Herr Arzheimer, in diesem Jahr fanden und finden mehrere Wahlen in der EU und Deutschland statt. Was beeinflusst eigentlich, wo wir unser Kreuz setzen?
Die Wahlforschung arbeitet mit drei großen Theorien, die unser Wahlverhalten erklären sollen. Der älteste Ansatz ist der soziologische, der besagt, dass die Menschen so wählen, wie die Gruppe es von ihnen erwartet. Hier kann man noch unterscheiden: Orientiert man sich an großen gesellschaftlichen Gruppen wie beispielsweise – ganz klassisch – dem…
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unterscheiden: Orientiert man sich an großen gesellschaftlichen Gruppen wie beispielsweise – ganz klassisch – dem Arbeitermilieu oder dem christlich-katholischen Milieu? Oder schaut man eher auf das unmittelbare soziale Umfeld und erklärt Wahlverhalten mit den Erwartungen von Familie, Freundeskreis und Nachbarschaft?
Dominierend in der Forschung ist heutzutage der sozialpsychologische Ansatz, der sehr stark auf die Einstellungen von Menschen abzielt. Zentral ist dabei, wie sehr ich mich mit einer Partei identifiziere. Also: Ich sehe mich selbst als Angehöriger einer Gruppe, die dadurch definiert ist, dass wir alle dieser Partei nahestehen und diese Partei unsere Werte und Ziele vertritt. Gehört es zu meiner Identität, dass ich ein Sozialdemokrat, Christdemokratin oder Grüne bin? Relevant ist nach diesem Ansatz darüber hinaus, wer momentan für die Partei zur Wahl steht und welche politischen Themen gerade aktuell sind.
Was ist die dritte große Theorie?
Es gibt noch den rationalistischen Ansatz, der auf den US-amerikanischen Politologen Anthony Downs zurückgeht. Wähler und Wählerinnen versuchen demzufolge, mit einer Kosten-Nutzen-Abwägung die optimale Wahlentscheidung zu finden.
Also von wem ich mir den größten Vorteil erhoffe?
Und damit den eigenen finanziellen Nutzen aus der Regierungstätigkeit maximiere. Aber schon Downs selbst hat festgestellt, dass diese Erklärung in der Regel nicht besonders gut funktioniert. Für die Informationsbeschaffung und den Wahlakt selbst entstehen zum Beispiel Kosten, schon weil ich in dieser Zeit nicht produktiv arbeiten kann. Eine Wählerin, die nur ihren finanziellen Nutzen maximieren möchte, bleibt deshalb zu Hause.
Haben rationale Überlegungen folglich nur einen geringen Einfluss auf unsere Wahlentscheidung?
Dass der rationalistische Ansatz nicht so relevant für das tatsächliche Wahlverhalten ist, heißt nicht unbedingt, dass Menschen irrational handeln. Es heißt nur, dass sie nicht solche komplexen Kalkulationen anstellen, wie man sich das bei einer Kaufentscheidung vorstellen würde.
Wenn das Rationale wenig Einfluss hat, woran orientieren wir uns dann hauptsächlich bei Wahlentscheidungen?
Ungefähr die Hälfte aller Wahlberechtigten in Deutschland weist eine Parteiidentifikation auf. Das heißt: Solange nichts Dramatisches passiert, was mein Bild von der politischen Wirklichkeit total durcheinanderbringt, orientiere ich mich primär daran. Ein Beispiel: Sie stellen als SPD-Anhängerin fest, dass Olaf Scholz Sie nicht überzeugt. Sie fanden aber auf der anderen Seite die Respektkampagne ganz gut, und die soziale Gerechtigkeit ist Ihnen schon immer wichtig gewesen. Dann hebt sich der Widerspruch auf und Sie bleiben bei Ihrer Voreinstellung zur SPD.
Und die andere Hälfte der Wählenden?
Sie identifiziert sich nicht mit einer bestimmten Partei. Dieser Gruppe sind die kurzfristigen Faktoren wie aktuelle politische Themen und das momentane Personal wichtig. Natürlich gibt es auch bei diesen Menschen Grundüberzeugungen, oder sie hatten mal eine Parteiidentifikation, die verlorengegangen ist. Manchen tut es sogar immer noch ein bisschen weh, eine entgegengesetzte Partei zu wählen.
Wir wissen, dass mit den Generationen die Identifikation abnimmt. Sie ist bei jüngeren Menschen tendenziell seltener, ebenso bei Menschen in Ostdeutschland.
Gibt es denn Entscheidungen aus dem Bauch heraus?
So würde ich es nicht nennen. Wir wissen aber, dass sich manche Menschen kurzfristiger entscheiden, also zumindest in der eigenen Wahrnehmung. Sie verschieben die Entscheidung nach hinten, immer näher an den tatsächlichen Wahltag heran. Das konnten Studien gut nachweisen.
Ist das heute häufiger?
Ja, seit zwanzig bis dreißig Jahren. Aber ob sich Wähler und Wählerinnen in der Kabine wirklich anders entscheiden, ist eine offene Frage. Wie zuverlässig ist es, wenn mir jemand in einer Studie sagt: „Eigentlich weiß ich bis kurz vor der Wahl nicht, was ich wählen soll“? Ich muss der Aussage glauben, weil ich keine Möglichkeit habe, sie zu überprüfen. Vielleicht ist es so, dass die Leute eher sagen: „Ich denke darüber nach“, oder sie das Gefühl haben, darüber nachzudenken, sich aber am Ende genauso entscheiden, wie sie es vor zehn Jahren auch schon getan haben.
Die Leute würfeln also nicht in der Wahlkabine.
Gewürfelt wird sicher nicht… Eigene Grundüberzeugungen und Werte ändern sich nach wie vor nicht so schnell. Wenn ich links und für Klimaschutz bin, frage ich mich vielleicht, ob ich meine Stimme eher der SPD oder den Grünen gebe oder doch der Linkspartei oder ob das Bündnis Sahra Wagenknecht etwas für mich sein könnte.
Die Ausdifferenzierung im Parteiensystem erklärt mit, warum es nicht mehr so einfach ist, wie es in ferner Vergangenheit war mit einem Zweieinhalb-Parteien-System, der SPD und der CDU/CSU. Diese Zeiten sind lange vorbei. Die Politik ist komplexer geworden, und so ist es nicht erstaunlich, dass es inzwischen schwieriger geworden ist, sich zu entscheiden.
Welche Themen sind für diejenigen Menschen wichtig, die keiner bestimmten Partei anhängen?
Die Gruppe dieser Menschen ist groß und dementsprechend sehr heterogen. Aber wichtig für fast alle Bürgerinnen und Bürger ist die ideologische Selbsteinstufung, also ob ich mich eher links oder rechts verorte. Auch geht es um die grundlegenden Wertorientierungen von Menschen. Für Bürgerinnen und Bürger mit vielen Ängsten – zum Beispiel vor sozialem Abstieg – sind Ruhe, Ordnung und materielle Sicherheit besonders relevant.
In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich in der Forschung ein Modell etabliert, demzufolge die Einstellungen zu conservation values für Wahlentscheidungen wichtig sind, also Dinge wie Sicherheit, Konformität und Tradition oder eben umgekehrt der Wunsch nach Selbstbestimmung und gleichen Rechten für alle.
Welchen Einfluss haben bestimmte politische Erzählungen auf Wählerinnen und Wähler – wie zum Beispiel „Das Heizungsgesetz ist ein Desaster“ oder „Der Klimaschutz ist das Wichtigste überhaupt“?
Bei diesen Erzählungen geht es immer darum, Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren, damit sie wählen gehen, oder sie zu demobilisieren. Natürlich versuchen Parteien, die Leute auf die eigene Seite zu ziehen. Wir als Wahlforscher wissen aber, wie schwierig das ist, weil eben die Parteiidentifikation und die Grundüberzeugungen ziemlich stabil sind. Es ist daher kaum vorstellbar, dass man mit solchen Narrativen tatsächlich die Meinung von jemandem in der Weise ändert, dass die Person beispielsweise von den Grünen zur AfD wechselt oder umgekehrt.
Aber Wechsel passieren dennoch?
Kaum von den Grünen zur AfD. Aber beispielsweise von der CDU zur AfD, sprich innerhalb eines größeren Lagers. Dort kommt es hin und wieder zu Wechseln, und es passiert, dass Menschen, die gewählt haben, nun nicht mehr wählen gehen. Mit politischen Kampagnen erreicht man eher nicht, dass Leute von der anderen Partei ihre Meinung ändern, sondern es kann lediglich gelingen, die eigenen Anhängerinnen und Anhänger zum Wählengehen zu mobilisieren. Die Erzählung ist: Hier geht es um die große Sache und es ist total wichtig, dass ihr alle dabei seid.
Die Opposition wiederum versucht, eine allgemeine Unzufriedenheit zu schüren – auch bei den Regierungsanhängerinnen –, aber ebenfalls weniger in der Hoffnung, diese zu sich herüberzuziehen, sondern mehr mit der Idee, dass diese unzufrieden werden und am Wahltag lieber zu Hause bleiben. Das sind ganz alte politische Taktiken. Sie werden wichtiger in den Momenten, in denen die Wählenden sich flexibler verhalten.
So wie es heutzutage ist?
Ja. Das Potenzial für derartige Kampagnen ist im Vergleich zu früheren Zeiten sicherlich größer geworden, weil wir ein differenzierteres Parteien- und Mediensystem haben und gleichzeitig die Parteibindungen abgenommen haben.
Wie sehr lassen sich Menschen von der Persönlichkeit eines Politikers, einer Politikerin beeinflussen, von deren Auftreten, Aussehen und Sprache?
Das politische Personal ist wegen der schwindenden Parteibindung wichtiger geworden. Ich überlege mir zum Beispiel als Wähler, welche Eigenschaften ich an einer Kandidatin schätze. Sind es eher politische Aspekte, also ob sie eine kompetente Managerin ist und die richtigen Ideen hat, oder ist da jemand, der sehr durchsetzungsstark wirkt, der meine Positionen auf der nationalen und internationalen Bühne gut vertreten kann. Dann gibt es auf der anderen Seite die eher unpolitischen Eigenschaften, also ob ich jemanden sympathisch finde oder es eine Person ist, die ähnliche Werte vertritt wie ich.
Wie stark können solche weichen Faktoren wirken?
Sie spielen eine gewisse Rolle. Aber am Ende sind es beim Wahlergebnis vielleicht ein paar Prozentpunkte, bei denen die Person, die vorn steht, den Unterschied ausmacht. Wichtig ist auch, wie gut die Wahlkampagne läuft, vor allem wenn die Person noch nicht so bekannt ist. Angela Merkel war zum Beispiel eine Konstante im politischen Leben. Die brauchte eigentlich keinen Wahlkampf zu machen. Sie stellte sich dann auch irgendwann mal hin und sagte: „Sie kennen mich.“ Genauso war es. Martin Schulz, der ehemalige Kanzlerkandidat der SPD, ist ein Gegenbeispiel. Er ist mit sehr hohen Zustimmungswerten gestartet, bis man ihn kennengelernt hat. Je länger die Kampagne lief, desto schwächer sah der Kandidat aus.
Dann können Kampagnen also doch Wählerentscheidungen beeinflussen?
Ja, in gewissem Maße, aber nicht weil sich Überzeugungen verändern, sondern weil an bestehende Überzeugungen appelliert wird beziehungsweise neue Informationen über einen Kandidaten oder eine Kandidatin bekannt werden.
Welchen Einfluss haben charismatische Persönlichkeiten?
In den neunziger Jahren war das ein größeres Thema, weil einige von den neuen Rechtsparteien scheinbar erfolgreiche charismatische Führungsfiguren hatten. Bekannt waren etwa Jörg Haider in Österreich und Pim Fortuyn in den Niederlanden, der auch ein flamboyantes Auftreten besaß. Es ist aber erstens schwierig zu quantifizieren, was Charisma sein soll, und zweitens können auch Parteien mit viel langweiligerem Führungspersonal auf einmal Erfolg haben. Charisma ist nicht der entscheidende Faktor. Es schadet natürlich nicht, wenn man jemanden hat, den man in die Talkshows schicken und der gut reden kann. Aber das Thema ist nicht so zentral, wie man eine Zeitlang dachte.
Neigen wir dazu, der Partei unsere Stimme zu geben, die in Umfragen vorne liegt?
Das ist dann der berühmte bandwagon effect…
…im übertragenen Sinn: der fahrende Zug, auf den jemand aufspringt, wenn er sich einer erfolgversprechenden Sache anschließt.
Genau. Ob es diesen Effekt überhaupt gibt oder wie stark er ist, ist sehr schwer zu prüfen. Es gibt ältere Studien zum Wahlverhalten bei Präsidentschaftswahlen an der US-amerikanischen Westküste. Dort haben wir das Phänomen, dass wegen der großen Zeitverschiebung in vielen Orten an der Ostküste das Ergebnis schon bekannt ist, an der Westküste die Wahllokale aber noch geöffnet sind.
Wenn es einen bandwagon effect gibt, müssten wir also über den Tag einen Unterschied in den Wahlergebnissen sehen, so dass gegen Ende des Wahltages vor allem die Person gewählt wird, die an der Ostküste erfolgreich war. Aber das passierte nicht. Es gilt als relativ gesichert, dass diese Effekte, wenn sie überhaupt existieren, nicht sehr stark sind. Wenn wir nun auf Europa mit seinen Mehrparteiensystemen schauen, wählen die Menschen hier doch eher taktisch.
Inwiefern?
Man kann schon sagen, dass ein kleiner Teil der Wählerschaft, der besonders an Politik interessiert ist, Umfragen mit in die Wahlentscheidung einbezieht. Wenn Sie zum Beispiel als CDU-Wählerin gerne eine konservativ-liberale Regierung hätten, machen Sie sich vielleicht Gedanken, ob die FDP über die Fünfprozenthürde kommt. In einer Umfrage sehen Sie, dass die FDP ganz nahe an den 5 Prozent steht. Vielleicht ist das für Sie ein Anreiz, zumindest die Zweitstimme der FDP zu geben.
Aber es gibt noch einen anderen wichtigen Punkt: Umfragen können gerade bei neuen Parteien ein Signal für ihre soziale Akzeptanz sein. Wenn Sie sich überlegen, ob Sie AfD wählen, und gleichzeitig wissen, dass die Partei sehr umstritten ist, macht es einen Unterschied, ob diese in den Umfragen bei 7 oder bei 17 Prozent steht. Bei den 17 Prozent wissen Sie, dass Sie offensichtlich nicht die einzige Person sind, die geneigt ist, die Partei zu wählen. Das kann bei Ihnen den Effekt haben, tatsächlich der AfD Ihre Stimme zu geben.
Wenn Sie aufs Wahljahr 2024 blicken, was treibt Sie derzeit am meisten um?
Ich beschäftige mich jetzt seit fast dreißig Jahren mit Rechtspopulismus und Angriffen auf die liberale Demokratie und ich muss sagen, dass die Lage in Deutschland, aber auch global betrachtet selten so ernst war. In vielen Ländern greifen Parteien, deren Verhältnis zur liberalen Demokratie zumindest ambivalent ist, nach der Macht. Und selbst dort, wo sie noch ein Stück davon entfernt sind, beeinflussen sie den politischen Diskurs.
Dr. Kai Arzheimer ist Professor am Institut für Politikwissenschaft an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz.