„Verzeihen ist die Reifeprüfung der Liebe“, schreiben Sie in Ihrem Buch Das Verzeihen in der Liebe. Wer gerade erfahren hat, dass der Partner seit Jahren eine Geliebte hat, ist erst mal wütend und verletzt und meilenweit davon entfernt zu verzeihen. Warum ist es gut, trotzdem wieder auf den anderen zuzugehen?
Verzeihen ist die Basis für die Zukunftsfähigkeit der Liebe. Liebende müssen lernen, nach einer Verwundung wieder aufzustehen, so wie ein Kind, das sich bei einem Sturz ein blutiges Knie geholt hat, die…
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Verwundung wieder aufzustehen, so wie ein Kind, das sich bei einem Sturz ein blutiges Knie geholt hat, die Kraft aufbringen muss, weiterzulaufen.
Paare können sich nur gemeinsam weiterentwickeln, indem sie sich fördern und fordern im Verzeihensprozess. Es gehört zur psychologischen Wesensausstattung von uns Menschen, dass wir immer wieder Fehler machen und uns gegenseitig weh tun. Aber natürlich ist Verzeihen ein Prozess, der Mut und Zeit braucht.
Sie sprechen von fünf Schritten, die nötig sind. Das klingt nach einem mühsamen Weg. Warum sind die Etappen so wichtig?
Verzeihen ist ein komplexer psychologischer Prozess, der aus drei Dimensionen gespeist wird: Tiefenpsychologie, Dialog und Sinn. Verzeihen ist etwas sehr Intimes, ähnlich wie Sexualität. Im Prozess des Verzeihens öffnen sich innere Grenzen, wir heben unseren Selbstschutz auf und überwinden die spontanen Zerstörungsimpulse.
Es ist eine enorme Kulturleistung, den Reflex „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ auszuschalten. Auf Rache und Strafe zu verzichten ist keine natürliche Reaktion, sondern eine reife Leistung. Damit das gelingt, ist es wichtig, einen geschützten Rahmen zu haben. Die fünf Schritte geben Orientierung. Der erste Schritt ist immer, dass der Schmerz benannt und aus der Tabuzone geholt wird. Wird die Verletzung geleugnet oder verdrängt, kommt nichts in Gang.
Ein häufiges Beispiel aus meiner Praxis: Wenn herauskommt, dass ein Ehemann heimlich im Keller einen Raum eingerichtet hat, wo er Pornos konsumiert, muss er aushalten, dass seine Partnerin verzweifelt und gedemütigt ist. Er muss sich ihren Schmerz anhören und darf das nicht bagatellisieren.
Es reicht nicht, „Tut mir leid“ zu murmeln, vielleicht noch einen Blumenstrauß mitzubringen und dann zur Tagesordnung überzugehen?
Verletzungen müssen wie jede Wunde pfleglich behandelt und gereinigt werden. Erst dann kann man ein Pflaster draufkleben. Wenn beide schnell wieder unter den Teppich kehren, was passiert ist, erweisen sie sich damit keinen Dienst, weil die Konflikte unterschwellig weitergären.
Im zweiten Schritt geht es darum, zu erkennen, wie es zur Verletzung kommen konnte. Warum habe ich keine Lust mehr, mit dir zu schlafen? Warum bin ich fremdgegangen? Warum habe ich dir nichts von meinem Konto in der Schweiz erzählt? Warum trinke ich zu viel und verstecke die Flaschen? Wie ist es dazu gekommen, dass ich heimlich angefangen habe zu zocken? Warum habe ich mich sterilisieren lassen und dir nichts davon erzählt?
Ist das nicht ein Widerspruch? Dunkle Geheimnisse entstehen ja gerade, weil die Partner Angst haben, sich dem anderen mit ihren Schwächen, Abgründen und Sehnsüchten zu offenbaren. Und jetzt sollen sie plötzlich ehrlich reden.
Tatsächlich ist es eine große Herausforderung, die Karten auf den Tisch zu legen, aber auch eine Chance, sich tiefer kennenzulernen. Wenn die Liebe eine Zukunft haben soll, ist es unerlässlich, dass beide lernen, über ihre Altlasten zu reden und so ein tieferes Verständnis für den anderen zu entwickeln.
Wer sehr strenge Eltern hatte und als Kind für jeden Fehler bestraft wurde, neigt als Erwachsener dazu, die Angst vor Strafe auf den Partner zu übertragen. Diese Dynamik ist der Nährboden für gefährliche Geheimnisse. Aus Angst, dass der Partner genauso gnadenlos straft wie früher die Eltern, verheimlichen Menschen Suchtprobleme, finanzielle Schwierigkeiten, Internetsex, Affären und Frustkäufe.
Aber das geht meistens nach hinten los.
Weil Geheimnisse, in denen etwas Destruktives steckt, im Untergrund weiterwuchern wie ein Krebsgeschwür, das die Liebe langsam zerstört. Alles, was tabuisiert wird, kann nicht in den Dialog eingebracht werden und blockiert die Weiterentwicklung. Das Schweigen verhindert jede Auseinandersetzung und macht die Chance auf Heilung zunichte. Deshalb ist es so wichtig, dass Paare einen Weg finden, über ihre Kränkungsmuster aus der Kindheit, die immer noch in ihnen lebendig sind, zu sprechen.
Das ist der dritte Schritt im Prozess des Verzeihens. Welches sind die Trigger, die uns dazu provozieren, uns zu verletzen? Beide Partner müssen lernen, sich ihre Fehler und Schwächen anzuvertrauen, statt sie woanders hinzutragen. Schwächen freiwillig zu bekennen ist ein zentrales Element der Liebeskunst. Wenn ich weiß, dass ich von meinem Partner Milde erwarten darf, kann ich mich auch mit meinen Schattenseiten zeigen, erst dann bin ich ganz.
Dazu gehört Vertrauen. Doch oft ist das Vertrauen zerstört, vor allem, wenn ein lange gehütetes Geheimnis gelüftet wird.
Geheimnisse haben eine besondere Brisanz. Eine Täuschung führt immer zu Enttäuschung. Es ist schon schwer genug, zu verzeihen, dass der andere mich gekränkt, klein gemacht, beleidigt oder vor anderen bloßgestellt hat. Wenn ich rauskriege, dass mein Partner mich jahrelang belogen hat, kommt zum Kränkungsschmerz noch der Vertrauensverlust.
Ich kenne eine Frau, die 27 Jahre lang eine Außenbeziehung hatte, ihr Mann hatte nichts gemerkt. Als er dahinterkam, ist er vollkommen zusammengebrochen. Das kommt übrigens immer häufiger vor. Frauen haben beim Thema Seitensprung aufgeholt. Wenn man herausfindet, dass man jahrelang betrogen wurde, verliert man die Orientierung und steht im Nebel.
Quälende Fragen tauchen auf: Wer bist du überhaupt? Habe ich mir etwas vorgemacht? Hast du mich auch noch in anderen Dingen belogen? Wer bin ich, wenn vieles, woran ich geglaubt habe, nie gestimmt hat? Habe ich in einer Scheinwelt gelebt?
Ein Geheimnis zerstört das Urvertrauen, das eine Liebesbeziehung und auch die Eltern-Kind-Beziehung wesentlich ausmacht. „Bei dir habe ich mich so zu Hause und beschützt gefühlt wie bei keinem anderen, und jetzt muss ich erfahren, dass du seit Jahren eine Affäre hast.“
Warum plädieren Sie trotzdem dafür, den Weg des Verzeihens zu gehen?
Verzeihen hat sicherlich Grenzen. Wenn der Partner immer wieder fremdgeht oder wiederholt gewalttätig wird, ist es wichtig, nicht zu verzeihen und eine klare Grenze zu ziehen. Wer einem Wiederholungstäter ständig verzeiht, lädt ihn geradezu ein, immer weiterzumachen. Wenn meine eigene Identität so stark verletzt wird, dass ich Gefahr laufe, krank zu werden, darf ich nicht verzeihen, dann muss ich mich trennen.
Wenn aber Verzeihen möglich und sinnvoll ist, ermutige ich dazu, diesen Weg zu gehen. Denn letztlich trägt Verzeihen zur Gesundheit bei und öffnet den Weg, sich weiterzuentwickeln. Wer nicht verzeihen oder um Verzeihung bitten kann, steckt in einem inneren Gefängnis fest. Opfer und Täter bleiben in der Schuldfalle hängen und sind in ihrem Wachstum blockiert. Es ist dann keine Reifung möglich. Wenn wir nicht verzeihen, verlieren wir ein Stück unserer Identität, weil wir uns vom Partner abschneiden.
Gilt das auch für die Beziehung zwischen Kindern und Eltern?
Wenn Kinder ihren Eltern nicht verzeihen können, fühlen sie sich oft in ihrem Lebensglück blockiert. Es ist furchtbar, wenn Kindern verschwiegen wird, dass sie adoptiert sind, und sie es später herausbekommen oder wenn eine Frau mit Mitte zwanzig erfährt, dass der Mann, den sie für ihren Vater gehalten hat, gar nicht ihr Vater ist.
Wer ein solches Familiengeheimnis aufdeckt, fühlt sich hinters Licht geführt, zweifelt an sich und der Welt und weiß nicht mehr, was er noch glauben kann. Kinder, die derart betrogen wurden, wachsen in einer Scheinwelt auf und bekommen nicht die Chance, sich mit der Realität auseinanderzusetzen.
Manchmal ist Verzeihen später möglich, wenn es ein offenes Gespräch gibt und die Mutter über die Gründe spricht, warum sie den leiblichen Vater verheimlicht hat, und die Tochter sich in die Lage der Mutter versetzen oder die Gründe zumindest verstehen kann. Aber das ist natürlich ein schwieriger Weg.
Ist Verzeihen auch deshalb so schwer, weil es durchaus Kraft gibt, sich moralisch überlegen zu fühlen und den anderen schuldigzusprechen?
Das ist ein wichtiger Punkt. Tatsächlich ist es schwer, aus der moralischen Rechtfertigung herauszukommen und einen Schritt auf den anderen zuzugehen. Denn das bedeutet, sich selbst zu überwinden und über den eigenen Schatten zu springen, um zu sich selbst zurückzukommen. Die Wunde, die geschlagen wurde, kann aber nur heilen, wenn verziehen wird. Sonst schmerzt sie immer weiter.
Wenn es einem Paar gelingt, offen über die Verletzungen und die Hintergründe zu sprechen, und beide entschlossen sind zusammenzubleiben, wie geht es dann weiter?
Im vierten Schritt geht es darum, den anderen um Verzeihung zu bitten. Erst dann ist der Weg frei für Versöhnung. Versöhnen heißt, ich bin auch wieder gut mit dir, ich kann dich wieder in meine Arme nehmen.
Das ist viel leichter möglich, wenn die Partner ihre tiefen Schichten kennen und auch die Leidensgeschichte des verletzten Kindes im anderen. Dann findet das Paar auch zum Sinn des Verzeihens. Beide können sich fragen: Was haben wir daraus zu lernen? Wie wollen wir in Zukunft miteinander umgehen?
Dann kommt der fünfte und wichtigste Schritt: die kreative Veränderung der Verhaltensmuster. Zum Verzeihen gehört Wiedergutmachung. Es reicht nicht, den anderen zum Essen einzuladen. Wer einen schweren Fehler gemacht hat, muss versuchen, ihn durch ein verändertes Verhalten wiedergutzumachen.
Gibt es Geheimnisse, mit denen Sie als Paartherapeut besonders häufig konfrontiert sind?
Ich bin immer wieder verblüfft, welche Rolle Gewalt spielt. Gewalt ist in vielen Beziehungen ein Geheimnis, und zwar völlig unabhängig vom Bildungsgrad. Professoren schlagen genauso auf ihre Frauen ein wie Hafenarbeiter. Darüber wird geschwiegen. Auch verbale Gewaltausbrüche werden gegenüber Freunden und Familienangehörigen vertuscht. Gewalt ist ein gefährliches Geheimnis, das aus Scham gehütet wird.
Es kommt auch immer wieder vor, dass Männer verheimlichen, dass sie Pleite gemacht haben. Rund um das Thema Geld gibt es viele Geheimnisse. Ich glaube, dass Männer mehr als Frauen fürchten, über den Tisch gezogen und ausgebeutet zu werden. Bei manchen führt das dazu, dass sie heimlich Geld beiseite schaffen. Das Schweigen darüber ist fatal, aber auch verständlich.
Menschen versuchen, ihre Schattenseiten zu verbergen, weil sie sich nicht bloßstellen wollen. Das können kleine oder große Schatten sein. Sich dem eigenen Schatten zu stellen und ihn dem Partner zu offenbaren kann sich wie Schwerstarbeit anfühlen. Richtig gefährlich wird es, wenn jemand seinen Schatten vor sich selbst verheimlicht und daraus eine Lebenslüge wird. Dann hat die Liebe keine Chance.
Michael Cöllen, geb. 1944 in Colmar/Elsass, ist Diplompsychologe und Psychologischer Psychotherapeut. Er war 17 Jahre Mitautor der NDR-Fernsehserie „Ich und Du“ für Partnerprobleme. Mitbegründer und Lehrtherapeut der Deutschen Gesellschaft für Integrative Paartherapie und Paarsynthese Hannover. Zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema Paartherapie. Aktuell ist soeben im Kreuz-Verlag sein Buch Paradies im Alltag – Paare gestalten das Glück ihrer Liebe erschienen.
Der Prozess des Verzeihens
Wenn Vertrauen wieder aufgebaut werden soll, haben Geheimnisträger eine lange Etappe vor sich. Der Psychotherapeut Michael Cöllen nennt fünf wichtige Schritte:
1. Der Schmerz: Am Anfang steht die Verletzung. Es ist wichtig, dass der Betrogene und Belogene seinen Schmerz ausdrücken kann und den anderen damit konfrontieren darf.
2. Die Transparenz: Der Geheimnisträger muss bereit sein, über seine innersten Beweggründe zu sprechen: Wie ist das Geheimnis entstanden? Welche Erklärung gibt es dafür?
3. Die Kindheit: Welche Muster aus der Kindheit haben dazu geführt, dass ich lieber geschwiegen und nicht geredet habe? Wenn der Betrogene „die Leidensgeschichte des verletzten Kindes im anderen“ kennt, wird das Verständnis füreinander gefördert.
4. Die Bitte: Der Geheimnisträger muss den anderen glaubhaft um Verzeihung bitten.
5. Die Veränderung: Wer einen Fehler gemacht hat und hofft, dass der andere ihm verzeiht, kann nicht einfach so weitermachen wie bisher. Er muss vielmehr durch ein verändertes Verhalten den anderen von seinem guten Willen überzeugen.