Beim Tennis entscheidet der Aufschlag. Das war auch bei Boris Becker so, der den Ball mit über 200 Sachen übers Netz drosch. „Die Welt hatte so etwas noch nicht gesehen“, erinnert sich Beckers Rivale Andre Agassi in einem Interview. Agassi war zu seiner Zeit einer der besten Spieler überhaupt. Doch gegen Beckers Aufschlag blieb auch er zunächst machtlos: Die ersten drei Matches gingen alle an den Deutschen.
Bis Agassi in einer Videoanalyse einen versteckten Code entdeckte, um Beckers gefährlichste Waffe zu…
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an den Deutschen.
Bis Agassi in einer Videoanalyse einen versteckten Code entdeckte, um Beckers gefährlichste Waffe zu entschärfen: „Boris hat beim Aufschlag immer die Zunge leicht rausgestreckt, und zwar nach links oder nach oben. So habe ich erkannt, wo er den Ball hinschlagen würde.“ Danach wurde alles anders: In den folgenden elf Begegnungen verlor Agassi nur noch ein einziges Mal. „Es ist, als würde er meine Gedanken lesen“, soll der verzweifelte Becker damals gesagt haben.
Man kann im Tennis eine Art rituelle Simulation des Krieges sehen. Zwar verliert man dort weder Blut noch Leben. Dennoch endet jedes Match mit Sieg oder Niederlage. Wer unterliegt, scheidet aus und stirbt einen symbolischen Tod. Lange Zeit hat auch die Evolutionspsychologie das Leben als eine Art Tennismatch gesehen. Als Wettkampf, in dem es gilt, irgendwie besser, schneller und stärker zu sein als die anderen, zu überleben und sich fortzupflanzen, survival of the fittest. Jeder gegen jeden.
Doch seit einigen Jahrzehnten weisen empirische Befunde in eine völlig andere Richtung: Der Mensch, der überlebt, ist in erster Linie ein Gruppenwesen. Es ist seine Horde, seine Mannschaft, die Schlachten übersteht, genügend Nahrung für alle findet und Kinder durchbringt bis ins Erwachsenenalter. Es ist die Gruppe, die über Generationen neue Erfindungen macht und weiterentwickelt und kulturelles Wissen anhäuft. Der erfolgreiche Mensch im Sinne der Evolution spielt mit den anderen – und nicht gegen sie. Forscherinnen und Forscher fahnden deshalb neuerdings nach dem Wir in unserem Kopf. Sogar die verräterische Zunge von Boris Becker erscheint darin plötzlich in einem anderen Licht.
Synchrones Tanzen gegen Schmerzen
Da sind zum Beispiel die Experimente des berühmten Evolutionspsychologen Robin Dunbar von der Universität Oxford. Am Anfang seiner Karriere zog es ihn regelmäßig nach Afrika, wo er das Verhalten von Affen in freier Wildbahn studierte. Dann strich ihm die britische Regierung die Gelder, und plötzlich war’s vorbei mit den Forschungsreisen. Also verlegte sich Dunbar auf die einzige Primatenart, die es in Oxford zu beobachten gab: einen schwach behaarten Zweibeiner namens Homo sapiens.
In einem Fitnessraum in Oxford trainieren ein paar junge Männer an ihren Rudergeräten. Jeder rudert in seinem eigenen Tempo. Heute jedoch haben sie Besuch: Am Ende der Einheit bittet ein Mitarbeiter von Robin Dunbar die Athleten zu einem kleinen Test. Sie sollen ihre Hand in Eiswasser tauchen – so lange sie es nur irgendwie aushalten. Mit dieser Methode ermittelt man in der Psychologie unsere Schmerztoleranz, zur Messung genügt eine Stoppuhr.
Eine Woche später wird der Versuch wiederholt. Mit einem kleinen Unterschied: Diesmal rudern die jungen Männer im Gleichtakt, ganz so, als säßen sie in jenem Boot, mit dem sie im folgenden Frühjahr die Rivalen aus Cambridge besiegen wollen. Auch diesem Training folgt der Eiswassertest – mit einem verblüffenden Ergebnis: Die körperliche Belastung war in beiden Trainingseinheiten identisch, doch das synchrone Rudern hat die Schmerztoleranz der Männer enorm gesteigert. Sollte allein die synchrone Bewegung in der Gruppe solch eine Wirkung erzielt haben?
Um das herauszufinden, schicken Dunbar und sein Team eine Gruppe von Versuchspersonen auf eine Tanzfläche, und zwar in einem Szenario, das man in der Fachwelt als silent disco bezeichnet: Alle bekommen per Kopfhörer eine bestimmte Musik auf die Ohren. Manche Probanden hören dabei denselben Takt. Andere aber nicht. Wie in dem Ruderexperiment folgt auch dieser Tanzübung der Eiswassertest – und bestätigt die Vermutung: Wer mit anderen synchron getanzt hat, hält die Schmerzen signifikant länger aus und fühlt sich den Mittanzenden außerdem tiefer verbunden. „Es ist fast so etwas wie Magie“, staunt Robin Dunbar.
Ein Lausen auf Distanz
Doch wie genau geschieht dieser Zauber in unserem Gehirn? Erneut werden ein paar Testpersonen zum Tanz gebeten, diesmal tanzen alle im Gleichtakt, wieder folgt der schmerzhafte Eiswassertest. Vor dem Versuch jedoch müssen alle Probanden eine kleine Pille zu sich nehmen. Bei den einen besteht sie aus harmlosem Zucker, bei den anderen aus einem Medikament namens Naltrexon. Dieser Wirkstoff blockiert bestimmte Rezeptoren im Gehirn. An ihnen docken Endorphine an: körpereigene Glücksbotenstoffe, die auf unseren Körper so ähnlich wirken wie opiathaltige Drogen. Wir fühlen uns damit gut, sicher – und werden weniger empfindlich gegen Schmerzen. Naltrexon unterbindet genau diese Wirkung.
Und wirklich: Wer die Pille mit diesem Wirkstoff schluckt, bei dem mindert der synchrone Tanz das Schmerzempfinden nicht. Wer hingegen eine Placebopille abbekommt, lässt seine Hand – wie in den Studien zuvor – messbar länger in der schmerzhaften Kälte. Synchrone Bewegung, so Dunbars Fazit, lindert Schmerzen, weil unser Gehirn dabei Endorphine ausschüttet.
Und spätestens damit hat der britische Psychologe alle Puzzleteile beisammen, um eine kühne These aufzustellen. Als Forscher in Afrika hat Dunbar beobachtet, dass es so etwas wie eine natürliche Grenze dafür gibt, wie viele Affen sich maximal zu einer Gruppe zusammenschließen können. Viel mehr als 50 werden es nie. Der Grund dafür erscheint banal: Der soziale Zusammenhalt zwischen den Tieren entsteht dadurch, dass sie einander regelmäßig lausen. Bei mehr als 50 Tieren würde diese Technik so viel Zeit erfordern, dass alles andere (Nahrung sammeln, essen, sich fortpflanzen) zu kurz käme.
Auch der Mensch erschafft soziale Nähe auf Affenart: durch Streicheln und Umarmen. Auch wir genießen den wohligen Endorphinschub, den körperliche Berührung in uns auslöst. Doch vor etwa 500000 Jahren geschieht in der Entwicklung unserer Vorfahren etwas Erstaunliches: Die Gruppen werden auf einmal mehr als doppelt so groß und zählen jetzt rund 120 Einzelwesen.
Robin Dunbar vermutet: Diese Gemeinschaften verdankten ihre neue Größe, ihren Zusammenhalt – und damit ihre Macht – dem Zauber synchroner Bewegung. Unsere Vorfahren entdeckten die Musik und fingen an, im Gleichtakt miteinander zu singen und zu tanzen. Musik und Tanz, so glaubt Dunbar, waren „ein Mechanismus, durch den man sozusagen mehrere Individuen gleichzeitig lausen konnte“. Es handelt sich um „ein Lausen auf Distanz“.
In der rituellen Wiederholung
Noch heute kann man im synchronen Tanzen die Spur vorzeitlicher Rituale erahnen. Das hat jüngst eine Studie unter der Beteiligung des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften gezeigt. Dabei sammelte man die Handydaten von Besuchern eines Londoner Tanzclubs. Die Analyse ergab, dass die Menschen auf dem Dancefloor sich unter zwei Bedingungen besonders gut miteinander synchronisieren: wenn der Beat der Musik ungefähr dem gewohnten menschlichen Gehtempo entspricht (100 bis 150 Schläge pro Minute) – und wenn es sich um einen besonders bekannten Song handelte. Es ist die rituelle Wiederholung des Altbekannten, die uns dabei hilft, uns mit anderen zu einem Wir zu verbinden.
Inzwischen häufen sich die Belege, dass synchrone Bewegung Menschen auf vielfältige Weise zu einer Gemeinschaft verbindet. Eine der einflussreichsten Studien dazu wurde 2009 an der kalifornischen Stanford University ersonnen: Die Psychologen Scott Wiltermuth and Chip Heath ließen kleine Gruppen von Fremden miteinander spazieren gehen und danach im Labor eine Art Gesellschaftsspiel spielen, mit dem die beiden Forscher das gegenseitige Vertrauen und den Willen zur Zusammenarbeit messen konnten. Etwa die Hälfte der Teilnehmenden absolvierte den Spaziergang ungeordnet. Die andere Hälfte aber im Gleichschritt.
Das eindrucksvolle Ergebnis: Marschierte die Gruppe im Gleichschritt, stiegen Vertrauen und Kooperation deutlich. Allerdings entdeckten Wiltermuth und Heath auch die Grenzen dieses Zaubertricks. Sie ließen einige ihrer Probanden ein gemeinsames Lied singen, weitere Versuchspersonen taten in ihrer Gruppe dasselbe, klopften aber zusätzlich noch einen synchronen Takt. Anders als man hätte vermuten können, ließen sich Vertrauen und Zusammenarbeit dadurch aber nicht noch zusätzlich steigern. Ob man eine Sache in Synchronie erledigt oder zwei, das scheint eine Gemeinschaft nicht stärker zusammenzubringen.
Im Herzschlag des Therapeuten
Zu einigem Ruhm brachten es auch die Forschungsarbeiten der Psychologin Tanya Chartrand von der Duke University in North Carolina. Sie konnte zeigen, dass wir andere Menschen permanent spiegeln, ohne es so richtig mitzubekommen: Wir ahmen die Fußbewegungen unserer Gesprächspartner nach, ihre Mimik, ihre Gestik, sogar ihre Sprachmelodie. Wir schwingen uns sozusagen permanent auf unsere Mitmenschen ein. Mehr noch: Je stärker diese „Verhaltensmimikry“ ausfällt, desto sympathischer erscheinen wir einander. Angeglichene Bewegungsmuster, so schreibt Chartrand, sind so etwas wie der heimliche „soziale Klebstoff“ in unserem Leben.
Auch in der Psychotherapie wirkt die verborgene Kraft der Synchronie. Mehrere Studien haben gezeigt, dass eine kurze Videoaufnahme von Therapiegesprächen bereits Rückschlüsse darauf zulässt, wie sehr eine Klientin ihrer Therapeutin vertraut, ob also die Chemie in der Beziehung stimmt. Wo die Körperbewegungen von Klient und Therapeut sich besonders gut aufeinander einschwingen, führt auch die Therapie selbst eher zum Erfolg. Die Heilkraft der Synchronie geht noch weiter: Eine Studie der Uni Bern hat ergeben, dass bei Klientin und Therapeutin sogar Atmung und Herzschlag in stärkerem Maße synchron verlaufen, wenn Verbindung und Vertrauen zwischen ihnen hoch sind.
Mit wem die Chemie stimmt
Ein junger Mann und eine junge Frau sitzen auf Sesseln an einem runden Couchtisch und unterhalten sich. Fünf Minuten lang haben sie Zeit, einander ein wenig kennenzulernen und herauszufinden, ob sie sich verabreden und wiedersehen möchten. Dass hinter dem Speeddating-Event eine wissenschaftliche Studie steckt, ist an den schwarzen Bändern aus Kunststoff erkennbar, welche die beiden am Handgelenk tragen: Das Gerät namens Empatica E4 misst permanent die elektrische Leitfähigkeit ihrer Haut. Daran lassen sich indirekt Emotionen, Stress und Entspannung ablesen. Zusätzlich registriert eine Videokamera mit entsprechender Analysesoftware die Körperbewegungen der beiden Flirtenden. Funkt es? Wiederum achten die Forschenden darauf, wie sehr die beiden ihre Körperbewegungen synchronisieren.
Bei manchen Paaren schwingen sich die beiden Messkurven – Bewegung und Hautleitfähigkeit – schon nach kurzer Zeit aufeinander ein. Gerade bei den Männern gibt es eine kleine Gruppe von „Supersynchronizern“, bei denen die innere An- und Entspannung bald im Takt mit der jeweiligen Gesprächspartnerin verläuft. Die Ergebnisse passen verblüffend gut zu den Bewertungszetteln der am Versuch teilnehmenden Frauen: Mit genau diesen Supersynchronizern wollen sich die meisten von ihnen gerne noch einmal treffen. Mehr noch als die Synchronie in unserer Gestik scheint also der Gleichklang unserer Körperphysiologie zu verraten, mit wem die Chemie stimmt und zu wem wir uns hingezogen fühlen.
Weingläser klingen lassen
Synchronie macht also Liebe – doch sorgt Liebe auch für mehr Synchronie? Das tut sie tatsächlich. Sobald man Menschen das Liebeshormon Oxytocin verabreicht, stimmen sie ihre Tanzbewegungen plötzlich feiner und genauer aufeinander ab. Das Wir sitzt in unserer Haut, in unseren Nervenzellen, in unseren Körpersäften, es durchdringt uns auf eine viel fundamentalere Art und Weise, als uns bewusst ist.
Die Kognitionspsychologin Natalie Sebanz von der Central European University in Wien erforscht dieses Aufgehen des Ich im Wir auf noch umfassendere Weise. Sie interessiert sich nicht nur für das Phänomen der Synchronie, sondern auch für andere Arten der joint action, also für all jene Alltagshandlungen, die wir mit anderen gemeinsam unternehmen: Schulkinder beschließen, zusammen einen schweren Ast über die Wiese zu tragen; Erwachsene spielen ein gemeinsames Musikstück oder lösen im Team eine Knobelaufgabe. Solche Wir-Tätigkeiten sind es, die Natalie Sebanz verwendet, um uns Menschen sozusagen unter die Motorhaube zu blicken. Die in ihren Studien untersuchten Tätigkeiten erscheinen oft banal – doch sie haben es in sich.
Was passiert zum Beispiel, wenn wir uns zuprosten und die Weingläser klingend aneinanderstoßen? Natalie Sebanz und ihre Mitarbeitenden haben dabei mit einem Elektroenzephalogramm die Gehirnströme der Handelnden gemessen – und die sehen fast aus, als hielte man das Glas des anderen selbst in der Hand. „Man hat früher in der Psychologie geglaubt, dass man sich selbst und den anderen als getrennte Einheiten wahrnimmt. Das ist aber nicht der Fall. Wir planen gemeinsame Aktionen nicht um die Handlungen des anderen herum – wir planen mit ihnen. Und zwar so, als wären sie unsere eigenen Handlungen. Erst dadurch entsteht dieses hohe Maß an Koordination“, erläutert Natalie Sebanz.
"Du... Wir haben uns verspielt!"
Ähnliche Ergebnisse hatte zuvor eine Studie aus den USA ergeben. Dabei hatten Teilnehmende die Aufgabe, Bretter verschiedener Größe von einem Laufband abzuladen. Sie mussten spontan entscheiden: Ging das am besten mit einer Hand, mit beiden Händen – oder gemeinsam mit einer anderen Person, die an dem Versuch teilnahm?
Die beobachteten Verhaltens- und Entscheidungsmuster waren einander dabei so ähnlich und verliefen derart geschmeidig, dass den Forschern nur eine einzige Deutung blieb: Die Versuchspersonen sahen sich offenbar als eine Art Fabelwesen mit vier Armen, das je nach Situation entscheidet, nur einen, zwei oder alle vier Arme für eine bestimmte Arbeit einzusetzen. Sie bildeten, so die Forschenden, kurzfristig ein „fragiles Wir“.
Ob und wie sich ein solches Wir-Wesen bildet, hängt auch damit zusammen, mit welcher Haltung wir einer Aufgabe begegnen. Haben wir ein gemeinsames Ziel? Diese Frage scheint eine entscheidende Rolle zu spielen. Um das zu zeigen, ließen Sebanz und ihr Team mehrere Musikerinnen und Musiker paarweise ein Stück auf einem Keyboard spielen. Das Gemeine an der Sache: Die elektronische Klaviatur war derart manipuliert, dass sie immer wieder ein paar falsche Töne erzeugte – auch wenn die Musizierenden eigentlich gar keine Fehler machten. Hirnstrommessungen ergaben, dass sie auf Fehler der jeweils anderen Person umso stärker reagierten, je mehr der gemeinsam erzeugte Akkord der eigenen Erwartung widersprach. Das Gehirn signalisierte nicht: „Du hast dich verspielt.“ Sondern: „Wir haben uns verspielt.“
In vielen Versuchen hat Natalie Sebanz einen weiteren wichtigen Faktor ermittelt: Wenn wir gemeinsam mit anderen handeln, versuchen wir, möglichst berechenbar zu sein. „Der andere soll wissen, was als Nächstes passieren wird“, so Sebanz. Eigentlich klar: Synchrones Tanzen wird leichter, wenn es eine feste Schrittfolge gibt; gemeinsame Musik wird einfacher, wenn alle die Noten kennen.
Videoanalysen zeigen jedoch etwas Überraschendes: Diese Urform der Zusammenarbeit kann auch Mannschaftsgrenzen überschreiten. So versuchen zum Beispiel Abwehrspieler im Fußball, möglichst viele synchrone Bewegungen mit den gegnerischen Stürmern zu erzeugen. Deren Bewegungen werden für sie dadurch berechenbarer – und ein Gegentor unwahrscheinlicher. Natalie Sebanz sieht auch beim Kampfsport die Tendenz, häufig die Bewegungen der Gegnerin zu imitieren, um deren Bewegungen besser vorhersagen zu können. „Das scheinbare Gegeneinander beinhaltet in vielen Fällen auch ein Miteinander.“
Komplett mit anderen verschmelzen
Genau das könnte womöglich auch das eingangs erwähnte Zungenspiel von Boris Becker erklären. Becker selbst hat die Erzählung von Andre Agassi als „Hollywoodgeschichte“ abgetan. Doch sein verräterisches Signal könnte einem uralten Bedürfnis entspringen, ein Wir zu bilden – und den Menschen um uns herum stumm zu signalisieren, was wir als Nächstes vorhaben.
„Die Geschichte mit Boris Becker ist ein sehr anschauliches Beispiel“, sagt Natalie Sebanz. „Lange hat man ja gedacht, dass unser Denken aus einem Umfeld kommt, in dem es immer darum ging, schlauer und besser zu sein als die anderen. Aber der Mensch hat sich in einem Umfeld entwickelt, in dem es wichtig war zusammenzuarbeiten. Und deshalb sind das auch die Mechanismen, die im Vordergrund stehen. Wir senden automatisch Signale aus, die das Gegenüber auch gut lesen kann. Deshalb fällt es uns so schwer, andere Menschen bewusst zu täuschen.“
Ein Tennismatch fällt für Natalie Sebanz genauso unter die Rubrik „gemeinsames Handeln“ wie ein Swingtanz, das Singen im Chor oder das gemeinsame Abladen von Holzbrettern. „Manchmal passiert es, dass wir dabei komplett mit anderen verschmelzen und das auch bewusst erleben. Wir sehen in vielen Experimenten aber auch ein ganz anderes Phänomen, das ich persönlich noch interessanter finde: Sobald ein anderer Menschen an einer Aufgabe beteiligt ist, berücksichtigen wir sehr genau, was er tut. Allein seine Anwesenheit verändert unser eigenes Verhalten – und zwar ohne dass uns das bewusst ist oder wir etwas davon mitbekommen.“
Vom Swingtanz bis zum Holzbretterabladen
Welche Alltagslehren kann man aus all dem ziehen? Wer im Studium steckt, könnte zum Beispiel einen kleinen Selbstversuch starten: Wie fühlt es sich an, nicht zu Hause im eigenen Zimmer zu büffeln – sondern in einer Bibliothek? Einem Café? Einem Co-Working-Space? Noch besser: in einer festen Lerngruppe, mit der man ein gemeinsames Ziel vereinbart?
Für alle anderen: Wie verändert es das eigene Wohlbefinden, beim Bäcker oder im Supermarkt ein kurzes Gespräch mit den Menschen an der Kasse oder in der Warteschlange anzuzetteln? Wie viel Freude macht ein Tanzkurs?
Das Wir ist der natürliche Lebensraum des Menschen. Wer sich unglücklich machen will, hält sich davon fern.
Quellen
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