch wenn jeder einzelne davon natürlich zu viel ist: Unfälle passieren auch mit dem Auto, auch unter Alkoholeinfluss und in allen möglichen merkwürdigen Situationen. Auch Betrunkene auf dem Rad fallen regelmäßig um. Darüber berichten die Medien aber kaum noch, ganz einfach weil wir uns damit abgefunden haben, dass es passiert.

Sind E-Scooter nicht viel anfälliger für Unfälle?

Dazu fehlen uns aktuell noch verlässliche Daten. Aber richtig ist: Es gibt schon bestimmte Faktoren, die den E-Scooter tendenziell unsicherer machen: Die kleinen Räder können auf Kopfsteinpflaster oder einem Bordstein leichter ausbrechen als die eines Fahrrads. Und die Unerfahrenheit mit dem Fahrzeug, die wir vorhin schon thematisiert haben, spielt bei den Leihrollern eine Rolle. Mit der Zeit dürfte es aber besser werden.

Inwiefern?

Dann nimmt die Erfahrung zu und Außenstehende können die E-Scooter im Verkehr besser einschätzen. So ist es auch mit dem Fahrrad. Die Statistik sagt uns: Je mehr Fahrräder es gibt, desto verhältnismäßig weniger Unfälle passieren. Denn dann rechnen Autofahrerinnen und Autofahrer auch mit Fahrrädern. Wenn sie aber an anderen Orten unvermittelt auftauchen, wird es gefährlicher.

Genauso ist es mit dem E-Scooter, der zwar ähnlich aussieht wie ein Fahrrad, aber anders fährt, beschleunigt und schnell ist und dementsprechend nicht in unsere Erwartungen passt. Was der E-Scooter-Fahrer tun oder lassen wird: Diese Muster in unserem Kopf müssen sich erst ausbilden. Hinzu kommt, dass Nutzer von E-Scootern häufiger auf den Gehwegen unterwegs sind als Radfahrer. Und das führt natürlich zu mehr Konflikten.

Unter anderem weil die E-Scooter schlampig geparkt werden, herumliegen und die Wege versperren. Warum ist das eigentlich so? Die Leute legen ja auch ihre Fahrräder nicht quer über den Gehweg.

Ich vermute, dass diejenigen, die die Dinger umwerfen, weniger die Fahrer sind als diejenigen, die sich darüber ärgern, dass die Roller überall stehen. Nichtsdestotrotz ist es natürlich ein Problem, dass sie an ungünstigen Stellen herumstehen. Einige Städte wie Berlin versuchen das inzwischen einzuschränken. Zum Beispiel das Abstellen nur in bestimmten Zonen möglich zu machen.

Aber das nimmt dem E-Scooter doch den eigentlichen Reiz – ihn überall und jederzeit nutzen zu können?

So ist es. Ich habe da auch keine Patentlösung. Vielleicht wäre es eine gute Idee, mehr Parkflächen für die E-Scooter zu schaffen. Zum Beispiel alle 100 Meter an einer Straße einen Parkplatz umzuwidmen. Auf dem könnten dann fortan statt eines SUVs zehn E-Scooter Platz haben. Berlin verfolgt diesen Ansatz.

Will die Bundesregierung die Nutzung von Elektrorollern eigentlich befördern oder nicht?

Das haben wir als Gesellschaft noch nicht richtig geklärt. Beim Fahrrad sind wir uns einig, dass wir das wollen, Radfahren ist ja nachhaltig und gesund. Für die E-Scooter gibt es noch keinen gesellschaftlichen Konsens. Da sind wir ambivalent. Wenn wir uns dafür entscheiden, dass die E-Scooter bleiben sollen, dann sollten wir für ein freundliches Miteinander im Verkehr sorgen. Heißt: an der Akzeptanz arbeiten. Zum Beispiel über mehr ausgewiesene Parkflächen oder Radwege.

Haben die E-Scooter denn überhaupt eine Zukunft in Deutschland?

Soweit man das aus den Zahlen ablesen kann, wächst die Zahl an Personen, die selbst einen E-Scooter besitzen und regelmäßig nutzen. Ob Investoren auch in Zukunft bereit oder in der Lage dazu sind, außerhalb der Großstädte mit viel Tourismus E-Scooter anzubieten, kann ich nicht vorhersagen. Dort wird es sicher eine Konsolidierung geben.

Wie viele Anbieter übrigbleiben, ist schwer zu sagen. Vielleicht braucht es auf Dauer den Einstieg der Kommunen. Sie könnten E-Scooter in den öffentlichen Nahverkehr integrieren und diesen damit attraktiver machen. Dann könnten die Leute alles mit der gleichen App oder der gleichen Chipkarte nutzen: S-Bahn, U-Bahn, Tram und E-Scooter, ja vielleicht auch E-Bikes. Erste Städte wie München und Berlin experimentieren bereits erfolgreich mit solchen Ansätzen.

Tibor Petzoldt ist Professor für Verkehrspsychologie an der Technischen ­Universität Dresden. Auf einem ­E-Scooter stand er bislang nur bei einer Lehrveranstaltung. Er fährt bevorzugt mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Auf einem Fahrrad saß er zuletzt vor 15 Jahren.

Quelle

Juliane Anke u.a.: Präventionsmaßnahmen für E-Scooter-Nutzer:innen. Forschungsbericht Nr. 87, herausgegeben vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V., Unfallforschung der Versicherer, Berlin 2022

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2023: Bei sich ankommen