Der Schriftsteller Karl May behauptete, mehr als 1200 Sprachen und Dialekte zu verstehen. Er gab sich selbst hartnäckig als seine Romanfigur Old Shatterhand aus und berichtete anschaulich aus fernen Ländern, die er nie bereist hatte. Auch Goethe schreibt in seiner Autobiografie mit dem vielsagenden Titel Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit von einem jugendlichen „Trieb“, von allerlei Abenteuern zu erzählen, die er nie erlebt hatte. „Und wenn ich nicht nach und nach, meinem Naturell gemäß, diese…
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Abenteuern zu erzählen, die er nie erlebt hatte. „Und wenn ich nicht nach und nach, meinem Naturell gemäß, diese Luftgestalten und Windbeuteleien zu kunstmäßigen Darstellungen hätte verarbeiten lernen, so wären solche aufschneiderische Anfänge gewiß nicht ohne schlimme Folgen für mich geblieben.“
33 Lügen pro Woche
Menschen schwindeln bisweilen. Befragungen kamen zu dem Ergebnis, dass wir im Durchschnitt ein- bis zweimal pro Tag einem anderen Menschen eine Lüge auftischen. Männer übrigens häufiger als Frauen und Menschen aus höheren sozialen Schichten häufiger als solche mit niedrigem Einkommen.
Zwei Lügen pro Tag also. Je nachdem, wen man fragt, erscheint die Zahl den einen überraschend hoch, den anderen zu niedrig. Die amerikanischen Psychologen Drew Curtis und Christian Hart, die seit Jahren zum Lügen forschen, gehen davon aus, dass diese Durchschnittszahl zumindest täuscht. Denn offenbar sind es einige wenige Menschen, die einen Großteil der Lügen fabrizieren. Demnach kommen rund 95 Prozent der Menschen auf einen Mittelwert von nur zwei Lügen pro Woche, fünf Prozent dagegen auf 33 Lügen im gleichen Zeitraum. Mit anderen Worten: Die meisten Menschen lügen selten, einige wenige lügen ganz schön oft.
Menschen, die – wie Karl May – sehr häufig lügen und bei denen die vielen Lügen den Job gefährden oder sogar die Beziehung zerstören, werden als „pathologische Lügner“ bezeichnet – eine allerdings etwas unscharfe Kategorie, die nicht in den großen Diagnostikhandbüchern ICD und DSM aufgeführt ist. Drew Curtis und Christian Hart, die den Erkenntnisstand der Forschung in ihrem Buch Pathological Lying zusammengetragen haben, halten pathologisches Lügen gleichwohl für eine handfeste psychische Störung und plädieren dafür, sie als eigenständige Diagnose anzuerkennen.
Allerdings ist nicht jeder, der viel lügt, ein pathologischer Lügner, stellt Drew Curtis im Gespräch klar. „Viele stört es ja gar nicht, dass sie so viel lügen. Ein pathologischer Lügner dagegen leidet unter seinen Lügen, er bereut sie und fühlt sich schuldig.“ Die meisten krankhaften Lügner verbergen ihren Kummer jedoch selbst vor dem engsten Umfeld. Schließlich würde ein Eingeständnis auch bedeuten, das viele Schwindeln zugeben zu müssen.
Wenn alles ans Licht kommt
Was passieren kann, wenn man als Lügner entlarvt wird, hat auf dramatische Weise der Theaterproduzent Christopher Massimine erlebt. Als junger Mann legte er eine steile Karriere hin, er arbeitete als Geschäftsführer am National Yiddish Theatre Folksbiene in New York und wurde mit nur 33 Jahren geschäftsführender Direktor der Pioneer Theatre Company in Salt Lake City. Bis vor zwei Jahren seine Welt zusammenbrach.
Der Lokalsender Fox 13 und die Salt Lake Tribune recherchierten, dass Massimine in seinem Lebenslauf falsche Angaben gemacht hatte, dass er fälschlicherweise behauptete, den Toni Award erhalten zu haben sowie den Preis einer Organisation, die gar nicht existierte. Die peinlichen Enthüllungen machten national die Runde, selbst die New York Times berichtete. Die Medaille, die ihm angeblich in Washington verliehen worden war, soll er sich selbst gekauft haben. Und damit nicht genug, auch im Privaten kamen zahlreiche Lügengeschichten ans Licht, wie Massimine im Videogespräch bestätigt.
Der König der Lügen
Christopher Massimine verlor fast alles, seinen Job, seinen guten Ruf in der Theaterszene, viele Freunde und vor allem seine Glaubwürdigkeit. Nur seine Ehefrau und ein paar Freunde stehen weiterhin zu ihm. Nun will Massimine neu anfangen und hat eine Psychotherapie begonnen. Er will verstehen, was ihn immer wieder dazu treibt, Lügen zu erzählen.
Er kann sich noch gut an seine erste Lüge erinnern. Als Grundschüler kam er ausnahmsweise einmal nicht mit einer Eins nach Hause. Um die große Enttäuschung seiner Eltern wiedergutzumachen, erzählte er ihnen am nächsten Tag, er habe auf der Schulbühne zusammen mit einem berühmten Schauspieler etwas aus dem Kinohit Der König der Löwen gesungen. Diese erste Lüge erfüllte ihren Zweck, seine Eltern waren stolz. „Ich habe mir lauter Einzelheiten ausgedacht: dass dieser Prominente gerade auf Tour war, dass es in unserer Schule einen Wettbewerb zum König der Löwen gab. Ich glaube, da hat es angefangen, dass das Lügen zu einem Schutzmechanismus für mich wurde, mit dem ich mich besser fühlen konnte“, sagt Massimine.
„Meine Lügen waren nie besonders geplant“, erzählt er. „Im Gegenteil, ich war oft überrascht und habe hinterher gedacht: O Gott, was habe ich da gesagt! Aber die Lügen haben mir ja geholfen, mich besser zu fühlen. Also habe ich die Lügen mit neuen Lügen gedeckt. Je mehr Zweifel bei den anderen aufkamen, desto mehr habe ich gelogen, um die ursprüngliche Lüge aufrechtzuerhalten.“
Schwindeln ist so normal wie Atmen
Hin und wieder ist natürlich eine seiner Lügen aufgeflogen, trotz aller Ausflüchte. Massimine hat dennoch weitergemacht, ohne über die möglichen Folgen nachzudenken. „Das Lügen ist für mich so normal geworden wie Atmen. Ich war wie süchtig danach.“ Aus einem Urlaub meldete er sich bei seiner Frau und behauptete, den Mount Everest zu besteigen – dummerweise postete er zur selben Zeit Bilder auf Facebook, die ihn keineswegs in eisigen Höhen, sondern im tropischen Kambodscha zeigten. Als Vorstand des Vereins „Immigrant Arts Coalition“ behauptete er, in Italien geboren zu sein. „Dabei war es doch ein besonderer Erfolg, dass ich aufgenommen wurde, ohne im Ausland geboren zu sein.“
Und als seine Ehe – wieder einmal – darunter litt, dass er wie besessen arbeitete und spät nach Hause kam, erzählte er seiner Frau, er habe eine Affäre mit Kourtney Kardashian. Mit anderen Worten, er täuschte einen Seitensprung vor, um ihren Vorwurf zu widerlegen, er sei ein Workaholic. „Aber es sind auch ganz banale Sachen. Wenn meine Frau mich fragt, ob ich den Müll runtergebracht habe, sage ich automatisch ja. Selbst wenn der pralle Müllbeutel direkt neben mir steht“, erzählt Massimine.
Vom Zwang geleitet
Oft ohne jeden erkennbaren Grund erfinden krankhafte Lügner ständig neue Geschichten und schießen dabei mit ihren fantasie- und detailreichen Schilderungen weit über das Ziel hinaus. Das bedeutet aber nicht, dass die Lügen für die Betroffenen nicht doch einen Zweck erfüllen. Wie bei Christopher Massimine geht es häufig darum, sich zu schützen, Aufmerksamkeit zu bekommen und vor allem darum, das Selbstwertgefühl zu steigern.
„Krankhafte Lügner sind wie getrieben. Sie unterliegen einem Drang zu lügen. Nicht umsonst spricht man in Frankreich von einer mythomanie“, sagt der Berliner Psychiatrieprofessor und Psychotherapeut Hans Stoffels, einer der wenigen, die sich in Deutschland mit dem Phänomen beschäftigen. Ähnlich wie Menschen mit Kleptomanie vom inneren Zwang geleitet werden, immer wieder Dinge zu stehlen, die sie gar nicht brauchen, müssen krankhafte Lügner und Lügnerinnen immer wieder Geschichten erfinden. „Es verschafft einem für den Moment Erleichterung. Doch ein paar Stunden später schämt man sich. Man weiß nicht, warum man es getan hat, und muss weitere Lügen erfinden, um nicht ertappt zu werden“, bestätigt Drew Curtis.
Helden oder Opfer
Typisch sind auf der einen Seite Heldengeschichten, sagt Stoffels. Jemand behauptet beispielsweise, sie arbeite als Ärztin in einem Entwicklungsland und sei nur kurze Zeit in Deutschland. Ein anderer behauptet, er habe viel Geld mit Börsengeschäften gemacht und damit ein Waisenhaus finanziert.
Aktuell beobachtet Hans Stoffels aber, dass immer häufiger Opfergeschichten im Vordergrund stehen, bei denen sich Menschen etwa als das Kind von Holocaustüberlebenden ausgeben oder als Opfer sexuellen Missbrauchs. Oder jemand erfindet, dass er bei einem Verkehrsunfall seine ganze Familie verloren hat und der einzige Überlebende ist. „Das sind Geschichten, mit denen jemand gegenwärtig viel Anerkennung auf sich zieht. Das, was erfunden wird, ist immer auch ein Spiegel der Gesellschaft“, sagt Stoffels.
Der tiefenpsychologisch orientierte Therapeut sieht den Ursprung pathologischen Lügens in der Kindheit und Jugend. Häufig fühlten sich Betroffene im Elternhaus nicht ausreichend aufgehoben und anerkannt. „Das Kind versucht, aus dem schmerzhaften oder schamhaften Erlebnis zu fliehen, indem es sich mithilfe seiner Fantasiebegabung eine andere Welt schafft. Es stellt sich beispielsweise vor, dass es gar nicht das Kind seiner Eltern ist. Oder es fantasiert, wie es wäre, wenn es schwer krank wäre und sich alle um es kümmern müssten“, sagt Stoffels. Die meisten Kinder lassen diese Träumereien schnell wieder los. Pathologische Lügner aber halten daran fest.
Koffer voller Viagra
Doch nicht nur die Betroffenen selbst leiden, auch für das Umfeld sind die Täuschungen schwer zu ertragen. Denis Duman wurde über zehn Jahre von seinem Partner belogen. „Mein Partner hat mir eine Illusion verkauft, in die ich mich sofort verliebt habe. Das Fundament unserer Beziehung waren Lügen“, sagt der 35-jährige Strategieberater.
Der Partner, nennen wir ihn Mats, gab sich gerne als bester Freund, bescheiden und großzügig, ein freundlicher Veganer, der mit allen gut konnte und niemals Streit mit anderen hatte. „Er war perfekt“, sagt Duman. „Ich habe von ihm sehr viel Liebe und Bestätigung bekommen. Wahrscheinlich habe ich deswegen die Augen verschlossen. Bis ich begriffen habe, dass es nur darum ging, sich ins bestmögliche Licht zu rücken, und zwar für ein möglichst großes Publikum.“
Wie viele Seitensprünge Mats in den zehn Jahren ihrer Beziehung hatte, kann Duman nur schätzen, Dutzende müssen es gewesen sein. Einmal flog Mats nach Mexiko. „Um sich selbst zu finden und sich spirituell weiterzuentwickeln, wie er sagte. Zufällig entdeckte ich, dass er den Koffer voller Viagra hatte.“ Als Mats mit Freunden im Italienurlaub war, machte Duman eine Probe. „Ich habe mich in eine Dating-App im gleichen Ort eingeloggt, an dem er war. Da konnte ich sehen, dass er Sex-Dates hatte.“
Geheiratet haben die beiden nie. Der Heiratsantrag war nur eine von zahlreichen falschen Versprechungen, die Mats äußerte. Sie würden einen tollen Urlaub zusammen verbringen, eine Wohnung in Spanien kaufen, er werde sogar den Nachnamen von Dumans verstorbener Mutter annehmen. Nichts davon setzte er um.
Mit wem war ich da eigentlich zusammen?
Beim Lügen ertappt, flüchtete sich Mats in neue Ausreden – neue Lügen, „mit denen er sein Selbstbild eines guten Menschen mit reiner Weste aufrechterhalten wollte“. Und wenn auch das nicht mehr half, brach Mats zusammen und weinte. „Aber sogar in solchen Momenten log er mir ins Gesicht.“ Im Rückblick muss Denis Duman feststellen, dass er den Menschen hinter der Fassade aus Lügen auch nach mehr als zehn Jahren wahrscheinlich nicht kannte. „Nun weiß ich, dass die Person, die ich geliebt habe, nie existiert hat.“ Inzwischen hat er die Beziehung zu Mats beendet.
Wir haben ein eher zweischneidiges Verhältnis zur Lüge. Denn obwohl es wohl kaum einen Menschen gibt, der nicht ab und zu lügt, lehnen wir es entschieden ab. Unsere Gemeinschaft basiert auf Kooperation und Vertrauen. Niemand möchte belogen werden und genauso wenig als Lügenbold dastehen. Das geht so weit, dass die meisten Menschen paradoxerweise sogar lügen würden, um ehrlich zu wirken.
In einem Experiment der Psychologin Shoham Choshen-Hillel an der Hebräischen Universität Jerusalem sollten sich die Eingeladenen vorstellen, sie hätten für einen beruflichen Auftrag 60 bis 90 Arbeitsstunden vereinbart. Dann wurden sie gefragt, wie sie sich verhalten würden, wenn sie am Ende tatsächlich 90 Stunden bräuchten, um den Auftrag zu erledigen. Die meisten der Befragten entschieden sich dafür, lediglich 85 Arbeitsstunden in Rechnung zu stellen, um nicht als betrügerische Person dazustehen, die das maximale Honorar fordert. Sie entschieden sich also, zu lügen und auf einen Teil ihres Lohns zu verzichten, um ehrlich zu erscheinen.
Humanitarian of the Year am Mount Everest
Denn die Reputation, vertrauenswürdig zu sein, hat einen hohen sozialen Wert. „Wenn die Umgebung das Vertrauen verloren hat, wird einem gar nichts mehr geglaubt“, sagt der als Schwindler geoutete Theaterproduzent Christopher Massimine. In der Öffentlichkeit gilt er jetzt als Betrüger. Es macht ihn wütend, dass seine beruflichen Verdienste nichts mehr gelten. „Meine Erfolge habe ich nicht durch Lügen erreicht, sondern durch harte Arbeit und weil ich immer mein Bestes gegeben habe. Aber das will jetzt keiner mehr sehen.“ Auch im privaten Umfeld bleibt das Misstrauen. Die Freunde und Freundinnen, die sich nicht von ihm abgewendet haben, fragen jetzt öfter nach, wenn etwas nicht ganz glaubhaft ist: Stimmt es wirklich oder ist das wieder eine Lüge?
Nicht mehr zu lügen fällt Massimine nicht leicht. Einige seiner Lügen habe er so oft wiederholt und durch so viele weitere Ausreden gedeckt, dass er irgendwann selbst daran geglaubt habe. „Ich versuche jetzt, meine Erinnerungen zu sortieren: Was war Lüge, was war wahr?“ Er muss Abschied nehmen von dem fiktiven Charakter, den er sich mit den Lügen geschaffen hat, ein Alter Ego, das besser war als er selbst. „Ich glaube, ich habe den Leuten damit auch Mut gemacht: Es ist möglich, den Mount Everest zu besteigen, es ist möglich, den Humanitarian of the Year Award zu gewinnen. Das werde ich vermissen.“
Menschen, die von einem Lügner, einer Lügnerin getäuscht wurden, schieben deren Verhalten meistens auf eine Art „moralischen Defekt“. Zu Unrecht, wie die Psychologen Curtis und Hart meinen. Pathologisches Lügen sei eine Störung, kein Charakterdefizit.
Pseudologia phantastica
Schon 1890 beschrieb der amerikanische Psychologe G. Stanley Hall die pseudomania als eine Krankheit, die unbedingt behandelt werden müsse. Ein Jahr später veröffentlichte der deutsche Psychiater Anton Delbrück sein Buch Die pathologische Lüge und die psychisch abnormen Schwindler. Darin führte er den Begriff der „Pseudologia phantastica“ ein und beschrieb die Fälle von fünf Personen, mit denen er mehrere Jahre therapeutisch gearbeitet hatte.
Dennoch kam es nie dazu, dass die Störung einheitlich definiert und eine entsprechende Behandlung entwickelt wurde. „Irgendwann hat der Zeitgeist umgeschlagen und das Phänomen geriet in Vergessenheit“, sagt Drew Curtis. Mit einer Anerkennung als Krankheit, so hofft er, könnte pathologisches Lügen schneller erkannt und besser behandelt werden.
Tatsächlich ist es aber gar nicht einfach, die „Pseudologie“ von anderen psychischen Störungen abzugrenzen. Denn übermäßiges Lügen spielt bei einer ganzen Reihe von psychischen Krankheiten eine Rolle. So leugnen die meisten Menschen mit einem Suchtproblem ihre Abhängigkeit und denken sich die wildesten Geschichten aus, um den Konsum zu vertuschen. Auch Menschen mit Borderline oder einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung neigen dazu, andere gezielt anzulügen, um sie zu ihrem Vorteil zu manipulieren und auszunutzen. Umgekehrt leiden pathologische Lügner meist nicht nur an einer, sondern an mehreren psychischen Störungen. Welche steht im Vordergrund, welche kann nachrangig behandelt werden?
Zurück in gesündere Bahnen
Wegen der mangelnden Forschung ist schwer zu sagen, wie verbreitet pathologisches Lügen ist. Der Berliner Psychiater Hans Stoffels erhält rund 20 Anfragen pro Monat. „Die Menschen suchen Hilfe. Sie möchten wissen, ob diese Störung behandelbar ist.“
Tatsächlich stellt sich die Frage, ob eine Therapie mit einem pathologischen Lügner überhaupt möglich ist. Schließlich ist Vertrauen die Grundlage einer therapeutischen Beziehung. Curtis und Hart haben die Erfahrung gemacht, dass es geht. Denn ein pathologischer Lügner muss keinesfalls immer lügen. Die beiden US-Psychologen gehen davon aus, dass vor allem eine kognitive Verhaltenstherapie den Betroffenen helfen kann. So können sie die Funktion ihrer Lügen erkennen und an einer Änderung dieses Verhaltens arbeiten.
Hans Stoffels in Berlin bietet dagegen eine tiefenpsychologische Therapie an. Auch dabei werden zunächst die Ursachen für das Lügen erkundet. Dann geht es darum, einen guten Umgang mit der Neigung zum Lügen zu finden. Denn Geschichten zu erfinden sei auch eine Begabung, meint Stoffels. Statt die Lust an der Fiktion zu unterdrücken, könne es den Betroffenen deshalb helfen, zum Beispiel Geschichten zu schreiben und die im Lügen verborgene Kreativität anders auszuleben.
Auch Christopher Massimine hat das Schreiben für sich wiederentdeckt. Schreiben sei seine erste Leidenschaft gewesen, die dann mit der Karriere als Theatermanager zunehmend in den Hintergrund rückte. „Aber wenn ich zurückblicke, habe ich in den Zeiten, in denen ich viel geschrieben habe, weniger gelogen. Es hilft mir, die Geschichten, die in meinem Kopf blühen, in kreativere und gesündere Bahnen zu lenken.“
Megalomanie
Anders als beim pathologischen Lügen sind beim Größenwahn (Megalomanie) die Betroffenen davon überzeugt, dass ihre Selbstüberhöhung der Wahrheit entspricht. Sie schreiben sich zum Beispiel eine herausragende soziale Stellung zu – Papst, Präsidentin – oder sehen sich in Diensten einer höheren Macht. Die Wahnstörung kann im Rahmen einer organisch bedingten Hirnerkrankung wie der progressiven Paralyse oder als Symptom einer Schizophrenie oder Manie auftreten.
Quellen
Drew A. Curtis, Christian L. Hart: Pathological Lying: Theory, Research, and Practise. American Psychological Association 2022
Michael Buchinger: Lange Beine, kurze Lügen: Michi schenkt euch reinen Wein ein. Ullstein Verlag 2018
Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Cotta 1811, Bd. 1, S. 103
S. Choshen-Hillel, A. Shaw, E. M. Caruso: Lying to appear honest. Journal of Experimental Psychology: General, 149/9, 2020, 1719–1735
G. Stanley Hall: Children's lies. The American Journal of Psychology, 3/1, 1890, 68
Anton Delbrück: Die pathologische Lüge und die psychisch abnormen Schwindler. F. Enke 1891