Auf Augenhöhe zu Medizinern

Als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychologie ringt Jürgen Margraf um den Stellenwert der Psychotherapie im Gesundheitswesen.

Die Illustration zeigt einen roten und einen grünen Kopf mit verbindenden Strömungen
Jürgen Margraf kämpft als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychologie um die angemessene Position der Psychotherapie im Gesundheitswesen © DrAfter123/Getty Images

Psychologie Heute Herr Professor Margraf, Sie sind Burrhus F. Skinner, einem Mitbegründer des Behaviorismus, noch persönlich begegnet. Ist das für einen jungen Verhaltenstherapeuten so etwas wie ein Erweckungserlebnis?

Jürgen MARGRAF Eine hübsche These, aber ich muss Sie enttäuschen. Obwohl ich ihm, genau genommen, sogar zweimal begegnet bin. Zuerst als Gymnasiast der 11. Klasse, als ich über seinen utopischen Roman Walden Two ein Referat gehalten habe. Nur habe ich da noch lange nicht an Verhaltenstherapie…

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Roman Walden Two ein Referat gehalten habe. Nur habe ich da noch lange nicht an Verhaltenstherapie gedacht. Viel später dann, in den achtziger Jahren, habe ich ihn bei einem Vortrag erlebt. Er war ja selbst nie Therapeut, aber er hat vor Kollegen darüber gesprochen, was die Psychologie zu den großen Themen der Zeit zu sagen hat. Oder besser: zu sagen haben sollte. Überbevölkerung, Krieg, Frieden, solche Sachen. Das war auch sehr interessant. Ich denke nämlich, die akademische Psychologie hat sich da bislang noch viel zu wenig engagiert. Und sie sollte es sehr viel entschiedener tun! Sie hat längst das Zeug dazu: einen riesigen Fundus an Erkenntnis über Bedingungen und Konsequenzen von Erleben und Verhalten. Nur spielen in meinen Augen der Behaviorismus und Skinners soziale Utopien dabei eine eher historische Rolle. Da sind wir heute deutlich weiter. Und die Weichen für meinen eigenen Lebensweg – die wurden in ganz anderen Situationen gestellt.

PH Nämlich?

MARGRAF Zu viele, um sie aufzuzählen. Aber wenn Sie Skinner ansprechen: Da war zum Beispiel Leonard Krasner, auch ein Behaviorist der alten Schule. Der hatte mal geschrieben, ein Verhaltenstherapeut sei eigentlich nichts anderes als eine social reinforcement machine, also eine Maschine, die ganz mechanisch Verstärkung für Verhalten austeilt. Das genügte in den Anfangsjahren meines Studiums, um mich zu verschrecken. Wer will schon eine Maschine sein? Ich studierte seit 1976 an der Uni Kiel; unser Professor für Klinische Psychologie, Urs Baumann, hatte einen integrierten Psychotherapiekurs entwickelt, also die praktische und praxistaugliche Ausbildung zum Therapeuten im Rahmen des Studiums – was im Lehrbetrieb dieser Zeiten einer Revolution gleichkam. Und ich entschied mich tatsächlich gegen die Verhaltens- und für die Gesprächstherapie!

PH … die ja so etwas wie völlig gegensätzliche Weltanschauungen waren.

MARGRAF Ich habe diese Trennung nie wirklich eingesehen. Und heute, als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, halte ich sie für schlichtweg überlebt. Aber damals war das wohl so: Man legte ein Bekenntnis ab. Irgendwann bin ich auch Krasner persönlich begegnet, auch bei einem Vortrag. Der Titel lautete Paradigm lost, in Anspielung auf John Miltons Epos Paradise lost von 1667, und Krasner entpuppte sich als reizender älterer Herr, der einfach Lust am Überspitzen hatte. Sein Thema war das Schicksal des Behaviorismus. Er sprach davon wie von einem verlorenen Paradies: Wir hatten mal ein klares Paradigma, ein funktionierendes wissenschaftliches System, dann zogen wir aus und machten dies und das und jenes. Und dann haben wir’s verloren. Sind verweichlicht und haben uns verzettelt in diesem Kognitivismus, Mentalismus und sonst was. Völliger Unfug! Ich teilte die Meinung überhaupt nicht, aber es war sehr gekonnt formuliert, mit bebender Stimme vorgetragen, wirklich große Oper. Mir wurde klar: Der wollte einfach mal auf den Putz hauen. Aber im Prinzip wusste er nicht, wovon er redete.

PH Die Polemik war auf ihren Unterhaltungswert reduziert. Aber um das zu erkennen und zu genießen, brauchte es eine gefestigte Position – und zwar die eines inzwischen gereiften Verhaltenstherapeuten. Was war da passiert?

MARGRAF Für mich: Tübingen. Und Amerika. Marburg, Münster, Basel, Dresden. Überall Begegnungen, neue Aufgaben, neue Einblicke in die therapeutische Praxis. Psychologen haben ambulante Therapiezentren an den Universitäten eingerichtet; inzwischen sind es rund 30, das älteste hier in Bochum. Und meine Frau, Silvia Schneider, hat eine psychologische Ambulanz für Kinder und Jugendliche dazu aufgebaut. Wir haben die Ausbildung organisiert und das Berufsbild neu definiert – denn parallel vollzog sich ja so etwas wie eine Wende in Auffassung und Selbstverständnis von Verhaltenstherapie. Ich spreche deshalb lieber von „psychologischer Therapie“, weil sich ja inzwischen das ganze Fach Psychologie darin widerspiegelt, nicht nur einzelne Teilbereiche.

PH Ihre eigene Biografie verlief offenbar in enger Parallele zur Entwicklung Ihres Fachs. Ist das nicht ein Glück?

MARGRAF Ich glaube, das kann man so sagen. Wie dramatisch die Veränderungen waren, ist mir bei der Arbeit an meinem Lehrbuch der Verhaltenstherapie deutlich geworden. Es erschien 1996 in der Erstauflage; ich hatte mich bei der Gelegenheit gefragt: Wie bin ich eigentlich da hingekommen, wo ich jetzt bin? Denn obwohl ich ja schon zur zweiten Generation gehörte, war das alles noch sehr frisch. Die ersten Publikationen zur Verhaltenstherapie in Deutschland waren in den sechziger Jahren erschienen, damals noch ganz vereinzelt. Erst in den Siebzigern begann das Thema an Breite zu gewinnen.

PH Tatsächlich galt Verhaltenstherapie in diesen frühen Jahren als ein kühles, technizistisches und eher menschenfernes Verfahren. Da gab es etwa diese Studie, in der ein und dieselbe Interaktion einer Lehrerin mit ihrer Klasse zwei Gruppen von Probanden vorgestellt wurde, einmal kommentiert als typisches Beispiel für Verhaltensmodifikation, einmal als humanistisch begründete Intervention. Und natürlich wurde das Verhalten der Lehrerin unter diesem zweiten Blickwinkel als deutlich wärmer und empathischer beurteilt, auch als effektiver. Hat Verhaltenstherapie vielleicht ein Imageproblem?

MARGRAF Sie hat eines gehabt, und das ist zum guten Teil selbstverschuldet. Das Beispiel, das Sie ansprechen, zitiere ich übrigens auch im Einführungskapitel meines Lehrbuches. Frei nach Shakespeare habe ich ihm dort den Titel A rose by any other name … gegeben – ein bisschen ironisch, weil der Name eben doch eine Rolle dabei spielt, ob eine Rose auch wirklich als Rose wahrgenommen wird, ein Romeo als toller Geliebter und eine bestimmte Therapieform als das, was man sich unter ihr vorstellt.

PH Das Beispiel stammt aus den siebziger Jahren; Sie hatten gerade Ihren A-Schein in Gesprächstherapie gemacht …

MARGRAF … und wäre wohl dabei geblieben, wenn ich nicht in Tübingen einem ganz anderen, viel breiteren Verständnis von psychologischer Therapie und ihrer Wissenschaftlichkeit begegnet wäre. Eigentlich war ich nur meiner damaligen Freundin hinterhergezogen, Anke Ehlers, die Kielerin war und einfach mal raus wollte. Heute lehrt sie in Oxford experimentelle Psychopathologie und ist Expertin für Angststörungen, Panik und posttraumatischen Stress. Niels Birbaumer war unser Lehrer in Tübingen, und was wir bei ihm über biologische und klinische Psychologie erfuhren, Psychophysiologie, Biofeedback, die hormonale Steuerung von Verhalten, Stress, die Möglichkeiten zur Behandlung von Angst – das war nun wirklich so etwas wie eine Offenbarung.

PH Also adieu Gesprächstherapie?

MARGRAF Wie gesagt: Ich habe diese Trennung in Glaubensrichtungen nie mitgemacht. Heute wäre sie ganz klar ein Hindernis. Psychologische Therapie ist viel anspruchsvoller geworden, viel professioneller in ihrem Ansatz, breiter in ihren Möglichkeiten und variabler in ihren Handlungsformen. Sie erfasst nicht mehr nur einzelne Problemfelder, sondern das ganze Spektrum psychischer Störungen in ihren physischen und sozialen Zusammenhängen, dazu jede Menge körperlicher Probleme. Psychologie ist ein sehr erfolgreiches Fach. Da können Sie sich einfach nicht in rigidem Glaubenseifer auf eine einzelne Therapieform beschränken.

PH Und trotzdem entscheiden sich vier von fünf Studierenden, die sich für therapeutische Verfahren interessieren, für die Verhaltenstherapie.

MARGRAF Wir haben seit 1999 ein Psychotherapeutengesetz in Deutschland. Ein Gesetz also, das Psychotherapeuten ein Erstzugangsrecht bei psychischen Störungen einräumt – vorausgesetzt, dass sie sich dabei wissenschaftlich anerkannter Verfahren bedienen. Was zu diesen Verfahren zählt, entscheidet zunächst ein wissenschaftlicher Beirat; dann befindet der gemeinsame Bundesausschuss für Ärzte und Krankenkassen darüber, ob die Behandlung auch von der Kasse bezahlt wird. Und dieser GBA hat bisher nur zwei Behandlungsformen zugelassen: die psychodynamisch orientierte Therapie und das, was Verhaltenstherapie heißt, aber längst eine Vielzahl kognitiv-behavioraler Verfahren umfasst. Und selbst wenn einer sagt: Mein Herz schlägt eigentlich eher für Körpertherapie, systemische oder die orthodoxe Gesprächstherapie, ist es sehr vernünftig, wenn ein angehender Psychotherapeut sich für eines der beiden zugelassenen Verfahren entscheidet, die am Markt sind.

PH Wir fassen zusammen: Zwischen Ihrer Entscheidung als Jungspund gegen die als mechanisch wahrgenommene Verhaltenstherapie und der Veröffentlichung Ihres Standardwerks Lehrbuch der Verhaltenstherapie sind zwei Dinge passiert: Erstens, die Aufgaben für Sie sind konkreter geworden. Und zweitens, das Feld hat sich erweitert.

MARGRAF Dramatisch. Substanziell. Bis in die Begrifflichkeiten und Techniken. Und die Aufgaben sind nicht einfach nur konkreter, sondern vor allem vielfältiger geworden. Birbaumers Arbeiten am Locked-in-Syndrom beispielsweise haben mich fasziniert. Psychotherapie! Er hat es geschafft, diesen total gelähmten, in ihren Körpern gefangenen Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, über ihre Hirnwellen einen Computer zu steuern. Damit konnten sie in Kontakt zu ihrer Umgebung treten – Patienten, bei denen man vorher nicht gewusst hat, ob sie überhaupt irgendetwas bewusst wahrnehmen oder empfinden. Und dann natürlich die Arbeit mit den Veteranen des Vietnamkrieges …

PH Wir sind jetzt in Kalifornien, die späten achtziger Jahre: Palo Alto, die Stanford University, das Veterans Administration Hospital

MARGRAF Das VA war unser Lehrkrankenhaus. Anke Ehlers und ich sind nach dem Studium dort hingegangen. Ein ganz berühmter Ort übrigens. Das sagt Ihnen jeder da: Hier hat Ken Kesey seinen Roman Einer flog über das Kuckucksnest geschrieben. Es sieht auch tatsächlich genauso aus. In Wirklichkeit hat er’s in der Menlo Park Division geschrieben; die gehört zum gleichen Klinikum, ist aber ein anderes Gebäude, ein paar Kilometer weiter weg. Aber das bisschen Stolz sei den Leuten dort gestattet.

PH Nun bietet Keseys Roman nicht unbedingt Einblicke in eine vorbildlich funktionierende Behandlung von psychischen Erkrankungen …

MARGRAF Nein, aber in all diesen sich auftürmenden Konflikten und dem furchtbaren Scheitern am Ende ist er das Plädoyer für eine menschliche Psychotherapie. Ich habe in der Arbeit mit den Kriegsveteranen eine Menge über meine fachliche Ausstattung gelernt. Zum Beispiel, dass gesprächstherapeutisches Vorgehen doch bald an seine Grenzen stößt. Inzwischen hatte ich ja in Tübingen nicht nur Einblick in physiologische und medizinische Aspekte der Psychotherapie bekommen, sondern auch ein sehr gründliches Programm in Verhaltenstherapie absolviert. Andererseits lernte ich in der Arbeit mit diesen schwer traumatisierten Menschen auch den Wert meiner ursprünglichen Ausbildung kennen: Gerade einer wie ich, Vielredner, manchmal auch Schnelldenker, neigt vielleicht dazu, sich rasch eine Hypothese zu bilden, die ganze Wahrnehmung darauf einzupeilen und nur noch nach Bestätigung solcher Vermutungen zu suchen. Und gerade da bilden die Techniken der Gesprächstherapie und ihr Menschenbild ein sehr gutes Gegenprogramm. Man muss eben offenbleiben, zuhören können. Sich selbst infrage stellen, immer wieder. Was meinen Sie, wie hartnäckig ich das meinen Studenten vorbete!

PH Sind Sie damit in Palo Alto viel weitergekommen?

MARGRAF Mit gesprächstherapeutischen Techniken? Eher nicht! Mit dem Konzept von Persönlichkeit – durchaus. Wir hatten es in erster Linie mit besonders schweren Fällen von Depression zu tun, mit Schizophrenen, auch mit Manikern und Suchtkranken. In großer Mehrheit waren es Vietnamveteranen. Da kam zu den sehr komplexen Geschichten der Erkrankung und den schrecklichen Erfahrungen des Krieges oft noch die Ablehnung ihrer Umgebung hinzu. Die kamen nach Hause, und überall schlug ihnen entgegen: Was ihr getan habt, war vollkommen falsch! Alles war falsch! Das hat es in dieser Heftigkeit bei keiner anderen Soldatengeneration zuvor gegeben.

PH Die ganze Jugendkultur war geprägt von der Skepsis gegen den Krieg und gegen das selbstbewusste, selbstherrliche Auftreten der Amerikaner. Hatten Sie da nicht das Gefühl, auf verlorenem Posten zu stehen?

MARGRAF Für uns bot die Situation eine Riesenchance. Aus Tübingen kannten wir uns aus in der Behandlung von Angststörungen und Panik; in Palo Alto wollten sie das gerade zu einem Schwerpunkt ausbauen. Das passte. Also sagten sie uns frisch diplomierten Jungpsychologen: Macht ihr das mal. Wir hatten sehr viel Freiheit. Auch das ist eine Seite von Amerika: diese Bereitschaft zum Experiment, der Mut. Mein Chef dort, Walton T. Roth, war ein biologischer Psychiater, ein bedeutender Schizophrenieforscher – aber zugleich auch Psychoanalytiker. Der Leiter der Ambulanz, Bruce Arnow, war Verhaltenstherapeut – aber er hatte auch strukturelle Familientherapie bei Salvador Minuchin gemacht. Und meine Supervisorin Joana war Jungianerin – aber vor allem hat sie mich beeindruckt mit ihrem Gefühl für Menschen. Hat mir etwa klargemacht, dass die Aggressivität bei Schizophrenen vor allem durch Angst zu erklären ist. Solche Offenheit kam mir sehr entgegen.

PH Aber die Probleme der Patienten waren doch sehr speziell.

MARGRAF Das war die Herausforderung. Ich erinnere mich an einen, der war aus Vietnam heimgekehrt, ein netter, aber sehr zurückgezogener Mann. Seine Frau hatte ihn verlassen, seine Kinder durfte er nicht sehen, er hatte auch keine richtige Unterkunft, nur seinen Pick-up-Truck. Ich habe sehr lange gebraucht, bis er Vertrauen fasste. Wir sind immer um das Gelände der Klinik herumgelaufen, einmal, zweimal, stundenlang. Und dann hat er sich ganz langsam geöffnet, hat von seinen traumatischen Erfahrungen erzählt. Wie er nachts irgendwo im Dschungel mit einem Kumpel Wache hält; er hört ein Geräusch, dreht sich um, da spritzt ihm auch schon das Gehirn seines Kameraden ins Gesicht. Oder wie sie in ein Dorf einmarschieren, überall ist Charlie – das war das Wort der GIs für den Vietcong – und nimmt die Soldaten unter Feuer. Nur wer zuerst schießt, hat eine Chance. Er muss also diese Hütte sichern, hört im Halbdunkel ein Geräusch, feuert sofort, und wieder spritzt ihm etwas ins Gesicht: Diesmal war es ein kleines Mädchen, das er totgeschossen hat. Das hat ihn nie mehr losgelassen.

PH Was für eine fürchterliche Notlage – und was für eine Herausforderung an den Therapeuten! Lässt sich denn aus der Arbeit an solchen Fällen irgendetwas für die Praxis der Psychotherapie im Alltag herleiten?

MARGRAF Wir waren mit unserem Vietnamveteranen auf gutem Weg. Aber als er endlich anfing mitzumachen, sich auf die Gruppensitzungen auf der Station einzulassen – da wurde er erwischt, wie er sich mit einem Sixpack Bier auf seinen Truck zurückgezogen hatte. Das tun Burschen im ländlichen Amerika nun mal, das ist ihre Form, die Freizeit totzuschlagen. Nicht sehr inspiriert vielleicht, aber ganz normal. Und das Auto war sein einziger Zufluchtsort, er war dort ganz bei sich, wollte sich etwas Gutes tun. Wer will, kann darin sogar einen kleinen Fortschritt sehen: Es war so etwas wie eine wiederentdeckte Freude am Leben. Dummerweise war Alkohol in der Klinik strikt verboten. Die Ärzte der Station wollten ihn sofort rauswerfen.

PH Das klingt nun doch wieder nach Einer flog über das Kuckucksnest.

MARGRAF Nun, ich konnte es abwenden; eine junge Psychiaterin half mir dabei. Wohin sollten sie ihn denn auch entlassen? Er hatte ja nichts und niemanden da draußen. Der Patient konnte also bleiben, aber nach diesem Gezerre war er wieder völlig dicht. Und ich weiß seit dieser Erfahrung, dass ich als Psychotherapeut immer auch die Kontrolle über meine Arbeit haben muss. Ich muss der sein, der entscheidet. Inhalte sind sehr wichtig. Aber Strategie ist es eben auch. Viel später, etwa in Basel: Wir haben dort eine Ambulanz für Verhaltenstherapie aufgebaut – und ich war der Chef. Verantwortlich bis ins Detail. Ich habe entschieden, ob einer medikamentös behandelt werden muss oder nicht. So muss das laufen.

PH Aber Kompetenzkonflikte scheinen hier wie dort, damals wie heute den Alltag zu bestimmen. Und die Kollegen in einer Abteilung, mit denen Psychologen zusammenarbeiten, sind in der Regel Ärzte.

MARGRAF Genau! Da müssen wir auf Augenhöhe sein.

PH Wie wollen Sie das erreichen?

MARGRAF Inhaltlich? Ich denke, da sind wir ein gutes Stück vorangekommen. Das Psychotherapeutengesetz hat uns einen erheblichen Professionalisierungsschub gebracht. Und auch in der Öffentlichkeit setzt sich unsere Sicht der Probleme durch. Weil wir nämlich die Lösungen haben. Ich glaube tatsächlich, eine Depression ist nicht einfach eine Dysbalance im serotonergen oder im dopaminergen System, sondern im Wesentlichen eine Störung auch der zwischenmenschlichen Beziehungen, der Beziehungen am Arbeitsplatz, ein Konflikt zwischen verschiedenen Anteilen ein und derselben Persönlichkeit, zwischen den emotionalen und kognitiven Teilen; es ist ein Problem bei der Handlungssteuerung. Dass das auch etwas mit Dopamin oder Serotonin zu tun hat – völlig klar. Aber ich glaube nicht, dass die primäre Störung auf dieser Ebene liegt.

PH Sie meinen, in der klassischen Betrachtungsweise der Psychiatrie werden Ursache und Wirkung vertauscht?

MARGRAF Zumindest steht fest, dass dieses häufig praktizierte Schrotschussverfahren, im ganzen Gehirn das serotonerge System durch Medikamente irgendwie hoch- oder runterzufahren, sehr wenig effektiv ist. Die Daten belegen das eindeutig. Die durchschnittliche Effektstärke bei SSRIs, also selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern, den aktuell gebräuchlichsten Antidepressiva, liegt bei einem bis zwei Punkten auf den gebräuchlichen Skalen, etwa dem Beck Depressionsinventory. Ein bis zwei Punkte gegenüber Placebo auf einer Skala von null bis 63! Wenn Sie 500 Personen in Ihrer Stichprobe haben, kriegen Sie das statistisch vielleicht sogar signifikant. Aber klinisch ist es ohne Bedeutung! Das können Psychotherapeuten besser.

PH Und was sagen die Ärzte?

MARGRAF Das hat sich geändert. In meiner Generation gab es häufig noch bei Medizinern die Neigung, Psychologen oder Psychotherapeuten als eine Art Hilfspersonal zu betrachten. Von oben herab. Heute, wenn Sie mit Lehrstuhlinhabern, sagen wir mal: in der Psychiatrie sprechen, bei Chefärztekonferenzen oder im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde – DGPPN –, dann werden die sagen: Ist schon klar, dass die Psychologen bei den Psychotherapiesachen viel, viel mehr können als wir. Das habe ich x-fach gehört. Wortwörtlich. Es durfte nur keiner in der Nähe sein, der es aufschreibt und in der Öffentlichkeit zitiert, womöglich noch mit Quelle. Und es gibt auch Leute, die sagen: Meine Station besetze ich mit Psychotherapeuten, weil die das so gut können.

PH Der das sagt, ist aber meistens ein Mediziner.

MARGRAF Stimmt. Leider. Es gibt da so etwas wie Gewohnheitsrechte, die schon in der Ausbildung verankert sind. Ein Mediziner bekommt nach dem Studium, nach sechs Jahren, seine Approbation, also die Erlaubnis zur Ausübung der Heilkunde für das gesamte Feld der Medizin. Notabene: Er bekommt sie, bevor er eine Weiterbildung zum Facharzt aufnimmt. Das machen sich viele nicht klar. Er darf alles: operieren, Medikamente verschreiben, psychotherapieren. Und hat vielleicht in seinem ganzen Studium zehn Stunden davon gehört. Ein Assistenzarzt, der in der Psychiatrie anfängt, hat in der Regel keine Ahnung. Der muss es erst lernen. Und von wem lernt er’s? Von einem erfahrenen Stationspsychologen. Oder auch von den Pflegern, die schon länger da sind.

PH Aber Psychiater sind Fachärzte. Die haben zehn Jahre oder länger studiert.

MARGRAF Damit kommen sie gern. Aber die Antwort lautet natürlich: Ihr kriegt eine Approbation für die gesamte Medizin. Wir bewegen uns nur in einem speziellen Gebiet. Deshalb brauchen wir auch nicht all diese Jahre. Denn es ist eindeutig so: In dem Teilgebiet der Heilkunde, in dem Psychotherapeuten arbeiten, haben sie um den Faktor zehn mehr gemacht als ein Mediziner. Um den Faktor zehn! Bei uns können Sie diese Erfahrung in Tausenden von Stunden messen, bei den Medizinern vielleicht in Dutzenden.

PH Sind also Psychologen die besseren Psychotherapeuten?

MARGRAF In der Regel ja! Ein Psychotherapeut muss wissen, wie Lernen funktioniert, wie das Gedächtnis arbeitet. Natürlich muss er Störungen kennen. Aber bevor er die Störung kennt, muss er wissen, wie gesunde menschliche Entwicklung abläuft, welchen Einfluss soziale Beziehungen haben. Das alles lernt er im Rahmen eines Psychologiestudiums. Wie übrigens auch das Verständnis für die Methoden der Forschung. Auch ein Praktiker muss beurteilen können, ob die Studien, die da vorgelegt werden, Hand und Fuß haben. Denken Sie nur daran, wie sich auch klitzekleine Effekte auf Signifikanzniveau hieven lassen, wenn nur die Studie pompös genug daherkommt. Es muss also nicht jeder ein Wissenschaftler sein, aber ein wissenschaftliches Studium befähigt jeden, sich ein kompetentes eigenes Urteil zu bilden.

PH Augenhöhe zu den Medizinern also. Inhaltlich, so haben Sie gerade ausgeführt, haben Sie diesen Punkt längst erreicht. Und formal?

MARGRAF … sorgen wir dafür, dass die Ausbildung für Psychotherapeuten solche Augenhöhe schafft. Wenn eine durchschnittliche Masterarbeit bei den Psychologen schon mehr Substanz hat als eine Doktorarbeit in der Medizin, ist das kein allzu weiter Weg. Er beginnt damit, dass wir uns vom Begriff der Ausbildung verabschieden. Das ist ja eine komische Konstruktion: Da macht man ein akademisches Studium, um danach plötzlich Lehrling zu sein, freigegeben zur Ausbeutung. Da stimmt die Rechtslogik nicht. Die DGPs hat jetzt ein Modell vorgelegt, nach dem sich an ein fünfjähriges Masterstudium eine zweijährige Weiterbildung zum Psychotherapeuten anschließt. Mit Staatsexamen und Approbation, genau wie in der Medizin. Im Moment gibt es eine dreijährige Ausbildung, aber weil sich eben die Strukturen ändern, weil wir Doppelungen streichen und für straffere, stärker an den Zielen orientierte Studienpläne sorgen, bin ich überzeugt, dass die Absolventen mindestens so gut sein werden wie bislang nach drei Jahren Ausbildung. Psychotherapeut wäre damit ein voller akademischer Heilberuf mit allen Kompetenzen: Sie können krankschreiben, ein Krankenhaus leiten, vielleicht eines Tages Medikamente verschreiben.

Jürgen Margraf, Jahrgang 1956, ist 2009 als erster Psychologe mit dem höchstdotierten deutschen Forschungspreis ausgezeichnet worden: einer Alexander-von-Humboldt-Professur. Er lehrt in dieser Position Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Ruhr-Universität Bochum. Davor war er Hochschullehrer an den Universitäten Münster, Berlin, Dresden und Basel. Von 1999 bis 2005 leitete er als Vorsitzender den Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie. Seit 2012 ist Margraf Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, der Vereinigung der forschenden und lehrenden Psychologen. Margraf hat sich vor allem mit seinen Therapiekonzepten für Angst- und Panikstörungen, Depressionen und Essstörungen profiliert. Zu seinen wichtigsten Publikationen gehören das vierbändige Lehrbuch der Verhaltenstherapie (zusammen mit Silvia Schneider), das Therapieprogramm Generalisierte Angststörung (mit Eni Becker) sowie Kosten und Nutzen der Psychotherapie: Eine kritische Literaturauswertung.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2013: Versteh mich doch!