Synchronizität: Wenn sich Innen und Außen verbinden

Wenn sich psychisches Erleben und dazu passende Ereignisse überschneiden: Konstatin Rößler befragt seinen Kollegen Bernd Leibig zur Synchronizität.

Die Illustration zeigt einen Skarabäus, der leicht durchsichtig ist, der an einem Rahmen krabbelt
Die Patientin erzählt von einem Traum eines Skarabäus. Dann klopft ein Käfer am Fenster und bringt den Behandlungsdurchbruch. © Alina Günter für Psychologie Heute

Unter Synchronizität versteht man, dass eine bestimmte psychische Konstellation und ein äußeres Ereignis zeitlich zusammenfallen – und dieses gemeinsame Auftreten nicht durch das Prinzip von Ursache und Wirkung erklärbar ist. Stattdessen scheinen die Geschehnisse durch einen gemeinsamen Sinn miteinander verbunden.

Ein Beispiel: Ein Mann träumt, dass sich der Sohn einer nahen Freundin, den er länger nicht gesehen hat, erbricht. Er wundert sich über diesen Traum, versucht die Freundin anzurufen, kann sie aber…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

gesehen hat, erbricht. Er wundert sich über diesen Traum, versucht die Freundin anzurufen, kann sie aber nicht erreichen. Ein paar Tage später erfährt er von ihr, dass sie zum Zeitpunkt des Anrufs den Sohn zum Flughafen gefahren hat. Der Sohn war auf dieser Reise leicht erkrankt und konnte deswegen vorerst nicht zurückkehren. Diesen Traum und den Zustand der Mutter verbindet mehr als der zeitliche Zusammenhang und das Thema der Krankheit, nämlich ein Sinn: Sorge um den Jungen.

Die Idee der Synchronizität zählt zu den am schwierigsten zugänglichen, zugleich aber faszinierendsten und weitreichendsten Konzepten in der Psychologie von Carl Gustav Jung. Zusammen mit dem Physik-Nobelpreisträger Wolfgang Pauli entwickelte Jung über Jahrzehnte eine moderne Antwort auf die alte Frage nach der Verbindung von Geist und Materie. Im Versuch, Physik und Psychologie miteinander zu verknüpfen, schufen sie eine ­Diskussionsgrundlage, die bis heute beide Disziplinen beschäftigt. Dabei hat die Theorie durchaus Konsequenzen für die therapeutische Praxis.

Im Juni 2023 hat der Psychosomatiker und Analytiker Bernd Leibig ein Buch zum aktuellen Stand des Themas veröffentlicht. Im Gespräch mit seinem Kollegen Konstantin Rößler erläutert er seine Gedanken zum Phänomen.

Bernd, wann ist ein Ereignis eine Synchronizität und nicht „bloßer Zufall“?

Viele Menschen werden das Phänomen kennen, dass wir an einen Freund oder eine Freundin denken, mit dem oder der wir vielleicht schon lange nicht mehr in Kontakt waren, und genau in diesem Augenblick klingelt das Telefon und er oder sie ruft an. Dies sind gar nicht so selten auftretende Alltagssynchronizitäten, die in uns ein erstauntes Gefühl für ­unbewusste, rational nicht erklärbare Zusammenhänge im ­Hintergrund unserer Welt auftauchen lassen. Zunächst erscheint dieses Zusammentreffen wie ein Zufall.

Zur Synchronizität werden solche erstaunlichen Phänomene dann durch zwei Faktoren: zum einen dadurch, dass wir ihnen eine Bedeutung geben, dass wir sie bewusst wahrnehmen und nicht achtlos beiseitelassen. Wir können uns fragen: Welcher Sinn könnte in diesem scheinbaren Zufall liegen? Etwa die Frage: Habe ich die Beziehung vernachlässigt? Möchte und sollte ich sie wieder aktivieren?

Zum anderen wird ein solcher Anruf, der sehr unwahrscheinlich ist, durch die Gleichzeitigkeit des Denkens an die Person und durch die Tatsache des Telefonanrufs zur Synchronizität. Es kommt dabei nicht auf die ganz präzise Gleichzeitigkeit an, sondern auf einen gewissen zeitlichen Zusammenhang. Die beiden Ereignisse erfahren dann eine Verknüpfung, die in ihrem subjektiv erlebten Sinn besteht, aber eben nicht in einer erkennbaren Kausalität. Jung spricht von „ursachelosem Angeordnetsein“. In der Synchronizität können wir den Kairos spüren, den griechischen Gott des rechten Augenblicks. Die sinnhafte Bedeutung, die uns erfasst, die uns erfüllt und vielleicht aufrüttelt: Sie macht den Unterschied. Das ist Synchronizität. Damit ist Synchronizität mehr als Zufall. Sie ist definiert als etwas, das auf einen Sinn hinweist.

Der Titel deines Buchs lautet Unfassbare Synchronizität. Warum ist sie unfassbar?

Zum einen geht es um das Erstaunliche, das Frappierende, das Unglaubliche, das uns im Zusammenhang mit synchronistischen Ereignissen erfasst – wenn wir sagen: „So etwas gibt es doch gar nicht!“ Ein weiterer Punkt liegt in der Irritation: Die üblichen rationalen und kausalen Erklärungsmuster, wie wir die Welt verstehen, greifen nicht mehr. Wir können Synchronizitäten eben oft nicht fassen. Unser gewohntes Erklärungsmodell der Welt wird durch ein synchronistisches Geschehen gestört, gerät vielleicht für kurze Zeit aus den Fugen. Das kann uns verunsichern, es trägt aber auch Chancen in sich.

Wie kam Jung selbst auf das Konzept der Synchronizität, welche Beobachtungen haben ihn dazu geführt?

Jung empfand eine Enge unseres Geistes durch die strikte Getrenntheit zwischen Geist und Materie im kartesianischen Weltbild, das er erweitern wollte. Ein zentraler Begriff der analytischen Psychologie, die Jung entwickelt hat, ist der der Ganzheit. Ihn beschäftigte die Frage: Wie können wir ein ganzheitlicheres Erleben der Welt finden? In diesem Sinn suchte er nach einer Erweiterung des Weltmodells. Rationalität, Kausalität und Wiederholbarkeit von Versuchen sind die Grundlage unseres wissenschaftlichen Welterkennens, aber sie allein reichen eben nicht aus. Deshalb ging es ihm darum, unsere subjektiven Faktoren des Welterlebens mehr einzubeziehen, das, was wir heute vielleicht als Bauchgefühl bezeichnen würden.

Jung hatte eine Patientin in Behandlung, die sehr rational ausgerichtet war und mit der der therapeutische Prozess ins Stocken gekommen war. Er war bereits der dritte Therapeut, den die junge Frau aufgesucht hatte, und auch er schien mit ihr nicht voranzukommen. Dann erzählte die Patientin eines Tages von einem Traum, in dem sie einen goldenen ägyptischen Skarabäus geschenkt bekam. Jung saß mit dem Rücken zum Fenster. Da klopfte es ans Fenster, Jung drehte sich um und sah einen Käfer, und zwar einen, welcher der nächste europäische Verwandte des Skarabäus ist. Er öffnete das Fenster, ergriff ihn, reichte ihn der Patientin und sagte: „Hier haben Sie Ihren Skarabäus.“ Die Patientin war zutiefst erstaunt und dieser Moment eröffnete eine Wendung der Therapie in andere Bereiche hinein. Ab diesem Zeitpunkt konnte sie ihre rationalisierende Abwehr lockern und sich den emotionalen und irrationalen Seiten ihrer Psyche öffnen. Das war so ein Schlüsselerlebnis für ihn.

Schon Wolfgang Pauli und C.G. Jung mussten sich damit auseinandersetzen, dass ihr Synchronizitätskonzept von esoterischen Welterklärungsmodellen herangezogen wurde. Wo lässt sich hier eine seriöse Grenze ziehen?

Dieser Aspekt, nicht in leicht-flockige Esoterik zu verfallen, ist mir sehr wichtig. Sowohl Jung als auch Pauli waren sich der Fallstricke bewusst, die im Umfeld der Synchronizität auftreten können. Pauli etwa schrieb eindrücklich: „Nach meiner Ansicht ist es nur ein schmaler Weg der Wahrheit [...], der zwischen der Szylla des blauen Dunstes von Mystik und der Charybdis eines sterilen Rationalismus hindurchführt. Der Weg wird immer voller Fallen sein, und man kann nach beiden Seiten abstürzen.“ Auch Jung betonte immer wieder das Primat der rationalen Nachvollziehbarkeit. Wir betrachten die Synchronizität stets im Umfeld von zwei anerkannten Wissenschaften: der Psychologie und der Quantenphysik. Wir müssen uns dabei der „Absturzgefahren“, die Pauli benennt, immer bewusst bleiben. Aber wir sollten, nur weil es schwer fassbar ist, diese Dimension nicht einfach ausblenden.

Eine Verbindung zwischen Psychologie und Quantenphysik – das klingt doch auf den ersten Blick ziemlich irritierend. Worin besteht denn die Parallele, und sieht sich das Synchronizitätskonzept damit in Konkurrenz zum kausalen Weltbild der klassischen Physik?

Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Das Kausalitätsprinzip – also das Ursache-Wirkung-Prinzip – bleibt selbstverständlich auf der Ebene unserer Alltagswirklichkeit erhalten. Wenn ich eine Billardkugel anstoße, so ist und bleibt dies durch meinen Anstoß kausal verursacht. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Anders verhält es sich auf der quantenphysikalischen Ebene. Diese Ebene erscheint so verrückt, dass unsere üblichen Kriterien von Kausalität, von Verursachung und von Effekt nicht mehr gültig sind. Auf dieser Ebene des Allerkleinsten geschehen die Dinge ursachelos.

Darin liegt die zentrale Parallele zwischen der quantenphysikalischen Ebene und dem ursachelosen Angeordnetsein psychischer Phänomene, die wir in der Synchronizität beobachten können. Dies widerstrebt unserem Bedürfnis nach Kausalität. Und dennoch müssen wir diese Ursachelosigkeit auf einer tieferen materiellen wie psychischen Ebene zur Kenntnis nehmen. Ein Satz von Anton Zeilinger aus Wien, dem Physik-Nobelpreisträger 2022, hat mich sehr beeindruckt: „Das einzelne Beobachtungsergebnis ist rein zufällig, ohne verborgene Ursache. Es ist nicht nur so, dass wir nicht wissen, was die Ursache wäre, sondern es ist vielmehr so, dass wir sehr gute Gründe für unsere Ansicht haben, dass es keine Ursache gibt. Das ist wohl die faszinierendste Konsequenz der Quantenphysik.“

Jung und Pauli haben das Konzept der Synchronizität gemeinsam entwickelt. Was hat einen Psychologen zur Physik geführt und noch viel mehr einen Physiker in die Psychologie?

C.G. Jung beschäftigte die Frage, ob psychische Phänomene eine Entsprechung oder Verankerung in der Materie haben müssen, letztlich die Thematik von Geist und Materie. So entwickelte er erste Ideen zur Synchronizität. Der 25 Jahre jüngere Wolfgang Pauli war theoretischer Physiker und seit den 1920er Jahren ein bedeutender Mitentwickler der Quantenphysik. Er bekam 1945 den Physik-Nobelpreis.

Pauli befand sich als junger Mann in einer tiefen persönlichen Krise und suchte therapeutische Hilfe bei Jung. Seine Motivation beschreibt er ziemlich treffend in einem Brief: „Ich nahm wegen gewisser neurotischer Phänomene Kontakt zu Herrn Jung auf. Sie hatten mit der Tatsache zu tun, dass es einfacher ist, akademische Erfolge zu erzielen, als Erfolge bei Frauen zu haben. Da bei Herrn Jung das Gegenteil der Fall ist, schien er mir der richtige Mann zu sein, mich ärztlich zu behandeln.“ Jung erkannte umgekehrt, dass der intuitiv begabte Pauli ganz wesentlich sein könnte für die Ausarbeitung seines Konzepts der Synchronizität, und verwies ihn zunächst an eine Kollegin, um das nicht zu vermischen. In der Folgezeit blieben sie über 25 Jahre in einem sehr intensiven Austausch, in dem die Synchronizitätsidee entwickelt wurde.

Bedeutet die Offenheit für Synchronizitäten dann nicht auch ein Plädoyer für das Ernstnehmen der Intuition?

Unbedingt, es geht darum, dass wir das gefühlshafte Erleben der Intuition ernster nehmen, als wir es meistens tun, auch als Konsequenz für unser tatsächliches Handeln wie in dem Beispiel zu Anfang: Wie möchte ich damit umgehen, dass ein unwahrscheinlicher Anruf geschah?

Welche Verbindungen der Synchronizität zu anderen Disziplinen gibt es, zum Beispiel zur Neurophysiologie?

Es gibt neben den erwähnten Zusammenhängen noch eine ganz andere Dimension. Die Synchronizität ist ein notwendiges neurobiologisches Organisationsprinzip in unserem Gehirn, ohne das es kein sinnvolles und kohärentes Wahrnehmen und Erkennen unserer Welt und unseres Ichs gibt.

Ein Beispiel dazu: Wir haben in unserem Gehirn eine kaum vorstellbare Anzahl von ungefähr 90 Milliarden Neuronen, die miteinander verschaltet sind. Trotz dieser unüberschaubaren Dimension reicht die Kapazität nicht aus, um in unserem Kopf eine kohärente, sinnvolle Vorstellung von der Welt und von unserem Selbst zu erzeugen. Eine Lösung dieses Problems besteht darin, dass die Zeit als weiterer Parameter eingeführt wird, um zusammenhängende und damit sinnhafte Repräsentationen in unserem Gehirn zu erzeugen. Das Gehirn macht sich die Tatsache zunutze, dass die Informationen gleichzeitig ankommen und die Hirnareale gleichzeitig aktiviert sind und dadurch synchronisiert werden.

Diese Tatsache der Gleichzeitigkeit wird als zusätzliche Information benutzt und in Bedeutung umgesetzt. An einem ­Beispiel erklärt: Ich sehe ein blaues Buch. Das Gehirn sagt sich: Wenn die Areale für Kante, Bläue und Dicke synchron aktiviert sind, muss es sich hier um etwas Sinnvolles, ­Zusammengehöriges handeln; in diesem Fall um ein blaues, dickes Buch. Zusätzlich zu den synaptischen ­Verschaltungsprozessen findet also auch durch zeitliche Synchronisierung von neuronalen Zellverbänden die Integration zu einem erkennbaren und sinnvollen Ganzen statt.

Ein häufiges Missverständnis bezüglich der Synchronizität besteht darin, dass psychologische und quantenphysikalische Phänomene einfach einander gleichgesetzt werden. Handelt es sich nicht vielmehr um reine Analogien, wenn auch sehr erstaunliche?

Für die Frage bin ich sehr dankbar, weil wir differenzieren müssen, dass es nicht um eine einfache Gleichsetzung von Geist und Materie geht, sondern dass es Grundprinzipien gibt, welche die Welt durchwirken. Und da stoßen wir eben im Prinzip des „ursachelosen Angeordnetseins“ auf diese erstaunliche Analogie zwischen quantenphysikalischen Erkenntnissen und synchronistischen Phänomenen.

Der Physiker Hans Peter Dürr sprach an der Stelle von „Wirks“. Diese Wortschöpfung ist Ausdruck davon, dass wir ab einer bestimmten Ebene nur noch feststellen können, dass etwas wirkt, wir aber keine Aussagen mehr darüber treffen können, warum und wie diese Wirkungen sich ereignen. Das betrifft die anorganische Welt wie die belebte Natur gleichermaßen, ist also auch unabhängig davon, ob wir uns auf den Geist oder die Materie beziehen.

Das klingt theoretisch alles sehr spannend, aber was haben wir davon für unseren Alltag? Und wie können wir Synchronizitäten für die psychotherapeutische Arbeit in der Praxis nutzen?

Sehr häufig. Wie in dem anfangs genannten Beispiel kann es hilfreich sein, eine Beziehung darauf zu prüfen: Was will ich da? Oder ich kann nach einem synchronistischen Erlebnis mein eigenes, vielleicht allzu gefestigtes Weltbild hinterfragen, ob ich mich in meinen eigenen Überzeugungen zu sehr verkruste, was gerade heute in politisch polarisierenden Zeiten eine große Rolle spielt. Es kann Fragezeichen setzen: Es könnte auch anders sein?

Die Beachtung von Synchronizitäten kann das Verständnis von uns selbst erweitern und uns damit etwas vollständiger werden lassen. Ich meine damit, dass uns Synchronizitäten genauer hinschauen lassen, gerade bei Themen, die wir bei uns selbst vernachlässigt haben. Dabei können wir in solchen Erlebnissen Hinweise und manchmal auch Lösungsvorschläge für unser Herangehen erhalten.

Im psychotherapeutischen Zusammenhang gilt das Gleiche: Offenheit für das Phänomen der Synchronizität. Nicht selten sind Patientinnen sehr vorsichtig, ihre Synchronizitäten zu erzählen, weil sie wegen der Außerrationalität fürchten, abgestempelt oder pathologisiert zu werden. Und die Menschen sind sehr erleichtert, wenn ich sie ermutige, dass wir gemeinsam versuchen, den möglichen inneren Sinn der Synchronizität zu erkennen. Das wäre dann der Gewinn: eine Öffnung gegenüber den eigenen innerseelischen Impulsen und Anteilen, die sonst verdrängt oder ausselektiert werden, eine Haltung der Offenheit, die Eröffnung eines Möglichkeitsraums. Wenn wir das auf die therapeutische Ebene herunterbrechen, dann geht es um den Gedanken: „Es ist ganz vieles möglich.“ Sowohl als Patienten als auch als Therapeutinnen kann es uns helfen, wenn wir uns nicht zu sehr einengen.

Besonders die Psychoanalyse ist hier manchmal gefährdet, uns zu sehr darauf festzulegen, dass wir durch die frühen Kindheitserfahrungen determiniert sind. Und gerade die Haltung der Offenheit für das Geschehende kann dazu führen, dass wir diesen Möglichkeitsraum, diese stete Fähigkeit zur Veränderung in uns erkennen können.

Kannst du dafür noch ein Beispiel aus der Praxis geben?

Ein eindrückliches Beispiel hat ein junger Arzt berichtet. Nach einem Nachtdienst, auf dem Weg zu seinem Auto fiel ihm auf einmal die Musik zu Brahms Requiem ein. Er wunderte sich, weil er das seit Jahren nicht mehr gehört hatte und die Melodie auf Kommando gar nicht hätte wiedergeben können. Auf dem Heimweg im Wald kam er an eine Stelle, an der ein Radfahrer zusammengebrochen war. Er stieg aus dem Auto und ein Unbekannter sprach ihn an: „Sie sind der Arzt!“ Er hatte eine Notarztausbildung und begann mit der Reanimation, bis der Hubschrauber eintraf. Trotzdem verlief die Wiederbelebung erfolglos. Im Text des Brahms-Requiems geht es sehr stark um das Wandlungsmotiv im Tod.

Das Zusammentreffen, diese Musik zu erinnern und mit dem Tod so unmittelbar konfrontiert zu sein, hat ihn anschließend sehr intensiv beschäftigt, weil er in seinem eigenen Leben gerade an einem existenziellen Wendepunkt angekommen war. Dass der Tod nicht einfach das Ende, sondern auch Wandlung bedeuten kann und dass darin ein Trost zu finden ist, wie es auch im Requiem heißt, war dabei eine große Hilfe und zugleich eine Bestätigung für den eigenen schwierigen Weg.

Worin liegen die Gefahren im Umgang mit Synchronizitäten? Wo, würdest du sagen, wird über das Ziel hinausgeschossen?

Eine Gefahr liegt im irrationalen Abdriften. Jung sagte ­einmal sinngemäß: Wenn wir rationale Erklärungen für bestimmte Phänomene haben, sollen wir sie nicht synchronistisch erklären. Es geht also darum, die Bodenhaftung nicht zu verlieren. Also nicht in allem eine Synchronizität sehen zu wollen, wenn wir eine andere vernünftige Erklärung haben.

Gehört zur Synchronizität das Staunen?

Ja, das Staunen gehört zur Synchronizität. Mit dem Staunen berührt uns die Synchronizität auf einer tiefen emotionalen Ebene. Mich selbst erfasst das synchronistische Erstaunen immer wieder – bis heute.

Bernd Leibig, der Autor von Unfassbare Synchronizität, ist Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychothera­pie in Ammerbuch-Entringen bei Tübingen. Er ist tätig als Lehranalytiker, Supervisor und Dozent, als Psychodrama-, Paar- und Traumatherapeut.

Konstantin Rößler ist Vorsitzender der Internationalen Gesellschaft für Tiefenpsychologie. Er arbeitet als Arzt für innere Medizin, tiefenpsychologischer und analytischer Psychotherapeut und ist Lehranalytiker, Supervisor und Dozent am C.-G.-Jung-Institut Stuttgart.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2024: Von hier aus kann ich meine Sorgen kaum noch sehen