Es ist eines der berühmtesten Experimente in der Geschichte der Psychologie. Man setzt ein vierjähriges Kind vor ein Marshmallow und verlässt den Raum. Davor hat man dem Kind noch eine zweite Süßigkeit versprochen. Unter einer Bedingung: Bis der Erwachsene zurückkommt, muss es geduldig warten, ohne den leckeren Schaumzucker aufzuessen. Der Versuch zeigt, dass einige Kinder deutlich mehr Selbstbeherrschung besitzen als andere.
Berühmt ist dieser Marshmallow-Test vor allem deshalb, weil er funktioniert wie…
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besitzen als andere.
Berühmt ist dieser Marshmallow-Test vor allem deshalb, weil er funktioniert wie eine magische Kristallkugel. Man kann mit ihm in die Zukunft sehen. Mehr als zehn Jahre später werden sich die geduldigsten Kindergartenkinder zu Teenagern mit besonders guten Schulnoten entwickelt haben. Der Marshmallow-Test ist nicht unumstritten. Dennoch zeigen mehrere Langzeitstudien: Kinder mit hoher Selbstkontrolle sind als Erwachsene im Durchschnitt wirklich gesünder und wohlhabender. Vermutlich leben sie sogar länger.
Die Botschaft aus all dem scheint klar zu sein: Selbstkontrolle ist super und Disziplin der Schlüssel zu einem gelungenen Leben. Statt auf Genuss im Hier und Jetzt setzt man besser auf langfristige Ziele. Je früher man damit anfängt, desto besser, denn wer sich früh zurückhalten kann, wird später mit Gesundheit, Erfolg im Beruf und guten Beziehungen belohnt.
Diese Befunde hatten einen enormen Einfluss auf die moderne Motivationspsychologie. Forschende auf der ganzen Welt suchen seither fieberhaft danach, wie wir stark bleiben, wenn die Versuchung an die Türen unseres Lebens klopft, wie wir es schaffen können, all den französischen Rotweinen, belgischen Schokoladen und Schwarzwälder Kirschtorten zu widerstehen.
Schöne Momente genießen
Doch zwei Psychologinnen aus Deutschland haben seit 2020 mehrere Studien veröffentlicht, die in eine völlig andere Richtung weisen. Wenn man ihren bisherigen Erkenntnissen glaubt, dann ist ein anderer Faktor noch mächtiger für ein gutes Leben als unsere Selbstdisziplin: nämlich unsere Fähigkeit, schöne Momente genießen zu können.
Zu Beginn ihrer hedonistischen Wende arbeiten die Psychologinnen Daniela Becker und Katharina Bernecker am Leibniz-Institut für Wissensmedien in Tübingen. Sie forschen zu den Themen Selbstkontrolle und Willenskraft. An einem Abend sitzen sie mit einem Kollegen in einem Gasthaus am Neckar, in dem Lehrende wie Studierende gern ihre langen Tage ausklingen lassen. Der Kollege hat gerade einen Vortrag darüber gehalten, wie Kinder besser lernen können. Jetzt beim Bier äußert er aber Zweifel. Ist Lernen wirklich alles im Leben? Gerade bei Kindern? Sollten gerade sie nicht auch Spaß haben dürfen? „Da habe ich gedacht: Das ist doch bei uns Erwachsenen genauso! Das war wie ein Moment des Erwachens für mich“, sagt Katharina Bernecker, die inzwischen an der Uni Zürich und der Pädagogischen Hochschule Bern arbeitet.
Neue Forschung zu Alltagsfreuden
Bernecker und Becker änderten an jenem Abend ihre Perspektive und fingen an, neue Forschungsfragen zu stellen. Zuvor hatten sie zum Beispiel untersucht, wie sich tägliche Übungen in Selbstkontrolle auf Zeugnisnoten auswirken. Heute erforschen sie, wie gut wir darin sind, einen Spaziergang im Park, einen Cafébesuch oder eine Yogastunde zu genießen – und was das mit unserer Lebenszufriedenheit zu tun hat. Statt von „Versuchung“ sprechen Becker und Bernecker heute von „harmlosem Vergnügen“, also von den kleinen Freuden des Alltags, die für sich genommen niemandem schaden, unsere Stimmung aber schnell verbessern können.
Dass wir diese Tätigkeiten genießen können, ist allerdings nicht selbstverständlich. „Ich sehe mein Sofa und denke: Jetzt würde ich mich gerne für ein paar Minuten entspannen!“, erklärt Daniela Becker, die heute an der Radboud Universiteit im niederländischen Nijmegen forscht und lehrt. „Aber wenn ich dann auf dem Sofa sitze, stellt sich die Entspannung vielleicht gar nicht ein.“
Der Musiker David Bowie hat dieses Gefühl der Enttäuschung in seinem Song Changes verewigt. Wenn ihm etwas gelungen sei, habe die Sache weniger süß geschmeckt, als er erwartet hatte: It seemed the taste was not so sweet. Und auch der Literatur-Nobelpreisträger Thomas Mann lässt seine Romanfigur Thomas Buddenbrook einen solchen Moment durchleben. Dieser schaut hinaus in seinen teuren, perfekt gestalteten Garten, wo im Mondlicht ein Springbrunnen plätschert. Buddenbrook sollte Stolz empfinden und innere Zufriedenheit. Und doch, so schreibt Thomas Mann, war all das „weit entfernt, ihn zu beruhigen“.
Fähigkeit zum Alltagsglück
In Wahrheit sehnen wir uns also gar nicht nach der Couch an sich, dem Ruhm, dem perfekten Garten – sondern nach dem guten Gefühl, das sich dadurch bei uns einstellt. Manchmal erleben wir es, manchmal nicht. Katharina Bernecker und Daniela Becker nennen das hedonic success, was man im Deutschen als „Lusterfolg“ bezeichnen könnte.
Dies ist der Hebelpunkt für ihre Forschung. Könnte es sein, so fragen die beiden, dass manche Menschen besonders gut darin sind, solch einen Lusterfolg zu erzielen? Dass sie Freude, Genuss und Entspannung mit einiger Zuverlässigkeit erleben können? Bernecker und Becker haben das in vielen Studien überprüft und dabei bewiesen, dass es tatsächlich so etwas gibt wie „Genussfähigkeit“, die „Fähigkeit zum kleinen Alltagsglück“. Im Englischen geben sie dem den etwas sperrigen Namen trait hedonic capacity – und die hat es in sich. In ihrer bislang meistzitierten Studie können Bernecker und Becker nachweisen, dass diese Fähigkeit deutlich stärker mit unserer Lebenszufriedenheit und unserem Wohlbefinden zusammenhängt als unsere Selbstkontrolle. Wer genießen kann, ist auch weniger ängstlich und niedergeschlagen. Anders gesagt: Genuss macht glücklich. Die Fähigkeit dazu ist für unsere Zufriedenheit sogar noch wichtiger als die Selbstkontrolle. Ob wir diszipliniert sind oder nicht, verrät im Übrigen nichts über unsere Genussfähigkeit.
In der zur Selbstkontrolle ratenden Psychologie sind solche Erkenntnisse eine Sensation – und sie verkünden dazu noch eine Botschaft der Entlastung: Es ist okay, sich selbst etwas zu gönnen. Es ist okay, Pausen zu machen. Mehr noch: Genuss beschert uns ein gutes Leben. Ein bisschen Naschen ist ein möglicher Weg zum Glück. Es ist das, was wir auch im Sinne unserer langfristigen Ziele anstreben sollten.
„Was ich hier mache, ist ein Fehler, ich sollte das nicht tun!“
Becker und Bernecker haben untersucht, woran es liegt, dass der oben erwähnte Lusterfolg manchmal ausbleibt. Ihre Antwort: Beim Genussversuch schießen uns störende Gedanken durch den Kopf. Manchen Menschen widerfährt dies häufiger als anderen.
Man stelle sich zwei Studentinnen vor, die wenige Tage vor einer wichtigen Klausur eine Party besuchen, um sich eine Auszeit zu gönnen. Die eine Studentin genießt die Feier, unterhält sich gut, trinkt ein wenig Wein, tanzt ein bisschen – und geht dann zufrieden nach Hause. Ihre Studienkollegin macht dasselbe, denkt allerdings die ganze Zeit an ihre unerledigten Übungsaufgaben. Auf die ausbleibende Freude reagiert sie wie jemand, der immer wieder dieselbe Taste einer defekten Fernbedienung drückt. Statt nach Hause zu gehen, redet, trinkt und tanzt sie immer weiter. Am folgenden Tag erwacht sie spät, verkatert und voller Reue.
Diese fiktive Geschichte erklärt ganz gut, wie Bernecker und Becker sich die Sache mit dem guten Leben und unserer Genussfähigkeit erklären. Wir tun etwas, um Freude zu empfinden. Doch unser Kopf verhindert, dass die erwartete Entspannung sich tatsächlich einstellt. Eine Serie von Studien an der Ruhr-Universität Bochum und der Universität Leiden hat unlängst gezeigt, dass bereits eine kleine Ablenkung genügt, um die Freude an einer schönen Tätigkeit messbar zu schmälern. Wahrer Genuss bedarf der Aufmerksamkeit. Noch stärker leiden unsere Glücksgefühle, wenn störende Gedanken uns ein schlechtes Gewissen einreden: „Was ich hier mache, ist ein Fehler, ich sollte das nicht tun!“ Wer genussfähig ist, den plagt dieses schlechte Gewissen nur selten. Vielen anderen versauen die störenden Gedanken jede Freude. Sie suchen dann umso häufiger nach Genuss. Die Folge ist – wie bei Studentin Nummer zwei – genau jener schädliche Überkonsum, vor dem Fachleute immer zu Recht gewarnt haben.


Wer genießen kann, trinkt weniger
Bislang legen die Daten von Becker und Bernecker nahe, dass es sich bei der Trait Hedonic Capacity tatsächlich um eine Art Persönlichkeitseigenschaft handelt. Genussfähigkeit lässt sich mit einem Fragebogen messen. Die ermittelten Ergebnisse bleiben über viele Wochen relativ stabil.
Studie für Studie lernen Katharina Bernecker und Daniela Becker mehr darüber, welche Folgen Genussfähigkeit für unseren Alltag hat. Erste Ergebnisse zeigen, dass die Trait Hedonic Capacity – im Folgenden kurz THC genannt – mit einer höheren Beziehungszufriedenheit korreliert, weil man die gemeinsame Zeit mit dem Partner ungestörter genießen kann.
Genussfähigkeit beeinflusst auch unseren Alkoholkonsum. So fanden Becker und Bernecker heraus: Menschen, denen die Fähigkeit zum Genuss fehlt, trinken vor dem Sex häufiger Alkohol, um störende Gedanken während des Aktes zum Schweigen zu bringen.
Für zwei weitere Studien rekrutierten Bernecker und Becker insgesamt 600 Teilnehmende und legten ihnen mehrere Fragebögen vor. Einer davon ermittelte die THC. Die anderen Fragebögen untersuchten den Alkoholkonsum der Freiwilligen. Das erstaunliche Ergebnis: Wer wenig genussfähig ist, trinkt häufig, um sich zu beruhigen und negative Gedanken abzustellen. „Menschen mit niedriger THC zeigten einen erhöhten Alkoholkonsum bei steigendem Stress“, heißt es in der Studie. „Menschen mit hoher THC zeigten eine solche Stressreaktion nicht.“ Der Befund hat weitreichende Konsequenzen. So weiß man aus älteren Studien, dass die Art, wie wir mit Stress umgehen, mit der Entwicklung von Depressionen verknüpft ist. Kein Wunder also, dass Menschen mit hoher Genussfähigkeit messbar weniger depressiv und ängstlich sind als der Rest der Bevölkerung. Die Fähigkeit zum Genießen könnte sich durchaus als Schutzmechanismus vor seelischen Krankheiten erweisen. „Regelmäßiger Genuss ist adaptive Selbstregulation“, schreiben Becker und Bernecker.
Werden wir faul und bequem?
Beide betonen, dass Disziplin und Selbstkontrolle nach wie vor ihre Berechtigung haben. Doch gegen alltagspraktische Probleme wie zu viel Kuchen, zu viel Alkohol oder zu viel verdaddelte Zeit am Handy habe die Aktivierung dieser Fähigkeiten nur bescheidenen Erfolg gebracht. „Wir glauben, es wäre vielversprechend, die Perspektive zu ändern und die Sache als ein Problem von zu wenig Freude zu betrachten“, schreiben die Forscherinnen in einem aktuellen Fachartikel. Natürlich gibt es Einwände gegen diese Sicht der Dinge. „Einige Menschen fragen: Muss ich jetzt auch noch beim Entspannen erfolgreich sein?“, sagt Daniela Becker. Doch so wollen die beiden Forscherinnen ihren Ansatz nicht verstanden wissen. Es geht ihnen um die innere Erlaubnis zum Genuss – nicht um einen äußeren Zwang.
Aber könnte es nicht sein, dass wir faul und bequem werden, wenn wir uns zu sehr den kleinen Freuden des Alltags hingeben? Anders gesagt: Sind Menschen mit einer hohen THC vielleicht weniger erfolgreich in Schule oder Beruf? Bernecker und Becker haben das in einer Studie überprüft. „Unsere Daten zeigen: Es schadet nicht, genießen zu können“, schreiben sie.
Für die moderne Psychologie mögen all das neue Gedanken sein. Die Philosophie ahnte diesen Zusammenhang schon länger. Vor mehr als 400 Jahren verriet etwa der französische Denker Michel de Montaigne in seinem Essay Von der Erfahrung, dass er sich stets dann für eine Arznei entschied, „wenn sie wohlschmeckend und appetitlich“ war. Montaigne war das Gegenteil eines impulsiven Lebemannes. Er wusste aber, dass der Weg zu guten Gewohnheiten am einfachsten über Momente kurzfristiger Freude gelingt. „Es ist eine konzeptionelle Verblendung, Freude und Genuss abzuwerten“, sagt auch der Philosoph Jörg Bernardy. Einen empirischen Beleg dafür fand etwa eine Studie der University of Chicago. Dabei wollte man Freiwillige dazu bringen, regelmäßig ins Fitnessstudio zu gehen. Dies gelang vor allem dann, wenn man die Teilnehmenden mit der angenehmsten statt der nützlichsten Übung anfangen ließ. Es klingt paradox, stimmt aber: Tiefempfundene Momente von Genuss und Freude können uns langfristig disziplinierter machen.
Sechs Techniken, um Genuss zu lernen
Wenn unsere Genussfähigkeit so viele angenehme und erstrebenswerte Folgen hat – wäre es dann nicht sinnvoll, diese Fähigkeit zu fördern und zu steigern? Noch liegen von Daniela Becker und Katharina Bernecker dazu keine Studien vor; bislang experimentieren sie lediglich im Privatleben. Beide halten sich für miserable Genießerinnen und folgen eher einer pflichtorientierten Arbeitsethik. Doch in letzter Zeit beobachten sie bei sich erste Verbesserungen. Katharina Bernecker sagt: „Früher habe ich am Wochenende häufiger gearbeitet, heute gehe ich stattdessen lieber in die Berge. Wenn ich an einem Samstag allerdings gerne Daten auswerten möchte, dann mache ich das auch. Ich versuche einfach, mehr darauf zu achten, worauf ich in dem Moment Lust habe.“ Manchmal ist Genuss eine Wanderung im Gebirge, manchmal eine Excel-Tabelle.
Auch Daniela Becker glaubt an die Formbarkeit unserer Genussfähigkeit. Dies zeigt sich etwa in der Erziehung ihrer siebenjährigen Tochter. „Wenn ich zum Beispiel Süßigkeiten oder Kuchen gekauft habe, dann sage ich ihr: Wir nehmen uns jetzt einen Moment Zeit und achten beim ersten Bissen darauf: Wie schmeckt das eigentlich?“ Ihre Tochter sei „richtig gut“ in dieser Übung des bewussten Genießens.
Auch andere Felder der Psychologie liefern Hinweise, wie uns unbeschwerter Genuss gelingen kann. Zum Beispiel weiß man, wie wir nach einem anstrengenden Arbeitstag besser abschalten können, ohne dass uns störende Gedanken in die Quere kommen. Aus den Studien der Mannheimer Psychologin Sabine Sonnentag lassen sich mindestens sechs hilfreiche Techniken ableiten:
Man tauscht Kostüm oder Sakko abends bewusst gegen bequeme Freizeitkleidung. Das Ritual signalisiert uns: Jetzt ist Feierabend!
Man verfolgt nach der Arbeit ein möglichst immersives Hobby, also eine Tätigkeit, die viele Sinne anspricht, unsere ganze Aufmerksamkeit fordert und in der wir womöglich besser werden wollen. Gedanken an die Arbeit verschwinden, wenn man den Kopf mit anderen Inhalten füllt.
Meditation oder progressive Muskelentspannung machen den Kopf ebenfalls frei.
Man trifft sich mit Freunden, die möglichst nichts mit der Arbeit zu tun haben. Soziale Kontakte bringen uns auf andere Gedanken.
Wenn der Job es ermöglicht, stellt man sein Diensthandy ab.
Man greift zu einer Reframing-Übung, wenn doch einmal viel Arbeit liegengeblieben ist. Man beschreibt Unerledigtes zum Beispiel als „künftiges Abenteuer“ und ersetzt so das Gefühl von Sorge mit dem der Vorfreude.
Das Besondere erkennen
Auch aus der positiven Psychologie kommen laut Bernecker und Becker einige vielversprechende Ansätze. Dort fragt man sich zum Beispiel, wie wir positive Erlebnisse am ehesten in positive Emotionen verwandeln können. Erklären lassen sich diese savoring strategies anhand eines Beispiels: Jemand hat ein außergewöhnlich gutes Essen für uns gekocht. Unser Erleben wird schöner, wenn wir das tolle Essen innerlich mit der sonstigen Standardkost vergleichen. Wir denken dann: „Wow, das hier ist wirklich etwas Besonderes!“ Wir schärfen unsere Sinne, achten bei jedem Bissen auf Geschmack, Textur und Aromen. Wir bringen den Genuss zum Ausdruck und sagen den anderen am Tisch, wie sehr wir das Mahl mögen. Doch kann man mit solchen Tricks auf Dauer auch seine Genussfähigkeit aufpolieren? Becker und Bernecker halten das durchaus für möglich.
Ein dritter Weg, um unsere Trait Hedonic Capacity zu steigern, stammt aus der klinischen Psychologie. Bei verschiedenen psychischen Erkrankungen spielen sogenannte intrusive Gedanken eine Rolle, Gedanken also, die wie ungebetene Gäste auf unserer inneren Party aufkreuzen und diese stören. In der Akzeptanz- und Commitmenttherapie behandelt man solche Gedanken mit einer Technik namens kognitive Defusion.
Nehmen wir als Beispiel wieder die Studentin Nummer zwei, die auf der Party ein schlechtes Gewissen bekommt und nur an ihre bevorstehende Prüfung denken kann. In der Akzeptanz- und Commitmenttherapie würde man ihr raten, diese Gedanken zu beobachten, zu benennen und sich dann von ihnen zu lösen. Die Studentin könnte sagen: „Ich nehme wahr, dass ich an meine Klausur denke – und ich bewerte diesen Gedanken nicht.“ In einer praktischen Übung könnte sie sich ihren störenden Gedanken laut mit der nachgemachten Stimme einer lustigen Comicfigur vorsagen. Das wird ihr mit einiger Wahrscheinlichkeit helfen, sich von diesem störenden Gedanken zu distanzieren, ohne ihn zu unterdrücken. Vielleicht gelingt es ihr sogar, darüber zu lächeln und sich zu entspannen.
Die Forschung zur Trait Hedonic Capacity steht noch am Anfang. Hat diese Fähigkeit vielleicht auch Auswirkungen auf unsere körperliche Gesundheit, zum Beispiel darauf, wie unser Körper auf Stress reagiert? Sind intrusive Gedanken womöglich auch nützlich, um uns zu signalisieren, dass wir vom Sofa aufstehen und weiterarbeiten sollten? Kann ein neues Hobby dazu führen, dass man insgesamt besser genießen kann? Studien zu diesen Fragen sind derzeit in Arbeit. Fest steht, dass Katharina Bernecker und Daniela Becker eine Alternative gefunden haben, wie wir ein glückliches Leben führen können. Sie klingt deutlich angenehmer als der Weg über Kontrolle und Selbstbeherrschung.
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Philosoph Jörg Bernardy über den Umgang mit Genuss in Europa in „Ich dachte: Genießen darf man erst, wenn man etwas geleistet hat“
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Quellen
Katharina Bernecker, Daniela Becker: Beyond self-control: Mechanisms of hedonic goal pursuit and its relevance for well-being. Personality and Social Psychology Bulletin, 47/4, 2021, 627–642
Daniela Becker, Katharina Bernecker u.a.: ‘Pleasureful self-control’? A new perspective on old problems. Current Opinion in Psychology, 60, 2024, 101888
Katharina Bernecker, Daniela Becker u.a.: Trait hedonic capacity correlates with sexual pleasure and motives for sexualized drug use in young adults. Current Psychology, 43, 2024, 23278–23294
Daniela Becker, Katharina Bernecker: Happy hour: the association between trait hedonic capacity and motivation to drink alcohol. Addictive Behaviors Reports, 19, 2024, 100537
Daniela Becker, Katharina Bernecker: Don't throw the baby out with the bathwater: Indulging in harmless pleasures can support self-regulation and foster cooperation. Behavioral and Brain Sciences, 46, 2023, e295
Katharina Bernecker, Daniela Becker u.a.: If the party is good, you can stay longer – effects of trait hedonic capacity on hedonic quantity and performance. Motivation and Emotion, 47, 2023, 711–725
Stephen L. Murphy u.a.: Underwhelming pleasures: Toward a self-regulatory account of hedonic compensation and over-consumption. Journal of Personality and Social Psychology, 127/2, 2024, 312–334
Fred Bryant: Current progress and future directions fort heory andr esearch on savoring. Frontiers in Psychologie, 12, 2021, 771698
Sabine Sonnentag, Charlotte Fritz: Recovery from job stress: The stressor-detachment model as an integrative framework. Journal of Organizational Behavior, 2015, 36/S1, S72–S103