Angst ist eine notwendige Emotion. Sie schützt uns vor Gefahren. Aber mitunter behindert sie uns in unserer Entwicklung, vor allem in der Sozialentwicklung. Dies ist besonders dann der Fall, wenn das Gefühl der Angst sehr stark ausgeprägt ist, wenn es als übermächtig erlebt wird. Betroffene vermeiden alles, was Angst hervorrufen könnte: Situationen, Personen und Objekte.
Diese übermächtige Furcht kann durch soziale Situationen ausgelöst werden, durch den Umgang mit Menschengruppen, mit unvertrauten und…
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kann durch soziale Situationen ausgelöst werden, durch den Umgang mit Menschengruppen, mit unvertrauten und fremden Personen. Sie kann sich auf den Kontakt zu Menschen des anderen Geschlechts beziehen. Nicht zuletzt gibt es die Angst vor Tieren wie Hunden oder Spinnen, vor medizinischen Eingriffen wie Spritzen, Blutabnahme, schließlich vor dem „Weißkittel“ selbst. Bei Angststörungen sind solche Ängste intensiv ausgeprägt, sie wirken häufig grundlos und irrational. Und: Sie treten sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern auf.
Kinder werden älter, doch Ängste bleiben bestehen
Was sind typische Ängste im Kindesalter? Kinder fürchten sich oft vor Trennungen (Trennungsangst) sowie vor unbekannten Personen und Situationen (soziale Angst). Nicht selten beziehen sich die Ängste auf Bewertungen aller Art, gerade in sozialen Kontexten (soziale Phobie). Große Tiere und Naturerscheinungen wie Blitz, Donner und Dunkelheit machen Kindern ebenfalls häufig Sorgen (phobische Störung des Kindesalters).
Diese Ängste sind im Kleinkind- und Vorschulalter bis in das beginnende Grundschulalter hinein normale Phänomene. Sie verschwinden im Verlaufe der Entwicklung mehr oder weniger vollständig. Bei manchen Kindern bleiben diese Ängste jedoch bestehen.
Sie zeigen sich so intensiv, dass die normale Entwicklung eines Kindes in mehreren Bereichen eingeschränkt wird. Das kann beispielsweise die Schule betreffen, das Lernen, Sozialkontakte, das Schließen von Freundschaften oder die motorische Entwicklung. Dann liegt ein Behandlungsbedarf vor, dann ist psychotherapeutische Hilfe sinnvoll.
Soziale Angst früh erkennen
Wie zeigen sich soziale Ängste bei Kindern? Sozial ängstliche Kinder vermeiden nicht nur neue und ungewohnte Situationen, sie verweigern sie auch aktiv. Typisch sind: Schweigen, Weinen bei sozialen Anforderungen, Passivität oder Erstarrung. Allerdings kann die soziale Angst auch so stark sein, dass eine aggressive Verweigerung auftritt, die sich durch Schreien, Schlagen oder Treten äußert.
Soziale Angst bei Kindern ist durch zwei Merkmale gekennzeichnet. Dies ist zum einen die Angst vor unvertrauten oder fremden Personen und zum anderen vor Situationen, bei denen eine soziale Bewertung erfolgen kann. Bei der Bewertungsangst fürchten Kinder, sich zu blamieren oder von anderen als ängstlich, schwach und dumm eingeschätzt zu werden. Sie vermeiden deshalb Leistungssituationen, beispielsweise im Kontakt mit Freunden, in der Schule oder beim Sport.
Kinder mit sozialer Angst bilden wichtige Fähigkeiten nicht oder kaum aus: Es fällt ihnen schwer, Kontakte anzubahnen oder Probleme mit anderen Menschen zu lösen. Auch ihr Selbstbehauptungsvermögen kann gering entwickelt sein. Die unzureichenden sozialen Fähigkeiten zeigen sich dann darin, dass Blickkontakt unter Gleichaltrigen oder Gespräche in der Öffentlichkeit vermieden werden. Betroffene Kinder antworten auf Fragen häufig gar nicht oder nur einsilbig mit „Ja“, „Nein“ und „Hm“. Ihre Sprache kann undeutlich oder besonders leise sein.
Statt mit anderen Kindern zu spielen, entwickeln sozial ängstliche Kinder oft ausgefallene Hobbys und Interessen. Dazu gehören vor allem solche, die sie allein betreiben können. Sie lesen intensiv, züchten Pflanzen, bauen Flugzeug- oder Schiffsmodelle, erfinden eigene Krimis oder Hörspiele. Oder sie beschäftigen sich mit Computerspielen.
Manchmal freunden sie sich mit anderen ängstlichen und zurückgezogenen Kindern an. Diese eingeschränkten Kontakte bilden jedoch keinen Schutzfaktor. Im Gegenteil, sie scheinen sich sogar negativ auf die Entwicklung sozialer Fähigkeiten auszuwirken: Die Kinder bekräftigen sich gegenseitig in ihrer sozialen Isolation.
Depression und Abhängigkeit sind Folgen sozialer Angst
75 Prozent aller Menschen mit einer sozialen Angst oder einer sozialen Phobie entwickeln diese vor dem 15. Lebensjahr, ein Großteil sogar schon vor dem zehnten Lebensjahr. Rechnet man alle Arten von Angststörungen zusammen, sind ungefähr zehn Prozent der Kinder und Jugendlichen betroffen. Die Angaben zur sozialen Angst schwanken je nach Studie zwischen einem halben und fünf Prozent. Wahrscheinlich kann man von ungefähr zwei bis drei Prozent ausgehen, wenn man die Kriterien der Klassifikationssysteme ICD-10 oder DSM-IV-R streng anlegt.
Im Vergleich zu anderen psychischen Störungen wie Aggression scheint die Häufigkeit von sozialer Angst gering zu sein. Trotzdem ist gerade dieses Problem im Kindesalter gravierend. Es beeinträchtigt den Handlungsradius sowie die schulischen und beruflichen Chancen erheblich. Mit steigendem Lebensalter sind immer mehr Menschen davon betroffen: Über die gesamte Lebensspanne erkranken bis zu zwölf Prozent der Bevölkerung.
Vor allem im Jugendalter – bei 12- bis 17-Jährigen – können depressive Störungen, Substanzmissbrauch und Abhängigkeit als Folge einer sozialen Angst auftreten. Betroffene Jugendliche berichten zudem nicht selten von somatoformen Störungen, sie fühlen sich also subjektiv krank, ohne dass Ärzte körperliche Ursachen finden.
Niedrige Aktivierungsschwelle als Ursache
Einige Kinder wirken schon in den ersten Lebensjahren besonders zurückhaltend, gehemmt, hilflos und in ihrem Verhalten blockiert. Sie begegnen allem Neuen mit besonderer Vorsicht. Auf unbekannte Situationen und Personen reagieren sie häufig mit sozialem Rückzug. Welche körperlichen Abläufe dabei von Bedeutung sind, untersuchte erstmals der amerikanische Entwicklungspsychologe Jerome Kagan im Jahr 1988.
Bei seiner Analyse der psychologischen und physiologischen Grundlagen von Schüchternheit im Kindesalter brachte Kagan das Temperamentsmerkmal „Verhaltenshemmung“ mit einer geringeren neuronalen Aktivierungsschwelle der Amygdala und der damit verknüpften Nervenbahnen in Verbindung. Die Amygdala ist ein Gebiet des Gehirns, das wesentlich an der emotionalen Bewertung von Situationen beteiligt ist. Nach Kagan reagieren gehemmte Menschen besonders stark auf emotionale Reize. Sie weisen schneller körperliche Erregung – fachsprachlich: sympathische Aktivität – auf als andere Personen.
Diese verstärkte sympathische Aktivität konnte bei gehemmten Kindern im Ruhezustand, bei kognitiven Anforderungen und bei Stress festgestellt werden. In ungewohnten Situationen steigt die psychische und körperliche Erregung schnell an. Vor allem der erhöhte Spiegel des Botenstoffs Noradrenalin erschwert die Informationsübertragung im Gehirn, sodass es in der Folge zu Denk- und Handlungsblockaden kommt. Solche Blockaden begünstigen langfristig die Verhaltenshemmung und verhindern, dass Kinder neue positive Erfahrungen sammeln.
Wenig kontaktfreudige Eltern begünstigen soziale Angst
Ängstliche Kinder bemerken ihre körperlichen Reaktionen in unangenehmen Situationen. Aus dieser Fokussierung auf Signale wie Herzklopfen oder feuchte Hände können weitere Ängste entstehen: Angst vor dem Erröten; Angst davor, dass ihnen in einer Leistungssituation nichts mehr einfällt. Psychologen sprechen von einer erhöhten Angstsensitivität. Bereits bei Grundschulkindern mit sozialer Angst lässt sich diese Angst vor der Angst beobachten.
Forscher gehen davon aus, dass bei der Entstehung sozialer Angst sowohl erbliche als auch familiäre Einflüsse eine Rolle spielen. So haben Zwillingsstudien gezeigt, dass genetische Faktoren 30 bis 50 Prozent der Unterschiede zwischen Kindern erklären. Darüber hinaus verstärkt häufig der elterliche Interaktionsstil in der Familie das Vermeidungsverhalten des Kindes. So dulden es manche Eltern nicht nur, wenn ihr Nachwuchs Sozialkontakte meidet, sondern bewerten dies sogar positiv.
Das zeigt etwa die Analyse von Bryce McLeod, Jeffrey Wood und John Weisz aus dem Jahr 2007. Befragt man erwachsene Patienten mit einer sozialen Phobie, so beurteilen diese ihre Eltern im Nachhinein als wenig kontaktfreudig und als abweisend im Kontakt mit Dritten.
Training für die Eltern
Eltern können also die sozialen Ängste bei Kindern sogar noch verstärken und aufrechterhalten, vor allem wenn sie überbehütend sind und das Verhalten ihrer Kinder stark kontrollieren. Auch eine Überbewertung sozialer Normen verstärkt die Furcht der Kinder eher.
Negative Auswirkungen kann es auch haben, wenn Erwachsene zwischen extrem beschützenden und zurückweisenden Verhaltensweisen wechseln. Das ist häufig der Fall, wenn ein Elternteil selbst unter Ängsten und Depressionen leidet. Für die betroffenen Kinder bedeutet eine solche Lebenssituation, dass sie ohne soziale Orientierung bleiben. Sie erleben ihre Eltern als unkalkulierbar und unzuverlässig.
Bisher gibt es vergleichsweise wenige Versuche, Ängste bei Kindern frühzeitig zu erkennen und ihnen vorzubeugen. Angebote wie das Triple-P-Training setzen bei den Eltern an. Schließlich kommt ihnen eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung von kindlichen Ängsten zu. Prinzipiell stehen bei Elterntrainings Informationen zu den negativen Folgen eines überbehütenden, zu sehr beschützenden und kontrollierenden Erziehungsverhaltens im Mittelpunkt. Fachleute zeigen den Eltern Alternativen dazu auf und üben sie gemeinsam ein.
Kognitive Verhaltenstherapie hilft Kindern verlässlich
Wenn Kinder extrem unter sozialen Ängsten leiden, ist psychotherapeutische Hilfe sinnvoll und geboten. In den vergangenen 20 Jahren haben sich dabei einige verhaltenstherapeutische Ansätze bewährt. Fachleute unterscheiden kognitiv-verhaltenstherapeutische Vorgehensweisen von sozialen Fertigkeitstrainings. Kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansätze kombinieren vier Elemente miteinander:
Konfrontation im Rollenspiel: Kinder setzen sich sozial bedrohlichen Situationen in einem geschützten Rahmen aus.
Konfrontation in der Realität: Später folgen Übungen, bei denen sich die Kinder den angstauslösenden Situationen direkt stellen.
Bearbeitung: Kinder und Therapeuten widmen sich angstbesetzten Gedanken und Erwartungen; dabei sollen irrationale und unbegründete Denkweisen erkannt und verändert werden.
Rückfallprophylaxe: Wichtig ist, dass die Behandlungstermine langsam ausgeblendet werden.
Bestehende Ressourcen der Kinder nutzen
Neben kognitiv-verhaltenstherapeutischen Methoden haben sich auch Ansätze bewährt, bei denen Kinder soziale Fertigkeiten trainieren. Dazu gehört etwa, die eigenen Interessen vertreten zu können, soziale Anforderungen zu meistern, mit anderen Menschen zu sprechen und sich selbst zu erklären. Sozial ängstliche Kinder haben hier nicht nur Schwächen, sie haben auch Ressourcen, auf die man in einem Training aufbauen kann.
Therapeuten vermitteln neue Fähigkeiten und vertiefen bestehende durch gezielte Übungen. Die Methode der Wahl ist das Rollenspiel in der Einzel- und Gruppentherapie. Die Trainingssituationen werden oft als alltagsnahe Bilder- oder Fotogeschichten vorgegeben. Die Kinder sollten dabei eine differenzierte Rückmeldung zu ihrem Verhalten bekommen. So können Fortschritte unmittelbar bekräftigt werden. Zudem lernen die Kinder hilfreiche Techniken, etwa zur Selbstbeobachtung oder zum Stoppen von Angstgedanken.
Ziel eines solchen Trainings ist, das Selbstbewusstsein der Kinder in Familie und Schule zu stärken. Sinnvollerweise werden Eltern und Lehrkräfte mit einbezogen, zumindest aber informiert.
Vorbereitung auf Alltagssituationen
Im Training mit sozial unsicheren Kindern kombinieren wir zentrale Elemente von kognitiv-verhaltenstherapeutischen Methoden und sozialen Fertigkeitstrainings. Das Vorgehen ist seit drei Jahrzehnten erprobt und wird beständig weiterentwickelt. Die Behandlung besteht aus einer sechswöchigen kognitiv-verhaltenstherapeutischen Einzeltherapie, einem Training sozialer Fertigkeiten in einer Gruppentherapie für drei bis vier Kinder und einer begleitenden eltern- und familienbezogenen Arbeit.
Wesentliches Merkmal dieses Ansatzes ist: Kinder üben alltagsnahe und altersgruppenspezifische soziale Fertigkeiten ein. Die sozial ängstlichen Kinder lernen auch hier im Rollenspiel, mit angstauslösenden Situationen umzugehen. Allerdings werden sie darauf in einer Einzeltherapie vorbereitet.
Dabei erhalten sie kindgemäße Informationen zur psychischen Störung „soziale Angst“. Sie sehen sich zum Beispiel Filmsequenzen mit typischen Problemen an. Dabei kann es etwa darum gehen, wie sich ein Kind nicht traut, geliehenes Geld zurückzufordern – und deshalb seine eigenen Interessen nicht durchsetzen kann.
Wichtige Teilfertigkeiten aufbauen
Die Kinder lernen im Verlaufe der Therapie, irrationale Gedanken und unbegründete Ängste als solche wahrzunehmen. Darüber hinaus bringen Therapeuten ihnen bei, produktive Selbstgespräche zu führen, unangenehme Gedanken zu stoppen und durch Entspannungstechniken Erregung abzubauen. Dies trägt zur Selbstberuhigung und Ermutigung bei.
Da jedes Kind anders ist, sind Anpassungen nötig. Diese sind in der Einzeltherapie sehr gut möglich. Weitere Inhalte des Programms beziehen sich auf einzelne Teilfertigkeiten, etwa Blickkontakt aufzunehmen und halten zu können, eine entspannte Körperhaltung einzunehmen, deutlich zu sprechen. Diese Teilfertigkeiten bilden die Grundlage für den Aufbau komplexerer sozialer Fertigkeiten.
Das Training mit sozial unsicheren Kindern bezieht auch die Eltern mit ein. Hier lernen Eltern alternative Erziehungsmöglichkeiten kennen und üben diese ein. Dabei werden irrationale Überzeugungen hinterfragt, die hinter einem überhütenden Verhalten der Eltern stehen können. Eine Vorgehensweise, die bei Kindern, Eltern und Lehrern ansetzt und kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltraining und soziales Fertigkeitstraining verknüpft. Das Programm hat sich in Wirksamkeitsstudien als besonders erfolgreich erwiesen.
Quellen
Ulrike Petermann, Franz Petermann: Training mit sozial unsicheren Kindern. Beltz, Weinheim 2010. (10., überarbeitete Auflage)
Bryce McLeod, Jeffrey Wood, John Weisz: Examining the association between parenting and childhood anxiety: A meta-analysis. Clinical Psychology Review, 27, 2007, 155–172
Tari Topolski u. a.: Genetic and environmental influences on child reports of manifest anxiety and symptoms of separation anxiety and overanxious disorders: A community-based twin study. Behavior Genetics, 1997, 27/1, 15–28
Triple-P-Training: www.triplep.de