Das Tau loslassen

Therapiestunde: Der Klient spricht von Suizid. Die Intervention scheitert. Wie findet Psychotherapeutin Angelika Eck zurück in angemessene Distanz?

Die Illustration zeigt einen Mann der auf einem Stuhl sitzt und ein Hundehalsband und Hundeleine trägt, davor stehen Hundefressnäpfe
Gebunden an seinen Selbsthass hat er Probleme mit sozialer Bindung. Ein selbstreflektierter Beziehungsaufbau könnte ihm helfen. © Michel Streich für Psychologie Heute

Heute kommt mein langjähriger Klient Robert* zu einer kurzfristig anberaumten Krisensitzung. Normalerweise treffen wir uns inzwischen alle vier Wochen, die Therapie befindet sich in der Endphase. In einer Krise war Robert, Mitte sechzig, auch damals zur ersten Sitzung zu mir gekommen. Seine Partnerin hatte ihn verlassen.

Von seinen Eltern als Wunderkind hoch gelobt und als Schüler in seiner Studierstube isoliert, hatte Robert Einsamkeit und Sehnsucht nach Beziehungen von früh auf gekannt. Eine starke…

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isoliert, hatte Robert Einsamkeit und Sehnsucht nach Beziehungen von früh auf gekannt. Eine starke religiöse Prägung installierte für ihn einen allzeit unzufriedenen Gott als oberste Instanz und übermächtigen inneren Kritiker, dem er niemals würde genügen können. Der stärkste seiner Glaubenssätze lautete: „Du musst Großes leisten, bist aber absolut nutzlos.“

In seinen beiden früheren langjährigen Beziehungen hatte Robert die Helferrolle eingenommen. Als seine zweite Frau ins Endstadium einer Alkoholsucht gekommen war und er sich trennte, sich aber weiter um sie kümmerte, erbte er von ihr ein Haustier. Mit diesem neuen Schützling ging Robert von diesem Moment an die intensivste Bindung ein. Mir kam es so vor, als würde er auch die Bedürftigkeit des einsamen, ungesehenen Kindes, das er gewesen war, auf dieses Tier projizieren, so gerührt und voller Einfühlungsvermögen erzählte er mir später von ihm.

Eifersucht: Der Anfang vom Ende

Welch ein grandioses Geschenk des Schicksals schien nach der jahrelangen Zweisamkeit mit einem Haustier in Gestalt seiner letzten Partnerin zu Robert gekommen zu sein: Intelligent, selbstbewusst, unabhängig, lustig und mit einem riesigen Freundeskreis ausgestattet, nahm sie Robert mitten in ihr vibrierendes Leben hinein. Ein Traum, der Robert nach einiger Zeit viel zu viel Angst machte. Sein Selbstwertgefühl in Beziehungen erwies sich als so fragil, dass er zunehmend fürchtete, seine Geliebte könne sich einem anderen zuwenden. Das war der Anfang vom Ende.

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Durch seine kontrollierende Eifersucht und permanenten Verlustängste verunmöglichte er seiner Partnerin, mit ihm weiter glücklich zusammen sein zu können. Sie brach die Beziehung wütend und verletzt ab und verbot ihm sogar jegliche weitere Kontaktaufnahme. Sein Haustier wurde seit dieser Zeit wieder Roberts einziger und letzter Lebenssinn.

Geführt vom Tier

In der auf die Trennung folgenden Therapie begleitete ich Robert zunächst durch eine depressive Episode, die sich in einer verlängerten Trauerreaktion fortsetzte. Mit der Zeit konnten wir unterliegende destruktive Muster identifizieren und Roberts Beziehung zu sich selbst Stück für Stück mehr verstehen und bearbeiten. Mit gemischtem Erfolg angesichts der langen Vorgeschichte. Immerhin war sein Selbsthass für ihn inzwischen kein Gesetz mehr, sondern Robert sah sich bereit und berechtigt, nun ein glücklicheres Leben zu führen.

Nach einer längeren Zeit der inneren Arbeit nahmen wir schließlich das Thema Sozialkontakte in den Fokus: raus aus der Einsamkeit. Robert begann damit, die Beziehung zu seinen Kindern und Enkelkindern aktiver zu pflegen, die ihn liebten. Er begab sich auf eine Datingplattform und eine neue mögliche Partnerschaft erschien am Horizont. Das Leben wurde wieder bunter.

Allerdings erwies sich in dieser Situation die enge, über viele Jahre stabilisierende Bindung zwischen Mann und Haustier als überaus einschränkend: Seine neue Liebe wurde bei jedem einzelnen Besuch von dem Tier attackiert. Längere Abwesenheiten erlaubte sich Robert nicht, um seinen geliebten Zögling keinem Verlassenheitsrisiko auszusetzen – das eifersüchtige Haustier hatte seinen Schicksalsgenossen fest in der Hand.

Dieser wollte das feste Beziehungsgefüge dem Tier und vielleicht auch sich selbst zuliebe endlich verändern und entschied sich, zu diesem Zweck ein weiteres, möglichst artgerecht passendes Tier aufzunehmen. Nun verkündete mir Robert am Telefon mit tränenerstickter Stimme: Die junge tierische Gefährtin, die er über viele Wochen mit Unterstützung einer Expertin mit seinem Haustier zu verbandeln versucht hatte, war angesichts kontinuierlicher Feindseligkeit mutmaßlich an Stresssymptomen gestorben. Geduldig und mitfühlend besprach ich mit ihm, wie er sich bis zum baldigen Gespräch mit mir stabilisieren könne.

Am Ende siegt der Selbsthass

Vor der nun kommenden Sitzung bin ich ruhig und sinniere über die auffallenden Parallelen zwischen Herr und Tier. Ich lächele sogar bei der Erinnerung an eine Sitzung, in der Robert sein Tier einmal dabei hatte, als ein ankommendes Paar im Wartezimmer mit ihm zusammen lachte bei der Vorstellung, jemand könne mit seinem Haustier zur Paartherapeutin kommen.

Als wir uns schließlich heute in meiner Praxis gegenübersitzen, lache ich nicht mehr. Ich erblicke einen trauernden Haufen Elend. Robert erscheint als wandelnde Selbstanklage, ein Mensch, der sich die Selbstauslöschung wünscht: „Ich bin unerträglich für mich. Ich habe versagt.“ In diesem Moment wird es mir zu viel. Über viele Jahre der Zusammenarbeit konnten wir am Selbsthass ein wenig rütteln, diese teils selbstmitleidige Selbstbezogenheit ein Stück öffnen. Jetzt scheint das selbstzerstörerische Imperium mit Macht zurückzuschlagen. Am Ende siegt der Selbsthass. Spielräume ade. Das macht mich in diesem Moment furchtbar ärgerlich.

Ich behalte die Fassung, höre mir aber selbst dabei zu, wie ich streng werde: „Es ist Ihre Aufgabe, sich jetzt nicht zu zerfleischen. Selbst wenn Sie Fehler gemacht haben sollten: Sie sind menschlich. Es ist Ihr Leben. Und das Tier ist und bleibt ein Tier, kein Mensch. Wie werden Sie sich jetzt Halt geben? Was hilft Ihnen jetzt, um weiterzukommen? Das möchte ich von Ihnen hören.“ Keines meiner Worte erreicht Robert oder hilft ihm. Er ist und bleibt am Boden zerstört, von meiner sturen Intervention zunehmend irritiert. So geht das Gespräch eine Weile unproduktiv dahin.

Reise aus dem Abgrund

Auf einmal sieht Robert mich nachdenklich an. Dann sagt er langsam: „Jetzt weiß ich: Sie haben Angst. Angst, dass ich mir etwas antue. Wenn ich das wollte, könnten Sie es sowieso nicht verhindern.“ – Bam. Das sitzt. Robert hat recht. Wer von uns will mehr für sein Leben? Er oder ich? Jetzt gerade vielleicht ich.

Und so hilft mein Klient mir in diesem Moment dabei, mein Gefangensein in seiner Situation zu erkennen. Ich füh­le mich unangenehm ertappt. Ich fange mich und gebe ihm recht. Das entspannt uns beide. Er fühlt sich wieder gesehen. Mir hilft es, das Tau loszulassen, an dem ich gezogen habe, und in den Respekt zurückzufinden. In den Respekt davor, dass jeder Mensch sein eigenes Leben lebt, sei es hell oder dunkel, sei es lang oder kurz. Und ich gelange wieder in eine angemessene therapeutische Distanz, die mich professionell beweglicher sein lässt.

Robert wird sich nach dem Tierdamentod nicht das Leben nehmen. Er wird eine lange Weile trauern, wie es seiner Art entspricht. Dann wird er die neue Liebesbeziehung zu einer Frau beenden, weil er merken wird, dass er auch in dieser die aufkeimenden Ängste, seine Dämonen nicht besiegen kann. Diese Trennung wird ihn aber nicht in einen neuen Abgrund stürzen. Er behält einen freundschaftlichen Kontakt.

Ich werde in den verbleibenden Monaten unserer Zusammenarbeit seine Defizite als Fähigkeiten sehen: Robert kann sehr gut allein leben. In den meisten Gesprächen werde ich es wieder Robert überlassen, in Veränderung zu investieren. Er wird sich dafür entscheiden, mit Frauen erst einmal nur losere Beziehungen einzugehen, um nicht zu schnell in seine alten Ängste zu rutschen. Je enger eine Beziehung werden wird, desto kniffliger wird es für ihn werden, aber das langsamere Tempo wird ihm helfen, sich nicht von Reflexen leiten zu lassen. Wir werden uns dann einig sein: Vielleicht klappt es dieses Mal damit, die Dämonen doch noch zu besiegen. Und wenn nicht, vielleicht beim nächsten Mal.

* Persönliche Daten und alle Einzelheiten, die den Klienten erkennbar machen könnten, wurden verändert.

Angelika Eck ist promovierte Diplompsychologin und systemische Einzel-, Paar- und Sexualthe­rapeutin in eigener Praxis. Ihr Buch Schlafzimmerblick. Liebe, Sex und Partnerschaft – ehrliche Antworten auf heikle Fragen erschien 2021 bei HarperCollins.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2024: Aber danach fang ich wirklich an