Herr Sebastian, wie würden Sie das Mensch-Tier-Verhältnis in Deutschland beschreiben? Was fällt Ihnen auf?
Tiere haben für Menschen eine große Bedeutung. Und zwar eine, die zunimmt. Seit den siebziger, achtziger Jahren sind Tiere für uns immer wichtiger geworden. Wir können das an der Anzahl der Haustiere sehen, aber auch an der Art, wie sie gehalten werden. Seit etwa zehn Jahren gibt es einen starken Anstieg bei Hunden und Katzen, während die Haltung von Reptilien und Fischen stagniert. Ich denke, das…
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bei Hunden und Katzen, während die Haltung von Reptilien und Fischen stagniert. Ich denke, das spricht für einen wachsenden Wunsch nach Interaktion, wir wollen mit Tieren eine Gemeinschaft bilden.
Die zweite große Bedeutung, die sie für uns haben, liegt im Fleischverzehr. Der steigende Wohlstand der Nachkriegsgesellschaft ging mit einer enormen Zunahme des Fleischkonsums einher: Aus dem Sonntagsbraten wurde der Alltagsbraten. Das hat aus Nutztieren eine Ware gemacht. Sie sind keine Interaktionspartner, sondern lebende Dinge. Das war eine sehr dominante Entwicklung über eine lange Zeit.
Aber seit ein paar Jahren sinkt der Pro-Kopf-Fleischverbrauch signifikant.
Tatsächlich kommt gerade etwas ins Wanken, wir sehen jetzt eine zunehmende Infragestellung dieses Zustands. Und an den sozialökologischen Krisen der Gegenwart erkennen wir, dass wir noch auf andere Weise mit Tieren verbunden sind: Der Klimawandel und das Artensterben stehen in einer direkten Verbindung mit der landwirtschaftlichen Tierhaltung, 15 bis 20 Prozent der globalen Klimagase gehen auf ihr Konto. Plötzlich diskutieren wir nicht nur, ob es aus Tierwohlgründen legitim ist, Fleisch zu essen, sondern auch, wie sich das auf unsere Zukunft auswirkt. Wir haben also gleich drei Bereiche, in denen Tiere für uns sehr wichtig geworden sind: als Freunde, als Nahrungsmittel und als Teil existenzieller Krisen.
Wie kam es zu dieser Trennung – dass wir die einen Tiere als Freunde und die anderen als Dinge ansehen?
Vor 400 Jahren waren in Deutschland noch rund 90 Prozent der Menschen in der Landwirtschaft tätig, heute sind es weniger als zwei Prozent. Verbunden mit diesem Strukturwandel kam es zur Urbanisierung, die Leute zogen in die Städte und nahmen zunächst ihre Tiere mit. Eine Zeitlang existierte auch eine starke urbane landwirtschaftliche Tierhaltung.
Bevor sie wieder aus dem Stadtbild verschwand, bekamen in dieser Übergangsphase einige Tiere sozusagen einen neuen Nutzen. Die Leute hielten sie, weil sie Freude an ihnen hatten. Rassehunde etwa entwickelten sich zunehmend zum Statussymbol für das deutsche Bürgertum. Bestimmte Tiere wuchsen also über ihren ökonomischen Nutzen hinaus. Sie zogen in die Familien ein.
Kein anderes Tier hat dabei eine solche Aufwertung erfahren wie der Hund. Früher lag er an der Kette, heute logiert er in Hundehotels. Welches Bedürfnis stillen wir, wenn wir seine Gemeinschaft suchen?
Die Verbundenheit mit dem Hund geht besonders tief, weil unsere gemeinsame Geschichte noch viel weiter zurückreicht als die mit allen anderen domestizierten Tieren. Sie begann vermutlich als Jagdgemeinschaft vor mindestens 15000 Jahren. Wenn zwei zusammen jagen, wenn sie sich abstimmen müssen, entsteht eine intensive Interaktion, es gibt jede Menge emotionale Resonanz. Aber wir könnten auch mit Nutztieren eine intensive Gemeinschaft eingehen.
Inwiefern?
Welche Tiere wir als Haustiere ansehen und welche als Nutztiere, ist nur ein soziales Konstrukt. Anderswo werden Hunde gegessen, Kühe aber nicht. Das bedeutet, wir können so tiefe Beziehungen auch zu anderen Tieren haben. Insgesamt ist die Bandbreite an Mensch-Tier-Beziehungen enorm. Sie reicht von der völligen Verwahrlosung über die systematische Tötung bis hin zum tiefen Berührtwerden durch Tiere. Die Trauer über den Verlust eines Tieres kann der Trauer über den Verlust eines Menschen ähneln.
Nehmen Sie auch in unserem Verhältnis zu Nutztieren eine Veränderung wahr?
Die Vorstellung aus den sechziger Jahren von Tieren als nicht leidensfähigen Automaten hat sich völlig überholt. Die Bereitschaft, in Tieren nur ein Ding, ein Etwas zu sehen, sinkt immens. Das aber schafft Irritationen in unserem Denkmodell, dass Nutztiere dafür da sind, gegessen zu werden. Wie stark solche Irritationen sind, hängt jedoch sehr von den Milieus ab.
In der jungen urbanen, gebildeten Mittelschicht, vor allem bei Frauen, spielt das Tierwohl mehrheitlich eine große Rolle. Da hat der Fleischkonsum einen vollständigen Imagewandel durchgemacht. Was früher normal war, muss heute legitimiert werden. Es gibt dort analog zur Flugscham eine Fleischscham. In anderen Milieus kommt das viel weniger vor. Diese Milieus sind eher statusorientiert und traditionsbewusst, da kommt auf den Tisch, was schon die Eltern gegessen haben. Eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung lässt sich also noch nicht behaupten, wir sehen aber starke Dynamiken in bestimmten Milieus.
Rechnen Sie damit, dass diese Entwicklung sich fortsetzt? Sehen wir vielleicht auch in der Kuh irgendwann ein Du?
Das kommt ganz darauf an, wohin man blickt. In den Wachstumsmärkten Asiens ist die Industrialisierung der Nutztierhaltung mitten im Aufschwung. Das ist sicher nicht mit dem zu vereinen, was wir als „ökologische Tierhaltung“ ansehen würden. In Deutschland dagegen ist tatsächlich eine neue Debatte im Gange. Sie dreht sich um die Frage: Wo liegen die Grenzen des legitimen Umgangs mit Nutztieren?
Da unterscheiden sich die Perspektiven sehr stark, etwa zwischen einer Tierrechtlerin und einem Schweinebauern, der mehr als 20000 Tiere im Stall hat. Dennoch wird hier hart um Grenzen gerungen, und diese Grenzverschiebungen kann man sehen: Kükenschreddern ist jetzt nicht mehr in Ordnung, die betäubungslose Kastration von Ferkeln auch nicht.
Wir sprechen also darüber, was wir noch erträglich finden und was nicht?
Genau. Diese große Trennung – das eine Tier ist zum Essen da, das andere ist mein Freund – wird zunehmend hinterfragt. Das sieht man auch daran, welchen Zulauf die vegane, vegetarische und die flexitarische Ernährung, also eine Art „Teilzeitvegetarismus“, haben. Ich denke, dass bei den meisten, die weniger Fleisch essen oder gar keines mehr, das Unbehagen eine große Rolle spielt, dieses mulmige Gefühl, wie ungleich wir Tiere behandeln.
Aber Sie schreiben in Ihrem Buch Streicheln oder schlachten: „Diese Entwicklungen sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein großer Teil der Bevölkerung sich weiterhin entweder keine Gedanken über das Mensch-Tier-Verhältnis macht oder sich dafür entscheidet, mögliches Unbehagen zu verdrängen.“
Es ist ein Diskurs, doch der verläuft eben sehr dynamisch. Die Zahl der Menschen, die auf Fleisch verzichten, steigt stark an, zugleich stehen viele dem „Veggie-Mainstreaming“ kritisch bis feindselig gegenüber. Für einige Menschen steht die Ablehnung von Fleischverzicht stellvertretend für die Ablehnung einer neuen, grünen Leitkultur. Es gibt zahlreiche Argumente, die mir das Gefühl geben, mein Fleischessen sei völlig in Ordnung.
Doch gesellschaftlich gesehen verschieben sich die Verhältnisse. Die Gruppe derer, die sagt, dass es doch nicht so ganz in Ordnung ist, wird größer. Ebenso wachsen die mediale Aufmerksamkeit und die politische Anschlussfähigkeit von solchen Themen. Wir stecken mitten in einem Deutungskampf über die Zukunft der Mensch-Tier-Beziehungen.
Wenn man sich nun darauf einlässt, dass auch ein Nutztier ein Freund sein kann: Wie geht man mit dem Wissen um, dass die meisten dieser Tiere kein gutes Leben haben?
Es gibt Forschungen über posttraumatische Belastungsstörungen von Tierrechtsaktivistinnen und -aktivisten. Das ist zwar ein sehr kleiner Teil, aber auch da zeigt sich: Er wird größer. Ich habe Forschungen im Schlachthof gemacht und mit vielen Mitarbeitenden gesprochen. Im Schlachthof geht es darum, dass bestimmte störende Gefühle wie Mitleid, Schuldbewusstsein und Trauer hinderlich sind, wenn man ein Tier tötet. Im besten Fall erlebt man sie erst gar nicht.
Deshalb ist die wichtigste Strategie von Schlachthofmitarbeiterinnen und -mitarbeitern die emotionale Distanz. In dem Moment, in dem ich das Du im Tier erkenne, wird es ganz schwierig. Weil mir dann ein Jemand gegenübersteht, den ich töte, und nicht ein Etwas, das ich verarbeite. Da hilft es, sich zu sagen: Das Tier ist eine Ware. Man muss es gut behandeln, aber es ist ein Rohstoff. Und exakt diese emotionale Distanz kennen die meisten Leute aus ihrem Alltag: Das verarbeitete Tier wird im Supermarkt eingekauft, aber einen Schlachthof will niemand von innen sehen. Das heißt, dass es manchmal sehr viel braucht, damit sich Verhalten nachhaltig ändert – aber es gibt diese Irritationsmomente.
Gab es beim Schlachthofpersonal auch Aussteiger? Solche, die ihre Tätigkeit irgendwann nicht mehr ausgehalten haben?
Meine Interviewpartner arbeiteten seit vielen Jahren im Schlachthof. Aber manche sagten tatsächlich, am Anfang sei es schwer gewesen, doch irgendwann wurde es zur Gewohnheit. Manche nennen das „emotionale Abstumpfung“, aber ich denke, es ist eine Normalisierung, eine professionelle Routine. Mir wurde aber auch gesagt, man merke sehr schnell, wer das Zeug dazu hat. Da setzt ein Selektionsprozess ein: Einige verlassen den Schlachthof nach ein, zwei Wochen, weil es ihnen nicht gelingt, sich daran zu gewöhnen.
Ist dieser Umgang mit ambivalenten Gefühlen typisch menschlich? Wir helfen spontan anderen, die vor uns auf der Straße stürzen, lesen aber ungerührt von Toten im Mittelmeer.
Wir gehen ständig mit Interessenkonflikten um, mit widersprüchlichen Gefühlen: Ich will nicht zur Arbeit gehen, aber ich brauche das Geld. Dass etwas nicht zusammenpasst, nehmen wir hin. Die Frage ist: Erleben wir das bewusst? Wir horchen heute viel stärker in uns hinein als früher. Auch das ist wieder abhängig von den Milieus, nimmt jedoch insgesamt zu.
Sie haben in Ihrem Buch geschrieben, unsere Nutztierhaltung funktioniere nur, weil sie unsichtbar ist. Doch mit den sozialen Medien hat sich das verändert: Wir teilen Fotos miteinander, Videos aus Tierställen verbreiten sich rasend schnell. Führt mehr Sichtbarkeit zu mehr Mitgefühl?
Es ist eine transparentere Welt entstanden, das stimmt. Aber es gibt keinen kausalen Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Mitempfinden. Viele Menschen sind erst einmal berührt, wenn sie Leid sehen. Doch was danach passiert, ist eine ganz andere Frage. Das heißt noch lange nicht, dass sich deswegen auch das Verhalten ändert. Das hängt ganz von der individuellen Persönlichkeit ab.
Verstehe ich das richtig: Schlimme Bilder haben nicht zwingend eine abschreckende Wirkung? Bei Zigarettenpackungen wird doch genau auf diese Verknüpfung gesetzt.
Und trotzdem rauchen viele Menschen weiterhin. Grundsätzlich kann man schon sagen, dass die Sichtbarkeit von Tierleid einen Einfluss auf Menschen haben kann. Aus Sicht der Tierrechtsbewegung ergibt es durchaus Sinn, immer wieder die Zustände in den Tierställen ans Licht zu zerren. Aber es bleiben auch viele Menschen, die sich weitgehend unbeeindruckt von diesen Bildern zeigen.
Wenn Sie sagen, dass das nicht reicht: Müssen dann doch Verbote her, damit sich etwas ändert?
Aus soziologischer Sicht ist spannend, ab welchem Punkt eine bestimmte Form des Umgangs mit Tieren nicht mehr mehrheitsfähig ist. Dann sind zumindest die gesellschaftlichen Bedingungen geschaffen, dass ein Verbot auf große Zustimmung trifft. Trotzdem ist das kein Selbstläufer, denn oft werden stärkere Tierschutzgesetze nur gegen den Widerstand wirtschaftlicher Interessen durchgesetzt.
Was meinen Sie, wie wird sich die Mensch-Tier-Beziehung in Zukunft entwickeln?
Ich halte es für wahrscheinlich, dass wir am Beginn einer großen Transformation des Mensch-Tier-Verhältnisses stehen. Es deuten sehr viele Entwicklungsprozesse darauf hin, dass es so, wie es ist, nicht mehr lange weitergeht. Die industrialisierte Massentierhaltung könnte in Deutschland zum Auslaufmodell werden, weil sie schon so lange kritisiert wird.
Die Frage, ob wir uns diese als Gesellschaft noch weiter leisten können, stellt sich nicht zuletzt auch wegen ihrer enormen Auswirkungen auf den Klimawandel und die Artenvielfalt. Aber ich bin trotzdem vorsichtig: Wir sprechen nur von Entwicklungstendenzen, eine Prognose bleibt schwierig. Wenn man sich ansieht, was Corona und der Ukraine-Krieg in der Politik und im Alltagsverhalten verändert haben, ist das enorm. Das konnte man nicht vorhersehen.
Sie schreiben auch über animal citizenship als mögliche Zukunft im Umgang mit Tieren. Was bedeutet das?
Diese Theorie geht zurück auf die Philosophin Sue Donaldson und den Politikwissenschaftler Will Kymlicka. Sie unterteilen Tiere in Kategorien. Die einen, die Haustiere und die Nutztiere, sind Mitglieder unserer politischen Gemeinschaft. Wir haben sie durch die Domestikation von uns abhängig gemacht und sind deshalb für ihr Wohlergehen verantwortlich. Weil diese Tiere nun in unsere Gesellschaft hineingehören, sind sie animal citizens.
Also tierische Bürger? Oder bürgerliche Tiere?
Eher Tiere als Staatsbürger. Und diese animal citizens haben Rechte. Etwa das Recht auf politische Mitsprache, mithilfe eines Obmann- oder Obfrau-Systems. Sie haben eine politische Vertretung, wie Menschen, die sich selbst nicht vertreten können. Die politische Gemeinschaft wird also um die nichtmenschlichen Teilnehmerinnen und Teilnehmer erweitert, wir müssen sie mitdenken. Daraus folgt zum Beispiel ein Anspruch auf Versorgung und auf ein gutes Leben.
Wildtiere fallen in eine andere Kategorie. Sie werden wie Angehörige souveräner, fremder Nationen betrachtet – als Deutscher habe ich zum Beispiel das Recht auf Sozialleistungen, jemand aus den USA hat das hier nicht. Diese Übertragung der Staatenzugehörigkeit auf Tiere ist ein sehr neuer Gedanke. Allerdings handelt es sich dabei um eine Theorie unter idealen Bedingungen. Menschen dürften demzufolge dann auch nicht weiter die Habitate von Wildtieren zerstören.
Halten Sie diese Idee der animal citizens für realistisch?
In gewisser Weise ja, in rudimentärer Form existiert sie schon: Ein Polizeihund hat gewisse Rentenansprüche, ein Hund, der beim Film arbeitet, genießt eine Form von Arbeitsschutz und darf nur eine gewisse Anzahl von Stunden am Stück am Set sein. Aber das eigentlich Spannende ist: Dadurch hören die Unterschiede, die wir heute zwischen Haus- und Nutztieren machen, plötzlich auf zu existieren. Das würde auch bedeuten: Haustiere werden nicht geschlachtet, also werden auch Nutztiere nicht mehr geschlachtet.
Wir würden also Nutztiere nur noch nutzen, ihre Eier, ihre Milch, ihre Wolle nehmen, sie aber nicht mehr töten? So wie manche Hunde auch genutzt werden, etwa als Hüter für Schafe? Ein größerer Wandel im Mensch-Tier-Verhältnis ist ja kaum denkbar.
Zu den Staatsbürgerrechten gehören auch fundamentale Grundrechte, die uns etwa vor Ausbeutung und Gewalt schützen sollen. Milchproduktion, für die Kühe unter Zwang künstlich befruchtet werden, oder die Zucht von Hochleistungshühnern sind damit nicht vereinbar. Vielleicht arbeiten dann noch einige Schafe im Deichschutz, aber fast alle Formen der heute gängigen, landwirtschaftlichen Nutzung von Tieren wären mit dieser Theorie nicht kompatibel.
Dr. Marcel Sebastian ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Dortmund, Fachbereich Umweltsoziologie mit dem Schwerpunkt Transformationsforschung. Für seine Doktorarbeit hat er unter anderem erforscht, wie Schlachter mit Tiertötung umgehen.
Quelle
Marcel Sebastian: Streicheln oder Schlachten. Warum unser Verhältnis zu Tieren so kompliziert ist - und was das über uns aussagt. Kösel 2022