„Ich dachte: Genießen darf man erst, wenn man etwas geleistet hat“

Philosoph Jörg Bernardy glaubt, dass wir Genuss in Europa zu lange abgewertet haben. Den eigenen Weg zum Glück fand er nach einer persönlichen Krise.

Die Illustration zeigt vier Kolleginnen und Kollegen, die im Kreis sitzen und sich entspannt unterhalten
Erst nach acht Stunden Arbeit kann er die Füße hochlegen und Genussmomente zulassen. © Daniel Egnéus für Psychologie Heute

Herr Dr. Bernardy, die Philosophie hat seit jeher zwei Arten von Glück unterschieden. Auf der einen Seite steht der schnelle, unmittelbare Genuss, auf der anderen Seite die langfristige Glückseligkeit. Die psychologische Forschung hat sich bisher auf die Seite der Glückseligkeit geschlagen. Gerade entdeckt sie aber: Die kleinen Freuden sind auch wichtig. Was denken Sie als Philosoph über diese Entwicklung?

Ich wundere mich nicht darüber. Die akademische Psychologie kommt aus einer sehr intellektuellen…

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Ich wundere mich nicht darüber. Die akademische Psychologie kommt aus einer sehr intellektuellen Tradition, in der das kurzfristige Glück, die hedone keinen guten Stand hat. Das ist schon seit Platon so…

…der vor mehr als 2300 Jahren gelebt hat.

Platon hat alles Körperliche und Kurzfristige abgewertet. Er glaubte, dass in unserem vergänglichen Körper eine unsterbliche Seele wohnt und dass man sich vor allem um diese kümmern muss, zum Beispiel indem man nach der ­Erkenntnis ewiger Wahrheiten strebt. Auch das Christentum geht in diese Richtung. Aber es gab in der antiken Philosophie auch Gegenstimmen, vor allem die des Philosophen Epikur.

Epikur meinte, wir sollten so viel Lust wie möglich erfahren?

Das wäre ein Missverständnis. Epikur wollte unser Streben nach Lust – also nach Glück – mit der Vernunft verbinden. Man will zum Beispiel am Abend Wein trinken und ihn genießen, aber wenn man das übertreibt, hat man am nächsten Morgen einen Kater. Besser, man trinkt seinen Wein mit Verstand.

Es gibt einen netten Cartoon von Hägar dem Schrecklichen, der seinem Sohn die wichtigste Weisheit des Lebens mit auf den Weg gibt. Er sagt: „Maßhalten, maßhalten, maßhalten – du darfst damit nur nicht übertreiben!“

Das ist lustig – aber im Grunde genau die Botschaft von Epikur. Wenn wir maßhalten, können wir unterm Strich am meisten Freude im Leben haben. Das ist eine wichtige Lehre. Aber Epikur hat es in der europäischen Tradition nie leicht gehabt. Seine Stimme wurde zu wenig gehört. Deshalb finde ich es richtig, dass sich die Psychologie jetzt auch damit auseinandersetzt. Es ist eine konzeptionelle Verblendung, Freude und Genuss abzuwerten.

Aber eine Verblendung mit Tradition!

Das stimmt. Ich selbst wurde als Philosoph vor allem mit den Schriften von Arthur Schopenhauer, Sigmund Freud und Immanuel Kant sozialisiert. Man kann die Positionen dieser drei Denker in einem einzigen Satz zusammenfassen: „Glück ist etwas für Idioten.“ Sie waren überzeugt, dass man nur dann nach dem Glück strebt, wenn man nicht weiß, worum es im Leben eigentlich geht.

Beim englischen Philosophen John ­Stuart Mill findet sich der berühmte Satz, man solle lieber ein unglück-licher Mensch sein als ein glückliches Schwein.

Wir haben in der europäischen Tradition also die völlige Abwertung einfacher Glücksempfindungen, von unmittelbarem Genuss und von kleinen Freuden. Ich glaube, dass wir das Streben nach Glück noch heute nicht ernst nehmen. Ich sehe das auch an den Schulen. Die Erkenntnisse der psychologischen Glücksforschung haben bislang nur einen begrenzten Einfluss auf die schulischen Lehrpläne.

Sie schreiben in Ihrem aktuellen Buch, dass auch Sie festgestellt haben: Ohne die Fähigkeit zum Genuss fehlt etwas.

Das stimmt. Ich habe mir vor einigen Jahren die Erlaubnis gegeben, glücklich zu sein und diese ganze glücksfeind­liche Prägung zu durchbrechen. Am Anfang stand jedoch eine persönliche Krise.

Was war da los?

Ich bin früher sehr viel gelaufen. Das Joggen war in meinem Leben eine der wichtigsten Routinen, der wichtigste Ausgleich zu meiner Arbeit. Irgendwann war ich so fit, dass ich sogar an Marathons teilgenommen habe. Aber eines Tages hat mein Körper sich quergestellt. Nach 500 Metern habe ich auf einmal unerträgliche Schmerzen unterhalb der Brust bekommen und konnte kaum noch Luft holen.

Ich nehme an, Sie haben sich gründlich untersuchen lassen?

Klar, aber dabei ist nicht viel herausgekommen. Irgendwann habe ich mich durch Zufall mit einem ayurvedischen Arzt unterhalten. Er hat mir ein paar Fragen gestellt und dann gemeint: Könnte es sein, dass Sie an einem Wendepunkt in Ihrem Leben stehen? Dass Ihr Körper keine Lust mehr hat zu laufen? Vielleicht sollten Sie lernen, einfach so durch die Natur zu gehen und das zu genießen, was Sie dort sehen.

Hat Sie das sofort überzeugt?

Anfangs nicht. Ich habe anderthalb Jahre gebraucht, um zu akzeptieren, dass die Zeit des schnellen Laufens für mich vorbei ist. Dann wusste ich: Ich brauche neue Routinen. Ich wollte aber auf diese Glücksgefühle nicht verzichten, die das Laufen mir gegeben hatte. Wie kann ich mir das auf einfachere Art in mein Leben holen? Ich habe beim Joggen eine Menge kompensiert. In meinem Leben war alles auf Leistung ausgelegt. Auch das Laufen. An dem Punkt wurde mir klar, dass der ayurvedische Arzt genau das Richtige gesagt hatte.

Was hat sich danach bei Ihnen verändert?

Ich habe mich gefragt: Wie kann ich lernen, die einfachen Dinge mehr zu genießen? Angefangen habe ich mit meinem Hund. Der freut sich jeden Morgen, mich zu sehen. Also habe ich mir gesagt: Okay, dann freue ich mich eben auch! Das dauert nur drei Sekunden und es ist ganz wunderbar, das bewusst zu erleben.

Wie ging es weiter?

Ich schaue jeden Morgen bewusst ins Licht des neuen Tages. Auch da reichen wenige Sekunden. Und wenn ich nachts aufwache und nicht wieder einschlafen kann, dann setze ich mich vor ein Bild, auf das durch das Fenster das Licht einer Laterne oder des Mondes fällt. Ich konzentriere mich auf die Schönheit, die dabei entsteht. Diese Übung ist ganz einfach – und sie funktioniert, zumindest für mich.

Was machen Sie noch?

Ich atme bewusster, gehe viel mehr spazieren und betrachte dabei den Wald mit seinen Farben. Hinter all dem steht folgender Gedanke: Ich möchte, dass mein Bedürfnis nach Zufriedenheit und Genuss durch diese einfachen Dinge ausgefüllt und befriedigt ist. Das Glück kommt zuerst und erst danach darf von mir aus auch noch Leistungsorientierung kommen, Anerkennung, Erfolg, Geld und so weiter. Aber vorher achte ich auf andere Dinge: die Liebe zu meinem Partner, Freundschaft und Nähe. Oder dass ich mich auf meinen Spaziergängen regelmäßig mit Fremden unterhalte, dass ich jemanden anlächle und angelächelt werde. Auch das ist sehr einfach – und verändert wirklich eine Menge. Dazu gibt es auch einiges an psychologischer Forschung.

Sie leben also nach dem Motto: Weniger ist mehr?

Nein, es geht nicht nur darum, weniger zu tun, sondern vor allem darum, einfachere Dinge zu tun und sich daran zu freuen.

Was meinen Sie mit „einfach“?

Ein Spaziergang im Wald um die Ecke ist viel einfacher als ein Tauchurlaub in der Südsee, denn er ist mit viel weniger Aufwand verbunden. Aber Einfachheit ist auch eine innere Haltung. Man sagt ja: Für Optimisten ist das Glas halb voll, für Pessimisten halb leer. Ich dagegen bin dankbar dafür, dass ich überhaupt ein Glas habe. Dieses innere Erleben ist für mich entscheidend. Es geht mir also nicht um Verzicht, sondern um den Genuss, der dadurch entsteht, dass ich mich auf mein inneres Erleben konzentriere.

Was hat Sie denn davon abgehalten, glücklich zu sein und zu genießen?

Darüber habe ich viel nachgedacht. Ich glaube, dass es vor allem vier Faktoren waren. Ich war insgeheim überzeugt, dass man sich ein glückliches Leben erarbeiten muss. Ich dachte: Genießen darf man erst, wenn man etwas geleistet hat. Zweitens habe ich geglaubt, es wäre egoistisch, das Schöne zu genießen. Drittens habe ich ein genussvolles Leben für unseriös gehalten. Als wäre das nur etwas für Leute, die nichts Besseres zu tun und keinen Sinn im Leben gefunden haben. Und viertens hatte ich insgeheim Angst, dass mein Ehrgeiz verschwindet, wenn ich jetzt mein Leben genieße.

Geht es anderen Menschen genauso?

Ich denke schon. Ich gebe regelmäßig Seminare – unter anderem zur Kunst des guten Lebens – und stelle dabei immer eine Reihe von Fragen an die Teilnehmenden. Eine dieser Fragen lautet: „Auf einer Skala von eins bis zehn: Wie gut sind Sie darin, den Moment zu genießen, einfach nur im Hier und Jetzt zu sein?“ Acht, neun oder gar zehn Punkte gibt sich dabei so gut wie niemand. Üblicherweise liegen die meisten irgendwo zwischen vier und sieben. Die meisten Menschen wissen also, dass sie nicht besonders gut genießen können. Mein Eindruck ist, dass sie das als Mangel empfinden und gerne besser darin werden wollen.

Wie haben sich die Zahlen in den vergangenen Jahren verändert?

Seit der Pandemie gehen die Werte nach unten. Heute geben sich viele Teilnehmende weniger als fünf Punkte. Es wäre sicherlich interessant, in einer Studie nach den Ursachen zu fragen.

Kann man Genussfähigkeit trainieren?

Ich vermute das aufgrund meiner eigenen Erfahrung. In meiner eben erwähnten Zehnerskala stand ich als Doktorand noch auf einer Vier. Während meiner Marathonphase vielleicht auf einer Sechs. Heute würde ich mir eine Neun geben.

Besteht für Sie der Sinn des Lebens darin, glücklich zu sein?

Für mich gehört zum Leben mehr als das Glücklichsein. Die Erfahrung von Sinn halte ich zum Beispiel immer noch für extrem wichtig. Aber ich akzeptiere Genuss und Glücklichsein heute als wichtige Säulen für ein einfaches und gutes Leben. Das ist ein Satz, den ich vor einigen Jahren noch nicht hätte sagen können. Ich glaube, dass die Einfachheit als innere Haltung ein Weg sein kann, um tatsächlich glücklich zu werden.

Jörg Bernardy ist Autor und ­Philosoph. Er lebt in Hamburg. In seinem Buch Über die Kraft der Einfachheit in turbulenten Zeiten befasst er sich unter anderem mit unserer Fähigkeit zum Genuss. Einige von Jörg Bernardys Büchern sind bei Beltz ­erschienen, gelegentlich schreibt er als freier Autor für Psychologie Heute.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2025: Pause fürs Pflichtgefühl