Wie kann ein gutes Leben gelingen?

Wir leben so gut wie nie zuvor und sind trotzdem unglücklich, behauptet der Medizinethiker Giovanni Maio. Ein Grund sei die Kultur der Leidvermeidung.

Eine junge Frau liegt auf der Couch, den Kopf auf ein Kissen gelegt, und hält sich leidend die Hand an die Stirn, während sie die Augen geschlossen hat
Ein leidloses Leben ist nicht möglich. Doch man kann lernen, damit umzugehen. © Maria Korneeva/Getty Images

Sie sind ein großer Kritiker der modernen Medizin. Was läuft falsch?

Die Medizin versteht sich als angewandte Naturwissenschaft. Dadurch konzentriert sie sich fast ausschließlich darauf, den Körper zu verändern, ihn zu reparieren oder gar zu optimieren. Auf diese Weise erklärt sie die Veränderung zum Selbstzweck und verfällt in Aktionismus. Statt sich allein der steten Veränderung hinzugeben, sollte die moderne Medizin mehr auf Besinnung setzen, weil nur dadurch dem Menschen wirklich geholfen werden kann.…

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die moderne Medizin mehr auf Besinnung setzen, weil nur dadurch dem Menschen wirklich geholfen werden kann. Die Verbindung von Naturwissenschaft, Technik und Ökonomie ist verhängnisvoll. Die Medizin kennt nur den Fortschritt, sie möchte immer voranschreiten, weil das Voranschreiten als Wert an sich betrachtet wird.

Was ist daran problematisch?

Dass die Medizin voranschreitet, ohne darüber nachzudenken, in welche Richtung sie das tun will.

Welche Richtung wäre denn richtig?

Einerseits muss die Medizin befähigt sein, die Funktionsfähigkeit des Körpers wiederherzustellen, wo es geht. Aber wenn sich die Medizin allein darauf beschränkt, hat sie ihren Auftrag nicht wirklich erfüllt. Sie muss eben auch dazu verhelfen, einen guten Umgang mit der unabänderlichen Krankheit oder den gegebenen Grenzen des Könnens zu finden. Wenn es aber darum geht, sich mit dem unabänderbaren Leid in irgendeiner Form anzufreunden, zeigt sich die Hilflosigkeit der modernen Medizin.

Muss man den guten Umgang mit Leid ausgerechnet vom Arzt lernen? Gibt es nicht genug andere Disziplinen, die helfen können?

Es gibt viele Disziplinen, die dem Menschen im Leid helfen können. Das Problem entsteht, wenn ein Patient mit seinem Leid auf die Medizin zukommt. Denn die Medizin hat nur eine Methode parat, die sie fortlaufend perfektioniert: die der Leidvermeidung. Implizit verspricht sie, durch Medikamente und Technik das Leid in den Griff zu bekommen. So entsteht die Erwartung der Öffentlichkeit, dass es gegen jedes Leid irgendeine Methode gebe. Medizin und Gesellschaft stehen ja in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander. Die Medizin ist Teil der Gesellschaft und damit geprägt durch gesellschaftliche Erwartungen, soziale Verhältnisse und bestimmte Grundkonzeptionen des guten Lebens. Umgekehrt prägt die Medizin selbst die Erwartungshaltung der breiten Öffentlichkeit.

Ist die Hoffnung auf ein Leben ohne Leid so unberechtigt?

Ein leidloses Leben ist gar nicht möglich. Wir können nicht leben, ohne auch Leid zu empfinden. Leiden ist Teil der Existenz, weil der Mensch grundsätzlich ein verletzliches, ein angewiesenes Wesen ist. Darum kann man nicht umhin, einen guten Umgang mit dem Leid zu lernen.

Und diesen guten Umgang haben wir verlernt?

Es ist paradox: Die Menschen führen heute ein so gutes Leben wie nie in der Menschheitsgeschichte. Dennoch gehören sie zu den Unglücklichsten, die je existiert haben. Denn der moderne Mensch ist innerlich verarmt. Er hat weder die Stärke noch die Kraft, die Dinge, die er nicht ändern kann, als solche anzunehmen. Das ist der größte Schwachpunkt des modernen Menschen.

Woher kommt diese Schwäche?

Das hat eine Reihe von Gründen. Jean-Paul Sartre sagte einmal: Der Mensch ist das, was er aus sich macht. Viele Menschen teilen seine Vorstellung. Man ist frei von religiösen Konventionen, die Politik überlässt dem Einzelnen die allermeisten Entscheidungen. Jeder definiert sich über seine eigenen Wünsche und Vorhaben. Das ist gefährlich. Denn es bedeutet auch, dass man etwas aus sich machen muss.

Sein Leben selbst in die Hand nehmen zu dürfen ist beklagenswert?

Nicht grundsätzlich. Das große Problem ist, dass der moderne Mensch nicht nur glaubt, für sein Leben verantwortlich zu sein. Er ist auch davon überzeugt, ein gelingendes Leben vorweisen zu müssen. Er hat die Konzeption des Homo oeconomicus so weit verinnerlicht, dass er sich nicht nur im Beruf, sondern auch im privaten Bereich als Unternehmer seiner selbst betrachtet.

Er meint, der Wert seines Seins bemesse sich danach, was er, für alle messbar, zu leisten vermag. Man müsse als starker, erfolgreicher Alleskönner in Erscheinung treten, um Anerkennung zu finden. Nur sein Erfolg mache ihn aus Sicht der anderen zu einem wertvollen Menschen. Daher das gebrochene Verhältnis zu seiner Verletzbarkeit, zu seiner Angewiesenheit und seiner Unvollkommenheit. Er unterliegt einer Tyrannei des Gelingens.

Andererseits lässt man sich coachen und therapieren, outet sich mit seinen Defekten, holt sich im Internet von anderen Unterstützung. Schwäche und Versagen sind doch längst ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.

Ja, aber in einer fatalen Weise. Nämlich als Schwächen, die vermieden werden sollen. Gerade der moderne Trend, sich coachen zu lassen und an einem perfekten Auftritt zu arbeiten, ist der Versuch, persönliche Schwächen geschickt zu kaschieren, in der Annahme, dadurch auf dem Markt besser anzukommen.

Aber das ist ein Irrtum. Man wird nicht glücklich, indem man sich in die Tretmühle des stetigen Sichverbesserns begibt. Würde ich nach den Kriterien des Marktes argumentieren, müsste ich sagen: Interessant und attraktiv ist ohnehin immer nur der Mensch, der etwas Außergewöhnliches an sich hat.

Was der breiten Masse nicht gelingen kann.

Genau. Je mehr der Mensch versucht, seine Schwächen zu vertuschen, desto mehr nivelliert er sich und wird zum Standardmenschen. Er passt sich an, normiert sich und vergisst dabei, er selbst zu sein, er in seiner Unverwechselbarkeit. Seine Wünsche und Vorhaben sind nicht die seiner authentischen Person, sondern die verinnerlichten Erwartungen des Kollektivs. Wir haben es mit einer ständigen Inszenierung des Ichs zu tun. Es geht weniger um die inneren Werte als um das richtige Aussehen, die optimale Performance.

Der moderne Mensch muss sich stilisieren, sonst wird er nicht anerkannt. Das ist ein Verlust der Authentizität. Ein Verlust des Selbstseins, des Ichseins. Ich plädiere dafür, nicht so sehr darauf zu achten, sich keine Blöße zu geben, sondern darüber nachzudenken, was die eigene Persönlichkeit eigentlich ausmacht.

Unterliegt nicht jede Gesellschaft einem Normierungsdruck, der sie andererseits auch zusammenhält?

Sicher. Neu ist allerdings, dass wir dem normierenden Verdikt des Gelingens unterliegen und uns dennoch für individuell halten und glauben, alles in der Hand zu haben, uns selbst nach Belieben formen und auch das Glück managen zu können. Statt das Leben als eine Überraschung und die Begegnungen mit anderen Menschen als Bereicherung zu betrachten, geht es heute um die Frage, was man tun muss, um erfolgreich zu sein.

Dabei vergisst der Mensch, wirklich zu leben. Wenn man meint, eine Stilisierung seiner selbst vornehmen zu müssen, ist das eine Entfremdung. Von den anderen, aber auch von sich. Weil der Mensch kein Gefühl mehr dafür hat, was er eigentlich ist.

Das Gelingen des eigenen Lebens wurde allerdings schon immer gern inszeniert. Die Kinder- und Enkelschar, das Haus, der Hof, das Geschäft: Das waren doch alles Marker des Erfolges.

Natürlich. Keine Entwicklung ist vollkommen neu. Es geht immer um Grundsehnsüchte, Grundängste, Grundbefindlichkeiten. Aber die Gewichtung ist jeweils anders. Der Mensch hat immer nach Geltung und Anerkennung gestrebt. Allerdings ist die Rückbindung der Anerkennung an Leistungsfähigkeit und Jugendlichkeit etwas Spezifisches für heute und für unsere Gesellschaft des Homo oeconomicus.

Diese modernen Ideologien können wir uns vergegenwärtigen, wenn wir den älteren Menschen betrachten. Die Antike hat den alten Menschen hoch geschätzt als einen Menschen mit Weitsicht. Seine Weisheit, seine Unbestechlichkeit: Das war etwas ganz Besonderes, Altsein eine Form der Gnade, ein Geschenk. Heute ist gutes Altsein fittes Altsein. Die Leistungsideale des mittleren Lebensalters werden zum Paradigma des gesamten Lebens. Das ist eine Engführung.

Wie könnte das Alter noch gesehen werden?

Der alte Mensch verliert zwar in manchen Dingen die Geschwindigkeit und Mobilität, aber er hat andere Kompetenzen. Er hat eine größere Übersicht. Seine fehlende Zukunft verleiht ihm eine Unbestechlichkeit des Blicks.

Wenn jemand nichts mehr zu verlieren hat, erkennt er die Wahrheit. Er weiß um die Relativität der Vorlieben. Er weiß, dass das, was man heute für unabdingbar hält, sich morgen ändern kann. Er weiß um die Relativität der vermeintlich wichtigen Dinge und hat einen stärkeren Blick für das, worauf es im Leben wirklich ankommt. Das ist sein Vorzug.

Heute packt der ältere Mensch eher die Walkingstöcke aus …

… und möchte mit den jugendlichen Menschen mithalten, statt sich darauf zu besinnen, wer er ist. Die Chance des Altseins kann auch darin liegen, einfach zu sein. Da zu sein. Das ist etwas, das man heute nicht mehr kennt. Das einfachhin Dasein, am besten Dasein für andere, das ist eine neue Bedeutsamkeit, die man wieder erlernen muss.

Können Einzelne hier überhaupt etwas ändern?

Man hat als Einzelner immer viele Möglichkeiten, Signale zu setzen, einfach durch die Art, wie man lebt. Der alte Mensch ist es, der etwas lehren kann, eine neue Sicht auf die Welt. Sein Verhalten und sein vorgelebtes Leben prägen die künftigen Generationen.

Auch der alte, kranke Mensch hat etwas zu geben?

Aber natürlich! Gerade alte und auch kranke Menschen zeigen uns, was der Mensch ist. Stellen Sie sich vor, es gäbe keine gebrechlichen Menschen: Was wäre das für eine Gesellschaft? Ein gebrechlicher Mensch zeigt uns, dass er einen Weg findet, ein gutes Leben zu führen – auf Krücken. Die Vorstellung, dass das Glück zu Ende ist, wenn man nur noch auf Krücken gehen kann, ist ein großer Irrtum und der Anfang des Unglücks.

Wir können in dieser Hinsicht noch sehr viel lernen. Es fehlen Vorbilder in der Bewältigung der Angewiesenheit. Menschen, die uns vormachen, wie man in der extremsten Angewiesenheit ein gutes Leben führen kann.

Wie sähe so ein gutes Leben aus?

Das gute Leben bestünde darin, noch im Angesicht der eigenen Angewiesenheit ein Residuum seiner Persönlichkeit zu bewahren. Sofern Menschen dieses Residuum zum Ausdruck bringen können, werden sie nicht unglücklich sein. Es geht um einen Paradigmenwechsel: Wir leben in einer Kultur der Autonomie, aber wir brauchen eine Kultur der Angewiesenheit. Man kann sich verwirklichen in den kleinsten Horizonten, die offenbleiben, so lange man lebt, vorausgesetzt es gibt Menschen, die einem dabei helfen.

Was hindert uns daran?

Der Mensch ist getrieben zum Vollzug eines Lebens, das gar nicht seines ist. Er begeht einen Kardinalfehler, wenn er das ganze Leben unter dem Aspekt des Nochnicht betrachtet. Noch mehr, noch besser, immer weiter: Wer so denkt, übersieht völlig, was ihm zu Füßen liegt. Wir haben den Blick für das Eigentlichste des Menschseins verloren.

Was ist das?

Es ist das Elementarste, nämlich das Leben selbst. Was für ein Geschenk ist es, dass es uns überhaupt gibt! Ich wundere mich immer, wie Menschen unglücklich sein können ob einer vermeintlich fehlenden Perfektion, und dabei vollkommen übersehen, dass ihnen der größte Reichtum ja bereits geschenkt wurde: das Leben.

Was müsste sich ändern?

Es müsste ins Bewusstsein dringen, dass wir nur glücklich werden können, wenn wir etwas neu erlernen, was für das gute Leben unabdingbar notwendig ist, nämlich eine tiefe Form von Dankbarkeit für das Sein. Nicht Dankbarkeit für das, was wir können, sondern allein für das, was wir sind. Wenn wir uns darauf besinnen, werden wir mit den Widrigkeiten des Lebens auch anders umgehen können, weil wir wissen: Dieses Leben ist uns geschenkt.

Konnten das frühere Generationen besser?

Besser als heute. Aber ich vertrete keinen Kulturpessimismus. Der Mensch hat nach wie vor ein Sensorium für große Werte und eine Sehnsucht danach. Aber der Blick darauf ist verstellt. Er sediert sich durch Aktivismus, um bloß nicht daran erinnert zu werden, worauf es ankommt. Deswegen plädiere ich für eine neue Form der Besinnung.

In den Religionen gibt es Rituale der Besinnung und Möglichkeiten, Dankbarkeit in Gebete fließen zu lassen. Geht es Ihnen darum, religiöse Praktiken zu rehabilitieren?

Rituale können natürlich helfen. Aber Ziel kann nicht sein, Rituale zu entwickeln, sondern wichtig wäre, zu einem neuen Selbstverständnis zu finden. Nicht mehr mit dem Blick der Begehrlichkeit auf die Welt zuzugehen, sondern den Blick für das zu schärfen, was bereits da ist. Wenn das gelingt, wird alles mit einer neuen Gelassenheit getan werden können.

Auch mit dem Thema Gelassenheit lässt sich längst Geld verdienen. Kein Lebensberater, der nicht Gelassenheit anmahnt. Ist Ihnen das suspekt?

Das ist mir suspekt, ja. Dann jedenfalls, wenn Gelassenheit als Mittel zum Zweck gehandelt wird. Wer sagt: Ich muss jetzt gelassen sein, um dies und jenes zu erreichen, steht einer echten Gelassenheit im Wege.

Inwiefern?

Gelassenheit ist eine Grundeinstellung zum Leben. Sie unterscheidet scharf zwischen dem, was wir in der Hand haben und beeinflussen können, und dem, was nicht zu ändern ist. Viele Menschen werden dadurch unglücklich, dass sie letztlich keinen guten Umgang finden mit dem Unabänderlichen. Echte Gelassenheit ist die Annahme dessen, was nicht zu ändern ist. Sie befähigt, das Gegebene als Gegebenes anzunehmen. Das ist ein aktiver Akt.

Die Antike kannte die Gelassenheit, Demokrit hat sie entwickelt, die Stoa hat sie ausbuchstabiert, Seneca ist einer ihrer großen Vertreter. Die Antike führte vor Augen, wie wichtig es für das Glück des Menschen ist, an seiner inneren Einstellung zu arbeiten. Die Stoa sagte: Um zu können, was wir wollen, müssen wir wollen, was wir können. Das heißt: Wenn wir unseren Willen auf das richten, was wir können, werden wir glücklich sein.

Je mehr wir aber unterschiedslos alles Mögliche begehren, desto unglücklicher werden wir. Deswegen müssen wir nicht so sehr an der Veränderung der Welt arbeiten, sondern an der Veränderung des Bewusstseins.

Ein tatsächlich gelungenes Leben wäre dann – im Gegensatz zu einem Leben, das unter dem Verdikt des Gelingens steht – …

… das Leben, das als in sich wertvoll betrachtet wird, bis zum letzten Atemzug.

Giovanni Maio, geboren 1964 in San Fele (Italien), ist Mediziner und Philosoph. 2005 hat er seine Tätigkeit als Professor für Bioethik und Medizinethik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg aufgenommen. Dort leitet er außerdem das interdisziplinäre Ethikzentrum. Zuletzt erschienen: Mittelpunkt Mensch: Ethik in der Medizin. Ein Lehrbuch. Schattauer, Stuttgart 2011.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2013: Ich kann auch anders!