Wie wir Tagträume positiv nutzen können

Tagträumen hat in der Leistungsgesellschaft einen negativen Ruf. Dabei kann gedankliches Abschweifen auch positive Auswirkungen haben.

Ein Mann überquert mit seiner Einkaufstasche und seinem Hund einen Zebrastreifen, während ein gelbes Auto gerade angefahren kommt
Aus einem Auto dröhnt Musik, die uns an ein Erlebnis erinnert - und schon beginnen wir mit dem Tagträumen. © Maria Hergueta für Psychologie Heute

Das Zielobjekt hat soeben die Wohnung mit den Geiseln verlassen, Detective“, kommt es verrauscht aus dem Hörer. „Wir könnten sie jetzt befreien, aber die Rückkehr des Zielobjektes könnte die Mission gefährden.“ „Überlassen Sie das ruhig mir, Officer“, sage ich und renne los.

Die Gäste um mich herum klatschen. Ruckartig erwache ich aus meinem Tagtraum. Ich befinde mich bei einer Veranstaltung im Rathaus. Von der Rede der Bürgermeisterin habe ich kein Wort mitbekommen.

„Hör auf zu träumen!“ Diese Aufforderung…

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Diese Aufforderung habe wohl nicht nur ich schon dutzende Male gehört. Tagträumen gehört mit Popeln, Kippeln und Gähnen auf die Liste der Dinge, die wir uns schleunigst abgewöhnen sollen, sobald wir in die Schule kommen und mit den Anforderungen der Leistungsgesellschaft konfrontiert werden. Der Hang zum Tagträumen steht für Faulheit, zeugt von Langeweile und scheint zu nichts nütze zu sein – vergeudete Zeit also, lernen wir.

Mehr noch: In einer Studie von Matthew Killingsworth und Daniel Gilbert kam heraus, dass uns Abschweifen unglücklicher macht als Fokussiertsein – vielleicht weil man sich ärgert, schon wieder „nichts Sinnvolles“ getan zu haben.

Wenn Tagträumen aber wirklich so schlecht ist wie sein Ruf, warum rutschen wir laut Killingsworth und Gilbert dann täglich bei etwa der Hälfte unserer Tätigkeiten in solche Phasen, verbringen also viel Zeit damit?

Tagträume enstehen spontan und ohne Auslöser

Ich spreche mit Lena Steindorf, Postdoktorandin in der Arbeitsgruppe „Allgemeine Psychologie und kognitive Selbstregulation“ der Universität Heidelberg.

Zuerst klären wir die Begrifflichkeiten: Das Phänomen, dass die Gedanken mal hierhin, mal dorthin schweifen – losgelöst von dem, was kurz zuvor noch Priorität hatte –, wird in der Psychologie als mind-wandering bezeichnet (siehe Definition unten). Das Mittagessen, der verlorene Socken, das neue Buch, aber auch der Aufbau einer Präsentation, die Krebsdiagnose der Mutter oder Schlussmachpläne mit der Partnerin – alles kann zum Inhalt von Mind-Wandering werden und im Prinzip kann dieses Tagträumen bei jeder Tätigkeit auftreten. „Meist dreht es sich aber um Sorgen, ungelöste Probleme oder Pläne, die einen selbst betreffen. Und häufig sind es Gedanken, die in die Zukunft greifen“, erläutert Steindorf.

Was alle Tagträume eint: Sie sind aufgabenunbezogen und selbstgeneriert. Das bedeutet: Sie haben nichts mit der Aufgabe oder Tätigkeit zu tun, mit der man gerade eigentlich befasst ist, und entstehen ohne konkreten Auslöser spontan in uns. Das macht es schwierig, sie in Laborsituationen zu erzeugen.

Steindorf stellte Versuchspersonen deshalb dröge Aufgaben und fragte sie währenddessen regelmäßig, ob sie gerade über etwas anderes als die Aufgabe nachdächten.

Ist Tagträumen gefährlich?

„In jedem unserer Experimente haben wir gesehen, dass die Leistung bei der eigentlichen Aufgabe schlechter wird, je häufiger Personen gedanklich abschweifen.“ Das kann zu einem negativen Blick auf Tagträume führen: „Der schlechte Ruf von Tagträumen kommt also nicht von ungefähr“, erklärt Steindorf.

Auch andere Studien zeigen solche Ergebnisse: In einem Experiment von Jonathan Smallwood und Kollegen hatten Personen, die viel mit ihren Gedanken abschweiften, mehr Schwierigkeiten, den Täter in einer Krimigeschichte zu identifizieren.

Doch nicht alle Leistungseinbußen durch gedankliches Abschweifen sind so harmlos. Sind Personen beispielsweise in Gedanken nicht mehr mit dem Autofahren beschäftigt, reagieren sie oft deutlich später auf Gefahrensituationen, konnten Studien belegen.

Vor diesem Hintergrund verstehe ich, wieso mein Hang zu teils sehr fantasievollen Tagträumen in meiner Schulzeit ein solches Hindernis dargestellt hat. Denn mit den Tagträumen kam das Stigma, „nie richtig bei der Sache“ zu sein. Und das nicht ohne Grund: Meine Tagträumereien rissen mich manchmal derart aus der Realität, dass ich einen großen Teil des Unterrichts nicht mitbekam. Erst nach mehrfacher Aufforderung meiner Klassenlehrerin kehrte ich ins Diesseits zurück.

Oft realisieren wir nicht, dass und wovon wir träumen

Deshalb wurde bei mir zunächst eine Schwerhörigkeit vermutet, woraufhin ich am Trommelfell operiert wurde. Nur um im Nachhinein festzustellen, dass ich abgelenkt war – nicht schwerhörig. Meine Welt ist eben voller Geschichten, und wenn mir die, die gerade erzählt wird, nicht gefällt, springe ich einfach in eine andere.

Die Schlussfolgerung zu ziehen, dass abschweifende Gedanken immer etwas Schlechtes sind, hält Steindorf jedoch für „nicht ganz fair“. Die negativen Folgen abschweifender Gedanken seien über Fehlerquoten, Geschwindigkeit und Leistungsabfall leicht zu erheben, erklärt sie mir. „Doch um den Nutzen abschweifender Gedanken zu demonstrieren, muss man sich den genauen Inhalt der Gedanken anschauen, und der kann selbst der abschweifenden Person nicht immer ganz klar sein.“

Um solche Prozesse wissenschaftlich erfassen zu können, wären aufwendige Methoden erforderlich. Tausende Gedankenbeschreibungen müssten erfasst und kategorisiert und die Teilnehmenden über Wochen hinweg begleitet werden. Deswegen konzentrieren sich die meisten Studien zu Tagträumen auf deren negative Auswirkungen – was wiederum den negativen Blick auf das Tagträumen fördert.

Kreativität durch Mind-Wandering?

Doch Tagträume sind nicht nur Gegenstand der Kognitionsforschung. Mathias Benedek, Assistenzprofessor und Leiter der psychologischen Forschungsgruppe „Kreativität und Innovation“ an der Uni Graz, beschäftigt sich mit dem Zusammenspiel von abschweifenden Gedanken und kreativem Denken. Wir verabreden uns zu einem Zoom-Gespräch.

Mind-Wandering hat durchaus eine Funktion und stellt nicht nur den Leerlauf des Gehirns dar“, betont Benedek. „Wenn wir gerade kognitive Ressourcen übrighaben, setzen wir diese oft spontan ein, um uns mit ungelösten Problemen zu beschäftigen.“ Eine besondere Rolle spielen Tagträume dabei für die Kreativität: „Mind-Wandering stellt an und für sich schon eine kreative Aktivität dar“, betont Benedek.

Man kennt Anekdoten wie die von Paul McCartney von den Beatles: Die Melodie zum Hit Yesterday soll ihm morgens im Bett eingefallen sein. Oder die Geschichte von Peter Higgs, der beim Wandern auf die Idee zu einer Elementarteilchentheorie kam, für die er später mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet wurde.

Vom Nutzen des täglichen Träumens

Dass man bei Tätigkeiten wie Spülen oder Wandern, die unsere Aufmerksamkeit kaum fordern, häufiger auf neue Ideen kommt, lässt sich auch empirisch bestätigen. In einer Studie mit Physikerinnen und Schriftstellern zeigte sich, dass diese einen Großteil ihrer kreativen Ideen in Situationen hatten, in denen sie eigentlich mit etwas anderem beschäftigt waren. Benedek erklärt dies damit, dass unser Gehirn „eine Problemlösemaschine“ sei. „Dinge, die persönlich nicht abgeschlossen sind, bleiben für uns weiter präsent. Unsere Gedanken schweifen dann öfter dahin.“

Ist Tagträumen also nun Fluch oder Segen? „Beides!“, sagt Steindorf. Mind-Wandering schade uns „in Situationen, in denen wir es uns nicht leisten können, und mit Inhalten, die uns eher belasten oder verletzen, als dass sie uns helfen“. Ein Beispiel: In einer Prüfungssituation innerlich mit Sorgen um die Partnerschaft beschäftigt zu sein ist sicherlich weniger hilfreich, als sich abends beim Putzen damit auseinanderzusetzen.

In angemessenen Kontexten kann Tagträumen ein mächtiges Werkzeug sein, Emotionen zu regulieren, den Alltag zu planen, sich mental auf bestimmte Situationen vorzubereiten und Probleme kreativ zu lösen.

Welche Arten von Mind-Wandering gibt es?

Solche Tagträume zählen nach Jerome Singer, dem Begründer der heutigen Mind-Wandering-Forschung, zu den positiv-konstruktiven Tagträumen. Oft erleben wir solche kreativ-spielerischen Überlegungen mit allen Sinnen, wenn wir uns beispielsweise ausmalen, wie wir nach der Arbeit unser Lieblingssandwich zubereiten und genüsslich hineinbeißen werden.

Neben den positiv-konstruktiven Tagträumen benannte Jerome Singer jedoch noch zwei andere Kategorien des Mind-Wandering: schuldig-dysphorisches Tagträumen sowie abschweifende Gedanken, die durch mangelhafte Aufmerksamkeitskontrolle entstehen.

Schuldig-dysphorische Tagträume sind meist belastende und grüblerisch geprägte Fantasien. Diese können sich um Ängste, belastende Ereignisse und Schuldgefühle drehen und treten häufig obsessiv und regelmäßig auf.

Anders als beim positiv-konstruktiven Tagträumen geht es beim schuldig-dysphorischen Tagträumen nicht um eine Bearbeitung und mögliche Lösung von Problemen. Im Gegenteil – es kann klinische Ausmaße annehmen und Teil psychischer Erkrankungen wie Depressionen und generalisierter Angststörungen sein.

Maladaptive Träume

Abschweifende Gedanken durch mangelhafte Aufmerksamkeitskontrolle hingegen sind oft keine ausformulierten Vorstellungen, eher „Gedankenschnipsel“. So können wir in einem Moment in eine E-Mail vertieft sein, im nächsten Moment darüber nachdenken, wann wir unsere Pflanzen eigentlich das letzte Mal gegossen haben, und – apropos – für Julias Geburtstag haben wir immer noch kein Geschenk. Während wir von einem Gedanken zum nächsten springen, gerät unsere eigentliche Aufgabe – die E-Mail – langsam in den Hintergrund.

Mangelhafte Aufmerksamkeitskontrolle kann ein wichtiges Hinweissignal für Müdigkeit und Langeweile sein oder uns daran erinnern, mal wieder eine Pause einzulegen.

Wie bei vielem, was uns eigentlich guttut, ist die Dosis entscheidend: Wird beim positiv-konstruktiven Tagträumen das Fantasieren zu ausschweifend und nimmt regelmäßig mehrere Stunden am Tag ein, kann es die Bewältigung des Alltags einschränken. Dann spricht man von „maladaptiven Tagträumen“. Ist mangelhafte Aufmerksamkeitskontrolle ein dauerhaftes Muster, ist das vielleicht ein Hinweis auf eine Aufmerksamkeitsstörung wie ADHS.

Wodurch werden abschweifende Gedanken begünstigt?

„Wir müssen nicht lernen, weniger, sondern gezielter und besser tagzuträumen“, schlussfolgert Steindorf am Ende unseres Gesprächs. Denn Tagtraum ist nicht gleich Tagtraum. Während positiv-konstruktive Tagträume uns helfen können, Situationen vorzubereiten, Probleme zu lösen und unseren Alltag zu planen, lenken uns abschweifende Gedanken durch mangelhafte Aufmerksamkeitskontrolle ab.

Handys, Smartwatches, belebte Straßen und Mitteilungen, die auf unserem Desktop aufploppen, stellen laut Steindorf den perfekten Nährboden für abschweifende Gedanken dar.

Dagegen helfen zum Beispiel Achtsamkeitsübungen. „Erste Studien zeigen sowohl bei kurzen als auch bei längeren Achtsamkeitsinterventionen positive Effekte auf unsere Aufmerksamkeitskontrolle.“

Die Reizfülle unserer modernen Welt stellt eine Bedrohung für kreatives Denken dar. „Es gibt heutzutage keine Notwendigkeit mehr für Langeweile“, merkt Mathias Benedek kritisch an. Oft ermögliche erst eine reizarme Umgebung, den Aufmerksamkeitsfokus nach innen zu lenken.

Der Langeweile Raum geben

Genau dafür lassen sich Räume im Alltag schaffen. Das Handy für eine Stunde wegzulegen und andere Lärm- und Ablenkungsquellen zu entfernen sind für Benedek einfache Maßnahmen, um problemlösende Tagträume zu fördern. Dabei sei eine mentale Bereitschaft wichtig: „Das Gehirn muss bereit sein, eine relevante Lösung überhaupt als solche zu erkennen“, merkt Benedek an. Sich ein Notizbuch bereitzulegen kann ein Weg sein, das zu unterstützen.

Doch Tagträume dürfen Tagträume bleiben. Und manchmal lassen sie sich nicht vollständig in einen dafür vorgesehenen Raum zwängen. Steindorf sagt sich in solchen Situationen: „Es ist völlig normal, dass ich abschweife. Es ist etwas Menschliches. Und vielleicht mache ich ja gerade etwas Sinnvolles mit meinen abschweifenden Gedanken.“

Ich versuche das genauso zu sehen. Meine Tagträume mögen eine große Ablenkungsquelle im Alltag sein, aber sie inspirieren mich auch immer wieder. So hatte mein erstes Buch seinen Anfang in einem Tagtraum, genau wie viele Lieder, die ich für die Harfe geschrieben habe. Und wenn mir eine Melodie zu einer ungünstigen Zeit einfällt, habe ich mittlerweile meine Tricks, trotzdem konzentriert zu bleiben. Den Titel „Träumerin“ trage ich inzwischen mit Würde.

Mind-Wandering verwendet die Psychologie als Synonym fürs Tagträumen. Es bezeichnet das spontane Auftreten von Gedanken, die inhaltlich nichts mit der aktuellen Aufgabe zu tun haben (stimulus-independent thoughts).

Der amerikanische Psychologe Jerome Singer unterschied drei Arten dieser Tagträume: positiv-konstruktives Mind-Wandering, schuldig-dysphorisches Mind-Wandering und Mind-Wandering aufgrund mangelhafter Aufmerksamkeitskontrolle.

Quellen

Benjamin W. Mooneyham und Jonathan W. Schooler: The costs and benefits of mind-wandering: a review. Canadian Journal of Experimental Psychology, 67/1, 2013, 11–20. DOI: 10.1037/a0031569

Matthew A. Killingsworth und Daniel T. Gilbert: A wandering mind is an unhappy mind. Science, 330/6006, 2010. DOI: 10.1126/science.1192439

Rebecca L. McMillan u.a.: Ode to positive constructive daydreaming. Frontiers in Psychology, 4/2013. DOI: 10.3389/fpsyg.2013.00626

Jonathan Smallwood u.a.: When attention matters: The curious incident of the wandering mind. Memory & Cognition, 36/2008, 1144–1150. DOI: 10.3758/MC.36.6.1144

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2023: Woher weiß ich, wer du bist?