Im Fokus: Kriegsmythen

Sollte Mariupol das heutige Stalingrad sein? Angela Moré darüber, wie verklärte Erinnerungen früherer Schlachten heute den Krieg in der Ukraine prägen.

Soldaten im Kampf um Stalingrad im Zweiten Weltkrieg
Die Schlacht in Stalingrad gilt als Wendepunkt des Zweiten Weltkrieg. Diesen Ruhm möchte Russland aufrechterhalten. © akg-images/Universal Images Group/Sovfoto

Frau Moré, wie entstehen eigentlich in Gesellschaften Mythen?

Ein Mythos entsteht nach besonders gravierenden Ereignissen, die sehr viele Menschen erlebt haben, also etwa Kriegen oder Naturkatastrophen. Aber auch wichtige Entwicklungen, die für viele gut ausgingen, so etwa die Französische Revolution oder technische Errungenschaften und Erfindungen, gehören dazu. Besonders plötzliche Ereignisse verändern die gesamte „Großgruppe“ schubartig. Der zypriotisch-amerikanische Psychoanalytiker Vamk Volkan ist der…

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die gesamte „Großgruppe“ schubartig. Der zypriotisch-amerikanische Psychoanalytiker Vamk Volkan ist der Auffassung, dass Großgruppen „gewählte Traumata“ oder „gewählte Ruhmesblätter“ haben, wie er es nennt. Die Menschen oder Gruppen beziehen sich also noch sehr lange Zeit nach besonders erschütternden oder erhebenden Ereignissen immer wieder auf diese, oft um ihr Verhalten oder ihre Einstellungen in der Gegenwart zu erklären oder zu rechtfertigen.

Was meint er mit Großgruppe?

Sie fängt da an, wo die Menschen sich nicht mehr kennen. Um zu beschreiben, wie Menschen in sehr großen Gruppen bei allen Unterschieden dennoch ein gemeinsames Unbewusstes und eine gemeinsame Identität haben können, scheint mir das Modell der „Gruppenmatrix“ des deutsch-britischen Psychoanalytikers S.H. Foulkes sehr geeignet. Er verwendet das Wort, weil es im Lateinischen „Gebärmutter“ aber auch „Gewebe“ bedeutet, also ein umgebendes Geflecht oder Netzwerk, in das man eingebettet, wenn auch nicht in ihm zwangsläufig geborgen ist. Geborgenheit ist ja in einer autoritären Familie oder Gesellschaft nicht gewiss.

Wer genau zählt alles zu so einer Großgruppe?

Vamk Volkan zählt zu Großgruppen nationale, ethnische, religiöse oder ideelle Gemeinschaften, die sich selbst über gemeinsame Bilder und Symbole definieren, welche zum Beispiel der emotionalen Stabilisierung dienen, die durch die Vertrautheit mit ihnen Halt geben und auf die man sich beziehen kann. Das ist zunächst die gemeinsame Sprache, aber auch religiöse oder kulturelle Symbole und Vorstellungen. Beispielsweise weiß auch ein atheistischer Mensch in der westlichen Kultur in der Regel, was ein Kreuz bedeutet.

Nach Volkans Auffassung sind das Unbewusste und auch die Identität einer Großgruppe durch die gemeinsamen geografischen, klimatischen, ökonomischen und sozialen Bedingungen geprägt, die alle Menschen innerhalb dieser Großgruppe mehr oder weniger betreffen. Großgruppenpsychologie befasst sich folglich mit bewusst geteilten Beschreibungen und mit unbewussten, jedoch emotional aufgeladenen Fantasien über historische Erfahrungen der Vergangenheit.

Wie kann aber eine solche Großgruppe, also eine ganze Nation oder Kultur ein gemeinsames Unbewusstes haben?

Menschen leben in einer Gruppe, in einem Gefüge aus vielen verschiedenen Untergruppen und sozialen Beziehungen, die von wechselseitigen Abhängigkeiten geprägt sind. Gruppen können Entscheidungen treffen, in Konflikt geraten oder miteinander kooperieren. Das Unbewusste von Großgruppen ändert sich im Normalfall relativ langsam. Es entsteht, indem Geschichten, Normen, Regeln ebenso wie Gefühle weitergegeben werden und sich dann in den einzelnen Personen ablagern. Das passiert überall, in Schulen und in Schulbüchern, in der Arbeitswelt, über Medien aller Art, Filme, Bücher, Kunst. Erzählt und weitergegeben wurde schon immer, zuerst mündlich, später schriftlich. Was Menschen erleben und lernen, wie sie leben, wirkt sich auf ihre innere Welt aus und von dort aus zurück auf die soziale Umwelt.

Und in diesem Gefüge entstehen im Lauf von Jahrhunderten bestimmte Mythen und die werden weitergegeben?

Die Mythen, aber auch Legenden und Sagen basieren auf realen Ereignissen oder Gegebenheiten. Sie werden zunächst in den jeweiligen kulturellen Kontext eingeordnet, bewertet, verkürzt, ausgeschmückt und neu gewichtet, etwa die Kyffhäusersage oder die Mythen um die Hermannsschlacht. So entstehen Narrative, die die Realität natürlich nicht deckungsgleich wiedergeben. Wichtig ist: Diese Ereignisse werden nicht nur in Erzählungen, sondern vor allem auch in Form von Gefühlen wie Stolz, Begeisterung, Scham, Schuld, Trauer oder Traumata transportiert. Solche Regungen sind bekanntermaßen ansteckend, wir nehmen sie von anderen ausgehend in uns auf und geben sie unsererseits, manchmal leicht verändert weiter.

Was ist nun das Besondere an Kriegsmythen?

Kriege sind das Ergebnis von Entscheidungen, die Menschen getroffen haben. Diese Personen befinden sich in der Regel in Machtpositionen und wollen bewusst Interessen durchsetzen, aber sie beziehen sich dabei auf die Nation, Ethnie oder Religion als Gruppe, die dafür motiviert werden muss. Alle mit ihnen verbundenen Selbstbilder, Ängste, Abwehrmechanismen und Aggressionen, die teilweise bewusst, größtenteils aber unbewusst sind, wirken bei dieser Entscheidung mit. Kriegsnarrative drehen sich häufig um die Rechtfertigung von aktuellen Ansprüchen, etwa auf Gebiete, oder auch um die ideologische Rechtfertigung von gesellschaftspolitischen Aggressionen.

Ob und wie über Kriege gesprochen wird, hängt davon ab, ob sie gewonnen oder verloren wurden. Siege werden heroisiert und verklärt, Niederlagen und ihre traumatischen Folgen werden möglichst ganz ausgeblendet – Letzteres geschieht aber auch bei Siegen. Historische Erinnerungen, die die Identifikation mit der Großgruppe stören könn­ten, wie Versagen, Widersprüche oder Schuld werden ebenfalls so gut wie möglich ausgeklammert oder verleugnet.

Aber sie verschwinden nicht.

Nein, sie bleiben im Inneren der Menschen wirksam. Sie verharren im individuellen und kollektiven Gedächtnis und können in unbewussten Wiederholungen reaktiviert werden, was sich dann durch irrationale und irritierende Handlungen oder Zeichen offenbart. Ein Beispiel: Auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs erschraken die Menschen, die Luftangriffe erlebt hatten, beim Näherkommen von Flugzeugen. In die Erzählungen über kriegsbedingte traumatische Erfahrungen wie Vertreibung, Flucht, Bombardierung oder erzwungene Migration, mit denen Trennungs- und Verlusterfahrungen einhergehen und in der Gruppe geteilt werden, werden kollektiv akzeptierte Elemente aufgenommen, andere – wie Vergewaltigungen – eher ausgegrenzt oder verdrängt. Das, was verlorenging, wird häufig idealisiert und romantisiert und dann als Verlust von etwas Gutem betrauert.

Was sind die Folgen davon, dass solche Kriegsmythen über Generationen weitergegeben werden?

Wenn in einer Großgruppe eine große Anzahl von Menschen traumatische Ereignisse teilt, entwickeln sich Abwehrstrukturen: Nach dem katastrophalen Ereignis spaltet die Mehrheit die Erinnerungen an die schrecklichen Erfahrungen ab, um die Angst vor Vernichtung, die durch das Trauma erzeugt wurde, nicht mehr zu spüren. Die Erfahrungen wirken dennoch im Inneren der Menschen fort. Die psychischen Folgen der Traumata einer ganzen Nation machen sich oft nur indirekt bemerkbar, wie etwa durch gestörte Beziehungen, irritierende Kommunikation, Ausbrüche von Aggressionen und Destruktivität.

Vor drei Jahren begann der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Welches sind Traumata der Ukraine, die hierdurch reaktiviert werden?

Vor und während des Zweiten Weltkriegs war die Ukraine sehr wechselvollen und traumatischen Ereignissen ausgesetzt. Die deutsche Historikerin und Osteuropaspezialistin Tanja Penter nennt als ein Beispiel den 1918 gescheiterten Versuch der Ukraine, von der damaligen russischen Föderation unabhängig zu werden. Im Jahr 1920 eroberte die Rote Armee Kyjiw. Im Anschluss gingen Politikerinnen und Politiker sowie Intellektuelle ins Exil, wo verschiedene Organisationen entstanden, die die Ukraine von der sowjetischen Herrschaft befreien und einen unabhängigen ukrainischen Staat grün­den wollten.

Unter Stalin erlebte die Ukraine eine katastrophale Hungersnot, den „Holodomor“. Später erlitt die ukrainische Bevölkerung mit dem deut­schen Einmarsch während des Zweiten Weltkriegs die Kriegführung der „verbrannten Erde“. Diese Ereignisse werden durch den jetzigen Angriffskrieg in den nachfolgenden Generationen wieder lebendig, obwohl sie dies nicht selbst erlebt haben. Aber sie kennen die Geschichten und haben die Gefühle ihrer Eltern und Großeltern unbewusst geerbt.

Ihre These ist, dass der massive russische Angriff auf die Stadt Mariupol und deren Belagerung 2022 eine Art unbewusste Reinszenierung sein könnten, bei der sich Russland auf den Kriegsmythos Stalingrad bezieht. Wie meinen Sie das?

Die Ereignisse rund um Stalingrad im Zweiten Weltkrieg haben eine Bedeutung als Kriegslegenden, und diese beinhalten auf russischer Seite beides: Niederlage und Sieg. Das nationalsozialistische Deutschland hat den Hitler-Stalin-Pakt gebrochen und die Industriestadt Stalingrad im Jahr 1942 massiv bombardiert, eingekesselt sowie die Menschen aushungern lassen. Es kam daraufhin zur Gegenoffensive der Sowjetunion, nach der die Wehrmacht eine extreme Niederlage erlitt. So wurden diese Ereignisse zum Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg. Und der Sieg über die Wehrmacht wurde zum russischen Kriegs-Ruhmesblatt im Sinne Volkans, das bis heute gefeiert wird.

Es könnte sich bei dem Angriff von 2022 tatsächlich um eine Art inszenierte Wiederholung handeln, um den Versuch, in Mariupol den Sieg zu wiederholen und zugleich die Erfahrung des Angriffs der Wehrmacht auf Stalingrad nun nach außen zu richten als aktiven Vollzug dessen, was damals passiv erlitten wurde. Das entspräche einer unbewussten Identifikation mit dem Aggressor. Im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg wurde mehrfach behauptet, dass „Nazis“ in der Ukraine bekämpft würden. Ob das etwas mit der Wehrmacht zu tun hat, ist aber unklar, denn „Nazi“ ist in Russland eine gebräuchliche Bezeichnung für jede Art von Gegner. Jedenfalls: Stalingrad, das heutige Wolgograd, und Mariupol liegen gar nicht so weit entfernt voneinander, nur rund 500 Kilometer Luftlinie. All das könnte eine Rolle gespielt haben bei der Entscheidung, im Jahr 2022 Mariupol anzugreifen. Diese Vermutung könnte vielleicht helfen, die Entstehung dieses Krieges aus gruppendynamischer Sicht ein wenig zu erhellen.

Der russischen Schriftstellerin Maria Stepanowa zufolge ist die Mentalität der russischen Gesellschaft durch eine Folge von historischen Traumata geformt, die nie gelöst oder behandelt wurden.

Man könnte fast meinen, dass Stepanowa die gruppenanalytischen Theorien kennt, es ist aber eher ihre Intuition für die Dynamiken in der russischen Gesellschaft. Die russische Mentalität sei geformt durch eine lange Reihe aufeinanderfolgender Traumata, sie nennt dies einen „traumatischen Korridor“ oder auch einen „Korridor der Pein“. Die russische Geschichte ist demnach geprägt von schweren Gewalt­erfahrungen: Armut, Leibeigenschaft, Ausbeutung, Unterdrückung, Zwangsumsiedlungen und eben Kriege. Diese Erlebnisse seien in Russland jedoch nie aufgearbeitet worden. Es kommt zu einer emotionalen und mentalen Einkapselung, zu einem imaginären Bunker, zur inneren Verhärtung und Verleugnung der Realität. Wenn man sich mit solchen kollektiven Traumata nicht befasst und die Menschen damit allein lässt, besteht die Gefahr, dass sich die Abwehr weiter verfestigt. Auch diese innere Panzerung wird an Nachfahren weitergegeben. Kommen von ihnen einige in Machtpositionen, neigen sie tendenziell eher zu kalter Kontrolle, Beherrschung und Manipulation.

Was bedeutet das für die heutige Situation der russischen Bevölkerung?

Stepanowa betrachtet den heutigen russischen Konservatismus vor diesem Hintergrund als Rückzug in einen Bunker, in dem von der Vergangenheit geträumt werde, die – wie häufig in solchen Fällen – stark verklärt wahrgenommen werde. Es sei ein künstliches Bild von der Vergangenheit, und sie bezieht sich damit auf eine Besonderheit der russischen Geschichtsschreibung, die sie als „Erfindung“ bezeichnet.

Dies bestätigen auch andere Expertinnen und Experten: Die Politikwissenschaftlerin Gwendolyn Sasse betont ebenfalls die Rolle russischer Geschichtsschreibung. Es werde versucht, mit einer „selektiven Interpretation“ der russischen und sowjetischen Geschichte Anknüpfungspunkte für die individuelle und kollektive Identifikation zu bieten. Dies sei eine Instrumentalisierung, aus der politische Ansprüche für die Gegenwart und Zukunft abgeleitet würden, schreibt Sasse. Putin selbst ist von der Heroisierung und Idealisierung der russischen Geschichte geradezu besessen und versucht – als Laie – die Geschichtsschreibung entsprechend zu seinen Gunsten, aber auch zur Abwehr aller traumatischen Erinnerungen wie auch von Schuld umzudeuten. In der Bevölkerung trifft das überwiegend auf Gleichgültigkeit oder Zustimmung, was die Historiker und Historikerinnen in Russland wie im Ausland zur Verzweiflung bringt.

Angela Moré ist Sozialpsychologin, Gruppenlehranalytikerin (D3G) und emeritierte Professorin für ­Sozialpsychologie an der Universität Hannover.

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Quellen

Marija Stepanowa: In Russland geht es bei Geschichtsfragen nie um die Wahrheit. NZZ online 24.4.2017

Hans-Jürgen Wirth: Narzissmus und Macht. Zur Psychoanalyse seelischer Störungen in der Politik. Psychosozial Verlag 2002.

Tanja Penter: Hungerjahre. Der Holodomor, Stalins Hungerkrieg, entzweit die Ukraine und Russland bis heute. In: ZEIT Geschichte, 3, 2023

Tanja Penter: Russlands Krieg gegen die Ukraine. Ringvorlesung an der Universität Heidelberg, 16.5.2022

Earl Hopper: Anmerkungen zur Theorie und zum Konzept der vierten Grundannahme im unbewussten Leben von Gruppen und gruppenähnlichen sozialen Systemen. Gruppenanalyse, 33 (1), 2023, 9-39.

Jens Ebert: Stalingrad: Gemeinsame Erfahrung, getrenntes Erinnern? Aus Politik und Zeitgeschichte. Bundeszentrale für politische Bildung, 19.5.2017

Wilfred R. Bion: Erfahrungen in Gruppen und andere Schriften. Klett-Cotta 2018

Yael Doron: The `black hole` in the social unconscious: a collective defense against shared fears of annihilation. In: Robi Friedman, Yael Doron (Hrsg.): Group analysis in the land of milk and honey. Routledge 2017, 75-88.

Angela Moré: NS-Täterschaft und die Folgen verleugneter Schuld bei den Nachkommen. Lohl, J. & Moré, A. (Hg.): Unbewusste Erbschaften des Nationalsozialismus. Psychoanalytische, sozialpsychologische und historische Studien. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 209-224, 2014.

Angela Moré: Die Schuld der Väter (er)tragen wir (nicht). Das unheimliche Erbe und seine Folgen. Altanian, M. (Hg.): Der Genozid an den ArmenierInnen. Beiträge zur wissenschaftlichen Aufarbeitung eines historischen Verbrechens gegen die Menschlichkeit. Wiesbaden: Springer VS, S. 111-140, 2018

Angela Moré: Traumatische Verstrickungen zwischen den Generationen. Der unverarbeitete Armenier-Genozid in der Türkei und seine Folgen für die Nachkommen von Opfern und Tätern. In: Knoch, H., Kurth, W., Reiß, H.J. (Hg.): Gewalt und Trauma. Direkte und transgenerationale Folgen. Heidelberg: Mattes, S. 209-238. Jahrbuch für psychohistorische Forschung Bd. 19, 2018

Angela Moré: Working through the Armenian Genocide in Present Turkey. A Psychoanalytic Social Psychologist’s Perspective on Transgenerational Transmissions of Guilt. Journal of Psychohistory (2021)49(2), 119-138.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2025: Ich entscheide, was ich fühle