Romantasy: Im Reich der Schatten

Wieso sind Romantasybücher so erfolgreich? Der Psychoanalytiker Ralf T. Vogel erklärt, warum sie faszinieren – auf der Flucht in eine Fantasiewelt.

Die Illustration zeigt eine blaue Elbenfrau, die mit Pfeil und Bogen etwas ins Visier nimmt
Weise und kraftvoll durchlebt die Elbin ihre Abenteuer. Sie ist ein Sinnbild der starken Frau. © Jan Feindt für Psychologie Heute

Der Begriff „Romantasy“ ist ein Kunstwort, ­eine Verknüpfung aus Liebesgeschichte – romance – und Fantasyroman, wobei die Liebesgeschichte meist im Zentrum steht. Die Kombination scheint einen Nerv zu treffen, in der Jugendliteratur erlebt das Genre derzeit einen beeindruckenden Boom. Geschätzt 50 Prozent der Fantasyjugendbücher sind inzwischen dem Genre zuzuordnen, ganze Verlagsanstalten haben sich darauf spezialisiert. Dieser Erfolg hat sogar Auswirkungen auf die Fantasyliteratur für Erwachsene.

Der Beginn…

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spezialisiert. Dieser Erfolg hat sogar Auswirkungen auf die Fantasyliteratur für Erwachsene.

Der Beginn des Genres wird meist mit den Twilight-Romanen von Stephenie Meyer ab 2005 und den darauf basierenden Filmen verbunden. Während Meyer ihre Geschichten in der amerikanischen Teenagerszene der Gegenwart spielen ließ, sind die aktuellen Romantasyerzählungen eingebettet in Geschichten von fantastischen Völkern, Ländern und Zeiten. Dabei finden sich zunehmend Anleihen aus den großen klassischen Fantasyurformen wie Der Herr der Ringe oder Die Chroniken von Narnia.

Denn die Idee ist nicht neu. Schon bei J.R.R.Tolkien, dem Großmeister des Fantasygenres, kann man erste Ansätze von Romantasy finden, etwa in seiner großen Erzählung um das Liebespaar Beren und Lúthien, den sterblichen Menschen und die schönste aller unsterblichen Elbenfrauen, die in der Sammlung The Silmarillion veröffentlicht wurde. Die Eheleute Edith und J.R.R.Tolkien haben diese beiden Namen sogar auf ihrem Grabstein unter den eigenen eingravieren lassen.

Erinnert sei auch an die romantische Liebe zwischen Aragorn, dem König von Gondor, und der Elbenfürstin Arwen aus Tolkiens Der Herr der Ringe, die inmitten der großen Schlachten um Mittelerde erblüht und die der kongeniale Tolkien-Verfilmer Peter Jackson in eindrücklichen Bildern beschreibt. Und natürlich finden sich mythologische Liebespaare in allen großen Erzählungen der Menschheit.

Im Fokus: Starke Frauen

Doch während bei den Klassikern der Fantasyliteratur Frauen eine untergeordnete Rolle spielen und nur selten entscheidende Impulse setzen, treten sie im Romantasygenre stärker ins Zentrum. Denn hier schreiben Frauen für Frauen über starke Frauen. So könnte man die Gendersituation zusammenfassen, die in der Fantasyliteratur schon seit den 80er Jahren besteht, sich aber im Romantasygenre erst richtig Bahn bricht.

Das alte Schema ändert sich allerdings oft nur insoweit, als der romantischen Liebe ein besonderer Platz eingeräumt wird. Ansonsten bleibt meist alles beim – martialischen – Alten: Es wird gekämpft und getötet, es gibt minderwertige Kreaturen, es wird Rache geübt und nach Macht gestrebt. Die Erzählungen schlängeln sich entlang einer Kompromisslinie zwischen dem Wunsch nach einer Welt mit starken und im Fokus stehenden Frauen einerseits und dem Verhaftetbleiben in altvertrauten Herrschaftsverhältnissen andererseits. Dabei gibt es natürlich immer wieder auch Ausnahmen.

Die meisten großen Romantasyerzählungen leihen sich – oft in stark vereinfachter Form – Motive großer Menschheitsnarrative aus, sogenannte archetypische Bilder und Strukturen. Die „Alte Weise“ beispielsweise in ihrer Gestalt als Seherin, Heilerin oder Hexe ist multipräsent. Der Held oder die Heldin und ihre Quest, in deren Verlauf er oder sie Abenteuer erlebt und Aufgaben löst, der Kampf gegen das Böse, die Paarbildung, aber auch die Auseinandersetzung mit Endlichkeit und Tod sind weitere solche Topoi.

Archetypisch durchsetzte Erzählungen faszinieren und ergreifen. Sie verbinden Leserinnen und Leser mit uralten Grundlagen der Existenz. Denn Archetypen haben sich im Laufe der Menschheitsgeschichte herausgebildet. In ihrer Universalität bieten sie uns die Möglichkeit, uns als Teil eines Größeren zu begreifen. Sie stiften ein Zugehörigkeitsgefühl und dadurch Hoffnung und Sinn.

Die Kraft des Wir-Gefühls

Zusätzlich gibt es einen sozialpsychologischen Aspekt, der das Phänomen Romantasy so attraktiv macht. Denn mittlerweile ist eine Romantasy­szene entstanden, die sich virtuell, aber auch physisch trifft. Das erlaubt zumindest zeitweise ein Identitätsgefühl, das gerade in Zeiten unsicherer und fluider Identitäten wichtig ist. Die Gruppenzugehörigkeit geht einher mit einem Wir-Gefühl, und wenn es gut läuft, fördern und unterstützen sich die Gruppenmitglieder untereinander in ihrer Entwicklung.

Gleichzeitig sind aber auch regressive Tendenzen zu erkennen. Gerade in Zeiten, in denen junge Menschen mit einer Überdosis Realismus, Krise, ja Schrecken konfrontiert sind, bietet das imaginäre Wandeln in den fantastischen Parallelwelten eine Form der Abwehr und Bewältigung. Wenn sich Romantasyfans auf eine von der realen Welt klar abgetrennte Zweitwelt konzentrieren, kann das dazu führen, dass sie sich in der wirklichen Welt entpolitisieren und entsolidarisieren und sogar weitgehend das Interesse an dieser Welt verlieren. Romantasy befördert also auch Eskapismus, eine aktive Flucht vor dem Wirklichen, weil dieses unaushaltbar geworden ist. Es ist ein paradoxes Phänomen: Wer in die Romantasyszene eintaucht, kann einerseits Gruppenzugehörigkeit erleben und sich andererseits ins Private zurückziehen.

Liebe, Freiheit, Tod

Viele Romantasyerzählungen weiten sich zu Reihen mit mehreren Bänden aus und kommen so dem Bedürfnis der Rezipierenden entgegen, die imaginierten Welten weiter zu erforschen. Die Mechanismen funktionieren dabei ähnlich dem Traumleben: Wünsche können quasi erfüllt werden, auch wenn dies nur in der Fantasie geschieht. Indem sich Leser und Leserinnen mit den Protagonisten identifizieren, erleben sie Selbstwirksamkeit und Kraft.

Auch dadurch, dass einem die Fantasywelten mit ihren Regeln und Gesetzen auf Dauer immer vertrauter werden, wird die Verunsicherung aus der „realen Welt“ gebunden. Klimaängste, Pandemie- und Kriegsszenarien werden nicht mehr wirklich zur Kenntnis genommen und/oder symbolisiert in den Erzählungen dargestellt und bewältigt. Postmoderne Partnerschaftsverunsicherungen – etwa durch Polyamorie, Situationships oder digitalisierte Beziehungsvarianten – können zumindest temporär überwunden werden, indem man als Leser oder Leserin eine althergebrachte romantische Liebe mitfühlt.

Der Eskapismus hat auch sein Gutes: Archetypische Erzählungen drehen sich um die existenziellen Themen des Menschseins, um Sinn, Freiheit, Beziehung und Tod. Dabei zeigen sie Wege des Gelingens auf und wecken Hoffnung, dass auch schwierige Situationen gemeistert werden können. Innere sichere Orte und Lösungswege können in der Fantasie erprobt werden. Hier kommt eine der wichtigen Entdeckungen C.G. Jungs ins Spiel, nämlich die kompensatorische Funktion der Psyche. Demnach ist die Psyche bemüht, aus sich heraus Einseitigkeiten auszugleichen und Ganzheiten herzustellen.

Auch die tiefenpsychologisch inspirierte symbolische Sicht auf das Motiv der Paarbildung gehört hierher. Das Paar gilt in der Mythologie nicht selten als Symbol der Ganzheit, die Sehnsucht nach dem Partner oder der Partnerin ist auch die Suche nach den eigenen fehlenden Selbstanteilen. Die erzählte idealisierte Liebesbeziehung fungiert also einerseits als fantasierter Ersatz realer Beziehungskomplexe, stellt aber gleichzeitig eine Möglichkeit innerer kompensatorischer Arbeit dar.

Konfrontation mit dem eigenen Dunklen

Neben der großen Liebeserzählung spielt Romantasy mit den Metaphern des Dunklen. Es geht immer wieder um Schatten, Dämmerung, Zwielicht und Düsternis. Die analytische Psychologie nutzt den Begriff des Schattens, um Ungelebtes, Unbewusstes, Abgewehrtes, ja Böses zu bezeichnen, das bei genauer und ehrlicher Selbstexploration in jedem von uns auffindbar ist und untrennbar zum Menschsein gehört.

Auch das Schattenhafte hat archetypische Schichten. Aus ihnen speist sich ein tremendum und ein fascinosum, eine schaurige Faszination, wie sie von vielen Romantasylesern und -leserinnen beschrieben wird. Wie bei der sogenannten dark fantasy erleben sie beim Lesen die wohldosierte und jederzeit kontrollierbare Konfrontation mit dem eigenen und kollektiven Dunklen. Sicherlich ist es kein Zufall, dass neben Romantasy auch die Ratgeberliteratur zur „Schattenarbeit“ (shadow work) einen Hype erlebt, die in vereinfachter, bisweilen fast banalisierter Weise eine Annäherung an dieses „Dunkle im Menschen“ versucht.

Und noch etwas macht das Schattenthema so anziehend: das Geheimnis. Romantasyerzählungen lassen einiges „im Dunkeln“, decken nicht alles auf, drehen sich um Geheimnisse und bewahren Geheimnisse. Dies mag verlagsökonomisch der Sicherung eines zweiten Bandes dienen, ist aber auch eine wichtige Möglichkeit, einer durchrationalisierten und vereindeutigten Welt das Unsichere, Verborgene, eben Geheimnisvolle entgegenzusetzen und den Umgang mit Ambiguität einzuüben. Die Ahnung des Menschen, dass im eigenen Seelischen und im tiefsten Inneren unserer Mitmenschen immer noch ein Unbewusstes, für immer Geheimnisvolles liegt, bekommt hierdurch einen literarischen Ausdruck.

Haptik statt Virtualität

Schließlich bedeuten die Romantasybücher auch ein Gegengewicht zu Computerspielen, Virtual Reality und Social Media. Mit ihren aufwendig gestalteten Covern und der immer wieder beeindruckenden Bildgestaltung sind die oft mit Farbschnitt und aus besonderem Papier hergestellten, teils sehr voluminösen Bände durch und durch haptische Erzeugnisse. Zugleich sind Romantasybücher innen meist nur gering bebildert und regen durch Inhalt und Form rasch spürbar zur eigenen Imagination an. Das trainiert einen Möglichkeitssinn, der nicht nur auf bereits Vorhandenes zurückgreift, sondern nach vorne ins Unbekannte ausgreift.

Eine aktuelle Anmerkung zum Abschluss: Die Merkmale, die Romantasy so faszinierend machen, sind nicht auf die populäre Jugendliteratursparte begrenzt. Das zeigt die gegenwärtige Begeisterung um die Ausstellungen von Caspar David Friedrich anlässlich seines 250. Geburtstages. Denn manch ein Bild des Meisters könnte als Paradebeispiel von bebilderter Romantasy durchgehen und manch ein Interesse an seinen Werken könnte ähnlich bedingt sein.

Auch wenn sich Romantasy nicht auf die Zeit der Romantik bezieht, so sind doch die Überschneidungen zwischen dem Boom der Romantasy und dem neu erwachten Interesse für die Romantik nicht zu übersehen. Mehrere Ähnlichkeiten wie etwa die eskapistischen Tendenzen beider oder die Bedeutung des Geheimnisvollen drängen sich auf. Aber das ist ein anderes Thema.

Archetypen

Die Archetypentheorie gehört derzeit zu den meistdiskutierten Konzepten der analytischen Psychologie. Jung bezeichnete sie als Inhalte eines kollektiven, menschheitsimmanenten Unbewussten. Archetypen drücken sich in Erzählungen und Bildern aus, etwa der oder des Alten Weisen, der Großen Mutter, des Göttlichen Kindes, des Helden. Sie bilden sich anhand konkreter Lebenserfahrungen heraus, wie etwa in Krisensituationen oder an Lebensübergängen.

Ralf T. Vogel ist Psychologe und Psychoanalytiker ebenso wie Verhaltenstherapeut. In seiner Praxis versucht er, die unterschiedlichen psychologischen Schulen zu verbinden. Vogel hat eine Honorarprofessur fur Psychotherapie und Psychoanalyse an der Hochschule fur Bildende Kunste Dresden und ist Lehranalytiker am C.-G.-Jung-Institut Zurich.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2024: Sind die anderen glücklicher? Streiten nur wir so viel? Passen wir noch zusammen?