Frau Seyler, Sie haben viele Frauen begleitet, die ungewollt schwanger wurden. Wie geht es denen in dieser Situation?
Die meisten Frauen stehen unter großer Anspannung. Natürlich gilt das nicht für alle. Aber Studienergebnisse zeigen deutlich: Eine ungewollte Schwangerschaft bedeutet eine hohe psychische Belastung.
Warum? Sind die Frauen unsicher, ob sie das Kind austragen sollen oder nicht?
Viele Frauen wissen es sofort, wenn sie die Schwangerschaft abbrechen möchten. Andere brauchen ein paar Tage für die…
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wissen es sofort, wenn sie die Schwangerschaft abbrechen möchten. Andere brauchen ein paar Tage für die Entscheidung. Aber nur ganz wenige Frauen sind in einem schwerwiegenden Konflikt. Das betrifft nach unserer Erfahrung weniger als eine von zehn Frauen.
Was belastet die Frauen dann?
Im Wesentlichen die Sorge, dass der Abbruch schwierig oder gefährlich wird. Viele Frauen haben Angst, dass man schlecht mit ihnen umgeht. Und sie fragen sich: „Was sagt mein Umfeld dazu?“ Außerdem belastet die gesellschaftliche Stigmatisierung, die sich darin zeigt, dass es Hürden gibt, wie etwa die Pflichtberatung und Wartezeiten.
Abtreibungsgegnerinnen und -gegner betonen das unantastbare Recht auf Leben, das auch für den Embryo gelte. Beschäftigt das die Frauen auch?
Viele der Frauen, die sich früh in der Schwangerschaft für einen Abbruch entscheiden, entwickeln keinen Bezug zu einem Embryo. Völlig anders ist das bei Frauen, die sich in einer erwünschten Schwangerschaft aufgrund von Auffälligkeiten beim Fetus für einen Abbruch entscheiden. Sie haben oft mit schweren Schuldgefühlen zu kämpfen.
In Deutschland sind Schwangerschaftsabbrüche strafbar. Der Paragraf 218a regelt aber, dass ein Abbruch nach einer Pflichtberatung in einer anerkannten Beratungsstelle bis zu dem Ende der zwölften Schwangerschaftswoche straffrei bleibt.
Die meisten Frauen kennen diese rechtlichen Regeln nicht so genau. Sie wissen nur: Ich muss zur Beratung, dann darf ich den Abbruch vornehmen lassen. Aber es bleibt das Stigma: Eigentlich ist der Abbruch nicht in Ordnung.
Welche Folgen hat das?
Es führt zu Scham: Viele Frauen wollen nicht über den Abbruch sprechen und überlegen sich sehr genau, wem sie davon erzählen. Andere machen sich Vorwürfe: „Ich bin schuld, ich war leichtsinnig mit der Verhütung.“ Bei manchen Frauen führt die Scham zu völliger Geheimhaltung. Niemand darf von der Schwangerschaft und dem Abbruch wissen. Viele Frauen haben das Gefühl: Sie sind die Einzigen, die diese Erfahrung machen, und können niemandem davon erzählen.
Die Beratung bietet ihnen die Möglichkeit, über ihre Gedanken und Gefühle zu sprechen. Das ist doch gut.
Aber es handelt sich um eine Pflichtberatung. Das signalisiert: „Wir trauen dir die Entscheidung nicht zu. Da muss jemand anderes mitreden.“ Daher kommen viele Frauen sehr besorgt in die Beratung. Sie fürchten, dass ihre Entscheidung nicht respektiert wird und sie sich rechtfertigen müssen.
Laut Gesetz dient die Beratung dem Schutz des ungeborenen Lebens. Sie hat das Ziel, Frauen zu ermutigen, die Schwangerschaft auszutragen.
Das stimmt. Aber das Gesetz ist widersprüchlich formuliert. Es sagt nämlich auch, dass die Beratung ergebnisoffen sein soll. Eine Beratung in eine Richtung wäre nach professionellem Verständnis keine Beratung. Sondern es geht darum, Frauen darin zu unterstützen, eine tragfähige Entscheidung zu treffen.
Außerdem sagt das Gesetz sinngemäß: „Die Mitwirkung der Frau darf nicht erzwungen werden.“ Wir legen das so aus, dass die Frau selbst entscheidet, worüber sie sprechen möchte. Wir sagen den Frauen daher gleich am Anfang: „Nur Sie entscheiden, worüber Sie sprechen möchten. Den Schein zum Nachweis der Beratung bekommen Sie in jedem Fall.“ Für die Frauen ist das eine große Erleichterung und öffnet den Raum, über Gefühle zu sprechen.
Wie läuft denn eine typische Beratung ab?
Wir beginnen immer mit dieser Frage: „Sind Sie entschieden oder nicht?“ Dann fragen wir die Frauen, ob sie über die Gründe sprechen möchten. Viele fangen sofort an, sich zu erklären. Oft sind die Frauen in einer schwierigen Partnerschaft oder es gab eine Trennung und die Frau will das Kind nicht allein großziehen, weil sie keinerlei Unterstützung hat. Andere haben finanzielle oder soziale Probleme: Das Geld reicht hinten und vorne nicht, die Wohnung ist viel zu klein, das Paar ist völlig überschuldet.
Oft stellen die Frauen auch praktische Fragen: Ist der Abbruch gefährlich? Kann ich anschließend noch Kinder bekommen? Was kommt genau auf mich zu? Wir bieten Informationen an, schauen aber, was für die Frau wichtig ist.
Handhaben andere Einrichtungen die Beratung ähnlich?
Ich denke, viele schon. Das Problem ist: Wenn Frauen im Internet nach Beratungsstellen suchen, landen sie erst mal auf Seiten von Abtreibungsgegnern. Sie müssen sich mühsam durcharbeiten und aufpassen, dass sie nicht in die Fänge von Pseudoberatungsstellen wie Pro Femina geraten, die keine Beratungsscheine ausstellen und meiner Ansicht nach nur gegründet wurden, um zu belegen, dass sich die meisten Frauen gegen den Abbruch entscheiden würden, wenn sie nur „richtig“ beraten würden. Sie bieten keine neutrale Beratung an.
In den USA tobt der Streit um Schwangerschaftsabbrüche, nachdem der Supreme Court ein Grundsatzurteil aufgehoben hat. In einigen Bundesstaaten sind Schwangerschaftsabbrüche inzwischen verboten. Ist es richtig, dass auch bei uns in Deutschland immer weniger Kliniken und Praxen Schwangerschaftsabbrüche anbieten?
Die gynäkologischen Fachgesellschaften bestreiten vehement, dass es in Deutschland einen Versorgungsmangel gibt. Wir haben leider keine handfesten Daten dazu, es ist sehr schwierig, an Zahlen zu kommen. Das Statistische Bundesamt verfügt über diese Informationen, gibt sie mit Verweis auf Datenschutz aber nicht weiter. Deshalb haben wir nur Erfahrungsberichte aus den Beratungsstellen und von Medien. Hier in Hamburg ist die Versorgungslage gut, aber eine Kollegin aus Hessen berichtet, dass sie jede Woche Frauen abweisen muss, die zum Teil aus weit entfernten Orten anrufen und verzweifelt um einen Termin bitten.
Welche Folgen hat diese Entwicklung für Frauen, die eine Ärztin für einen Abbruch suchen?
Pro Familia hat 2019 in Beratungsstellen nachgefragt, wie gut die Versorgung in der jeweiligen Region ist. Da zeigte sich, dass Frauen in einigen Regionen bis zu 100 Kilometer weit fahren oder bis zu fünf Wochen auf einen Termin warten müssen.
Die Frauen haben in der Regel nicht viel Zeit, weil der Abbruch innerhalb der Dreimonatsfrist vorgenommen werden muss.
Das ist das Problem. Sie bekommen eine Adressliste, vielleicht mit dem Tipp: „Probieren Sie es hier, da haben Sie die besten Chancen.“ Die Frau muss sich dann ans Telefon setzen und versuchen, die Kliniken oder Praxen zu erreichen, was oft gar nicht so einfach ist. Diese Telefoniererei ist extrem mühsam. Und über allem steht die Angst, den Abbruch nicht mehr rechtzeitig zu schaffen. Wenn die Frau dann am Telefon durchkommt, hat sie oft eine gestresste Angestellte am Telefon, die sagt: „In den nächsten drei Wochen geht bei uns gar nichts.“
Schaut man auf die Liste der Bundesärztekammer, sieht man sogar auf einen Blick, dass es zum Beispiel in Bayern oder Nordhessen kaum Angebote gibt.
Die Liste ist aber unvollständig, denn die Eintragungen sind freiwillig und angesichts der drohenden Stigmatisierung, der Ärztinnen und Ärzte ausgesetzt sind, kann man nachvollziehen, dass sie sich den Eintrag gut überlegen.
Fürchten sie, dass die Gegnerinnen und Gegner vor ihrer Tür demonstrieren?
Es gibt immer wieder heftige Angriffe auf Praxen, die Abbrüche vornehmen. Gerade erleben in Norddeutschland einige Kolleginnen und Kollegen, dass sie durch diese Leute bedroht und belästigt werden, nachdem sie sich in die Liste eingetragen haben. In Dortmund haben Abtreibungsgegnerinnen Flyer mit Verunglimpfungen gegen eine Ärztin in deren Nachbarschaft verteilt und darauf hingewiesen, dass in den USA in Abtreibungskliniken Feuer gelegt werden. Das gebe es in Europa natürlich nicht. „Noch nicht“, so die Warnung.
Wie denken denn Medizinerinnen und Mediziner selbst über die Abbrüche?
In den 1970er und 1980er Jahren haben Ärztinnen und Ärzte noch mitbekommen, wie Frauen nach illegalen, nicht fachgerecht durchgeführten Abbrüchen mit schweren Komplikationen in den Kliniken landeten. Sie waren ganz nah dran. Daraus entstand ein Bewusstsein, dass Schwangerschaftsabbrüche eine wichtige Aufgabe in der Medizin sind. Das ist jetzt nicht mehr so, vielleicht weil die Versorgung insgesamt besser wurde und man eben nicht mehr die Folgen von verpfuschten Eingriffen sieht. Ich denke, bei vielen herrscht heute eher die Haltung vor: „Ach, das ist so ein schwieriges Thema, damit befasse ich mich lieber nicht.“
Ein weiteres Problem: Ein Großteil der Ärztinnen und Ärzte absolviert seine Aus- und Weiterbildung in Kliniken, die keine Abbrüche vornehmen. Mit den Eingriffen kann man zudem nicht viel Geld verdienen und erhält auch keine Anerkennung. Stattdessen haben Abbrüche immer noch ein leichtes Schmuddel-Image. Das habe ich selbst über die Jahre erlebt.
Wurden Sie angefeindet?
Nein, nicht direkt. Aber ich habe die Reaktionen bemerkt, wenn ich sagte: „Ich arbeite im Familienplanungszentrum und mache Abbrüche.“ Und ich wurde oft gefragt: „Warum tun Sie denn so etwas?“ Ich sage dann, dass Abbrüche ein wichtiger Teil der frauenärztlichen Arbeit sind und ich es erfüllend finde, Frauen auch in dieser Lebenssituation zu begleiten.
Die American Psychiatric Association schreibt in einem Artikel, dass vor allem der Mangel an Angeboten für einen Schwangerschaftsabbruch bei den Frauen zu psychischen Belastungen führe. Wie stehen Sie zu dieser These?
Ich denke, es ist eine Kombination: Die ungewollte Schwangerschaft belastet die Frauen psychisch, aber auch die Hürden, die sie bei einem Abbruch erleben. Außerdem spielt das Umfeld eine wichtige Rolle: Wie stark wird ein Abbruch von der Familie und im Freundeskreis moralisch verurteilt?
Möglicherweise gibt es zwischen psychischen Störungen und ungewollten Schwangerschaften aber auch einen umgekehrten Zusammenhang: In Studien finden sich Hinweise darauf, dass Frauen mit psychischen Belastungen häufiger ungewollt schwanger werden als andere. Ich kann diesen Zusammenhang nachvollziehen, da ich öfter ungewollt Schwangere sehe, die nur schlecht für sich sorgen können, denen es nicht gelingt, bei der Sexualität Grenzen zu setzen oder sich um Verhütung zu kümmern. Das Tragische: Manchmal sind die Frauen so belastet, dass sie es nicht mal schaffen, zum Frauenarzt zu gehen, um die Schwangerschaft feststellen zu lassen. Sie stecken einfach den Kopf in den Sand.
Wie erleben Frauen den Abbruch? Stoßen sie in den Kliniken und Praxen auf Ablehnung?
Die Erfahrungen sind ziemlich unterschiedlich. Da aber immer mehrere Personen anwesend sind, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, auch mal auf eine zu treffen, die eine blöde Bemerkung macht wie: „Haben Sie sich das auch tatsächlich gut überlegt?“ Frauen, die Angst haben, mussten sich früher Sprüche anhören wie: „Beine breit machen konnten Sie ja. Stellen Sie sich mal nicht so an.“ Heute sind die Umgangsformen dezenter geworden. Aber dass die eine oder der andere so denkt und diese Haltung subtil herüberkommt, davon gehe ich aus.
Welche Gefühle erleben Frauen nach einem Abbruch?
Das vorherrschende Gefühl danach ist Erleichterung. Angst und Stress lassen nach. Daneben erlebt eine ganze Reihe von Frauen eine Phase der Trauer, selbst wenn sie entschieden waren. Diese Trauer ist eine normale Form der Verarbeitung. Viele Frauen müssen sich auch mit Scham und Schuld auseinandersetzen. Und es gibt einige wenige, die sehr stark psychisch belastet sind. Das sind nach unserer Erfahrung vor allem die Frauen, für die die Entscheidung extrem konflikthaft war, sie innerlich zerrissen hat: Sie haben einen Kinderwunsch, möchten aber keinesfalls zu diesem Zeitpunkt Mutter werden. Das sind schwere Krisen, in denen Frauen langfristige professionelle Unterstützung brauchen.
Seit langem wird darüber diskutiert, ob ein Schwangerschaftsabbruch selbst psychische Folgen hat und es ein sogenanntes Post-Abortion-Syndrom gibt.
Es gibt eine Vielzahl an Studien darüber. Was man wissen muss: Der Diskurs ist extrem durch Abtreibungsgegnerinnen und -gegner bestimmt, die damit die gesellschaftliche Haltung gegenüber Abbrüchen beeinflussen wollen. Die qualitativ guten Studien zeigen aber relativ klar, dass vor allem eine ungewollte Schwangerschaft die Frauen psychisch belastet. Wenn man vergleicht, ob die Fortführung der Schwangerschaft oder der Schwangerschaftsabbruch stärker belastet, sieht man keine Unterschiede. Das heißt: Die Entscheidung für einen Abbruch ist nicht belastender als die Entscheidung, die Schwangerschaft auszutragen.
In der Anfang 2023 veröffentlichten deutschen Leitlinie heißt es zu dieser Frage: „Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch durchführen lassen, sollten darüber informiert werden, dass sie wie bei anderen schweren Lebensentscheidungen eine große Bandbreite unterschiedlicher Emotionen erleben können, die kein Anzeichen einer psychischen Störung sind.“ Ich finde, das ist eine sehr wichtige Zusammenfassung.
Was müsste sich ändern, damit Frauen, die ungewollt schwanger sind und sich für einen Abbruch entscheiden, möglichst wenig Schaden nehmen?
Das kann man in einem Satz sagen: Ein Schwangerschaftsabbruch müsste ein Eingriff sein wie jeder andere auch, sowohl von der rechtlichen Regelung als auch von den Angeboten und der Organisation.
Wäre die Abschaffung des Paragrafen 218 der entscheidende Schritt?
Es wäre ein entscheidender Schritt, aber nur die rechtliche Seite. In Kanada beispielsweise sind Schwangerschaftsabbrüche nicht strafrechtlich geregelt. Aber trotzdem gibt es regional Versorgungsprobleme, weil Abtreibungsgegnerinnen und -gegner großen Einfluss nehmen. Das gesellschaftliche Klima spielt eine wichtige Rolle. Das müsste sich auch ändern.
Haben Sie den Eindruck, dass die Gesellschaft wieder abbruchfeindlicher geworden ist? Nimmt in Krisenzeiten das Bedürfnis zu, den Körper der Frauen zu kontrollieren?
Ich glaube eher, dass diese Haltung durch das Erstarken von rechten gesellschaftlichen Kräften sichtbarer geworden ist. Diese Kräfte wollten und wollen die Körper, die Sexualität und Reproduktion kontrollieren, und zwar nicht nur von Frauen. Wichtig ist, welchen Anteil der Gesellschaft diese Kräfte repräsentieren, also ob sie in erster Linie laut sind oder ob ihre Haltung tatsächlich in der Gesellschaft stärker verbreitet ist. Ich glaube das eher nicht. Ich sehe viele, gerade auch junge Menschen, die sich sehr engagiert für die reproduktive Selbstbestimmung von Frauen einsetzen.
Helga Seyler ist Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Sie hat rund 30 Jahre im Familienplanungszentrum Hamburg als Beraterin gearbeitet. Sie hat als Medizinerin auch Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen.
Quelle
Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe: Schwangerschaftsabbruch im ersten Trimenon. AWMF-Leitlinie Nr. 015-094, Berlin 2023