Willkommen, meine Gäste!

Auf der ganzen Welt gilt Gastfreundschaft als Tugend. Besuch zu haben ist schön – und anstrengend. Doch wer Gäste empfängt, öffnet auch Türen zum Glück.

Die Illustration zeigt eine Person, die freundlich die Haustür öffnet und die Gäste reinbittet
Familienessen, Geburtstagsparty oder Spieleabend: Andere zu sich einzuladen, kann anstrengend sein. Macht sich aber bezahlt. © Rahel Messerli für Psychologie Heute

Als unser Gastgeber die Tür zu unserem neuen Zuhause in Saudi-Arabien öffnet, finden wir uns in einer Kulisse wieder, die an Hochzeitsempfang und Kindergeburtstag erinnert. Auf der Küchentheke hat Ahmed eine Torte mit der Aufschrift „Willkommen“ für uns bereitgestellt. Auf dem Tisch häuft sich ein Berg an Süßigkeiten. Daneben, kunstvoll arrangiert, ein gewaltiger Strauß Rosen mit einer Schachtel Pralinen und einer Grußkarte.

Ahmed, ein Bekannter meines Verlobten, hatte uns die Unterkunft nur vermittelt. Von…

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und einer Grußkarte.

Ahmed, ein Bekannter meines Verlobten, hatte uns die Unterkunft nur vermittelt. Von unserem Vertrag mit dem Vermieter würde er nicht profitieren. Dennoch hat er darauf bestanden, uns persönlich willkommen zu heißen – und offensichtlich viel Zeit, Mühe und Geld in unseren Empfang investiert. Als wir uns bei ihm bedanken, strahlt er immer breiter und weicher. Das Lächeln eines rundum zufriedenen Menschen.

Nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal erstaunt mich die Gastfreundschaft der Menschen in Nahost. Bei einem Spaziergang durch eine kleine Stadt am Roten Meer lädt uns eine Familie spontan zu Tee und Baklava in ihr Haus ein. Als mein Verlobter und ich durch ein Naturschutzgebiet fahren, winkt uns eine Gruppe junger Männer zu und reicht uns durchs Autofenster arabischen Kaffee und Datteln. Kein anderes Wort hören wir in der Region so oft wie „Welcome!“.

Im Islam spiele Gastfreundschaft eine zentrale Rolle, erklärt Abu Hamad, ein weiterer Bekannter. Er versteht Gastfreundschaft aber nicht nur als religiöse und soziale Norm. Für ihn ist sie vielmehr eine Quelle des Glücks. „Dein Gast könnte mit so vielen Menschen auf der Welt Zeit verbringen, aber er hat sich für dich entschieden“, sagt er. „Das ist eine große Ehre.“

Dafür sorgen, dass alle Spaß haben

Abu Hamads Gastfreundschaft ist das Gegenteil dessen, was ich aus meiner Kindheit kenne. Ich erinnere mich noch gut an den Stress, der in meinem Umfeld oft schon Tage vor der Ankunft der Gäste ausbrach. Als Erwachsene empfinde auch ich Besuch in den eigenen vier Wänden als schön – und anstrengend. Letzteres überspiele ich so gut wie möglich.

Damit bin ich nicht allein. Eine Umfrage eines amerikanischen Marktforschungsinstituts aus dem Jahr 2023 zeigt, dass sich viele Menschen in diesem Gastgeberdilemma befinden. Zwar gab mehr als die Hälfte der 2000 Befragten an, gerne Gäste zu empfangen. Drei von vier empfanden dies aber gleichzeitig als Stress. Die Gründe dafür reichten von „dafür sorgen, dass alle Spaß haben“ (32 Prozent) über „rechtzeitig aufräumen, bevor die Gäste kommen“ (28 Prozent) bis hin zu „aufpassen, dass niemand etwas beschädigt“ (14 Prozent).

Warum empfinden manche Menschen Gäste als Ehre und Glück, während sie für andere eher eine Last sind? Ist es bloß ein kultureller Unterschied – hat die westliche Welt die Kunst der Gastfreundschaft verlernt? Oder liegt es an unserem sozialen Umfeld und unserer Persönlichkeit? Oder bestimmen ganz andere Faktoren, wie wir uns als Gastgeber verhalten und fühlen?

Das Zuhause als primäres Territorium

Die amerikanische Psychologin Shawn Burn hat dem Thema Ärger mit Hausgästen mehrere Artikel auf Psychology Today gewidmet. Damit hat sie offenbar einen Nerv getroffen, wie die Resonanz zeigt. „Viele Leserinnen und Leser haben mir geschrieben, dass sie Gäste als Last empfinden – und sich deshalb schuldig fühlen“, sagt die Professorin von der California Polytechnic State University.

Woher kommen diese ambivalenten Gefühle? Shawn Burn erklärt es mit dem Konzept der Territorialität. Demnach teilt sich die menschliche Umwelt in drei Zonen. Das Herz bildet unser Zuhause als primäres Territorium – ein Ort, den wir in gewisser Weise besitzen und kontrollieren. Außerhalb dieser geschützten Blase liegen sekundäre Territorien wie Büros, Schulen oder Universitäten. Öffentliche Räume wie Fußgängerzonen, Restaurants oder Parks bilden die dritte Kategorie, sie sind tertiäre Territorien.

In dieser dreischichtigen Lebenswelt ist unser Zuhause nicht nur die Zentrale, in der wir das Sagen oder zumindest ein Mitspracherecht haben. „Unser primäres Territorium befriedigt auch unser Bedürfnis nach Autonomie und Privatsphäre“, erklärt Burn. „Hier können wir uns frei fühlen, uns vom Alltagsstress erholen und so sein, wie wir sind.“ In unserem Zuhause haben auch jene Seiten einen Platz, die wir vor der Außenwelt lieber verbergen. Wo sonst können wir ungeniert die neue Staffel Bridgerton am Stück durchschauen? Die Lieblingsmusik aufdrehen, tanzen und schief mitsingen? In Unterwäsche herumsitzen und uns hemmungslos kratzen?

Wenn Gäste zu Besuch kommen, gelten meist andere Regeln. Plötzlich müssen wir auch in den eigenen vier Wänden den inneren Sittenwächter einschalten. „Man muss auf sein Verhalten achten, verliert ein Stück weit die Kontrolle über den eigenen Raum, gewohnte Abläufe werden unterbrochen“, sagt Burn. „Das kann anstrengend und stressig sein.“ Entscheidend sei natürlich, wie nah man dem Gast stehe. Und auch andere Faktoren spielen laut der Psychologin eine Rolle – zum Beispiel die eigene Persönlichkeit. Für introvertierte Menschen sei es oft herausfordernder, Gäste in der eigenen Wohnung zu haben, sagt sie.

Verletzlich in den eigenen vier Wänden

Einige Wochen später empfängt mich Benjamin Meagher im virtuellen Raum. Gemeinsam mit seinem Team hat der Psychologe eine Skala entwickelt, mit der sich messen lässt, wie gastfreundlich eine Person ist. Laut den Forschenden vom Hope College in Michigan ist Gastfreundschaft dann besonders ausgeprägt, wenn eine Person drei Faktoren erfüllt:

  • Sie heißt jeden willkommen – egal wann, egal wen. ­Meagher nennt es auch open door policy.

  • Sie fühlt sich für das Wohlergehen der Gäste verantwortlich und

  • empfindet weder das eine noch das andere als Zumutung.

In einer der Studien mit rund 300 Testpersonen erforschte Meaghers Team den Zusammenhang zwischen Persönlichkeit und Gastfreundschaft. Das Ergebnis: Unter den Big-Five-Persönlichkeitsmerkmalen korreliert Gastfreundschaft mit Abstand am stärksten mit Extraversion und Verträglichkeit. „Menschen, die eher extravertiert sind, neigen ohnehin zu sozialer Interaktion. Das gilt in gewisser Weise auch für das eigene Zuhause“, sagt Meagher. Die hohen Werte bei der Verträglichkeit erklärt der Psychologe damit, dass verträgliche Menschen dazu neigen, anderen mehr zu vertrauen. Ein entscheidender Faktor, sagt Meagher: „Schließlich macht man sich verletzlich, wenn man andere Menschen in sein Haus lässt.“

Fremde von der Straße hereinbitten?

Bei meiner Recherche frage ich mich immer wieder, ob ich jemals so gastfreundlich sein könnte wie die Menschen, denen wir im Nahen Osten begegnet sind. Würde ich jemals Fremde auf der Straße ansprechen, um sie zu mir nach Hause einzuladen und ihnen Spezialitäten aus meiner Heimat zu servieren? Würde ich mir die Mühe machen, ferne Bekannte in ihrer neuen Unterkunft mit einem Buffet aus Süßigkeiten und Blumen zu empfangen? Würde ich Touristinnen und Touristen in Deutschland mit „Willkommen, willkommen“ begrüßen? Die ehrliche Antwort auf alle Fragen lautet: Nein.

Gastfreundschaft hat viele Facetten. Sie spielt nicht nur in unseren eigenen vier Wänden eine bedeutende Rolle, sondern auch auf der Weltbühne. Inklusion, Flucht, Zuwanderung – all diese gesellschaftlichen Herausforderungen haben mit Gastfreundschaft zu tun.

Eine von Meaghers Studien zeigt, dass gastfreundliche Menschen offener für Einwanderung sind, selbst wenn sie politisch konservativ eingestellt sind. Gastfreundschaft schwächt die politische Ideologie bis zu einem gewissen Grad ab. Stark vereinfacht ausgedrückt: Gastfreundliche Republikaner und Republikanerinnen sehen Einwanderung zwar kritischer als Menschen, die der Demokratischen Partei nahestehen. Sie sind aber deutlich aufgeschlossener als weniger gastfreundliche Republikanerinnen und Republikaner.

Meagher räumt aber auch Schwächen seiner Studien ein. Sein Team arbeitete mit Fragebögen und Skalen, soziale Erwünschtheit könnte die Antworten beeinflusst haben. Zudem lebten die Testpersonen alle in den USA. In anderen Teilen der Welt würden die Ergebnisse womöglich ganz anders ausfallen. Nicht zuletzt seien Platz und finanzielle Mittel entscheidend, sagt Meagher. Um gastfreundlich zu sein, müsse man über Ressourcen verfügen, die man teilen könne: „Gastfreundschaft ist eine Tugend – und ein Privileg.“

Wer gastfreundlich ist, ist auch zufriedener

Als der Psychologe Robert Biswas-Diener ins indische Kalkutta reiste, machte er eine andere Erfahrung. Der „Indiana Jones der positiven Psychologie“, wie er hin und wieder genannt wird, wollte das Glück der Menschen in den Slums erforschen. Er sah Großfamilien, die auf engstem Raum in ärmlichsten Verhältnissen lebten. All das hatte er erwartet. Was ihn jedoch überraschte, war die Gastfreundschaft der Menschen. Eine Familie, die mit rund zwei Dollar am Tag auskommen musste, lud ihn zum Mittagessen in ihre notdürftige Hütte ein, wie er in einem Gastbeitrag schildert.

Jahre später begab sich Biswas-Diener auf eine wissenschaftliche „Weltreise der Gastfreundschaft“. Sein Ziel: Er wollte herausfinden, wie Menschen rund um den Globus über Gastfreundschaft denken. Der Psychologe und sein Team ließen mehr als 2100 Testpersonen aus elf verschiedenen Ländern Fragebögen ausfüllen. Es zeigte sich, dass über sämtliche Kulturen hinweg Gastfreundschaft als Tugend gilt. Deutliche Unterschiede gibt es aber darin, wie oft die Menschen tatsächlich Gäste bei sich zu Hause empfangen. Am häufigsten geschieht dies im Nahen Osten, zum Beispiel im Iran und in der Türkei, und in lateinamerikanischen Ländern wie Mexiko und Argentinien. Am anderen Ende des Spektrums liegen Australien und Singapur.

Dahinter könnte allerdings eine Vielzahl von kulturellen Faktoren stecken, erklärt Biswas-Diener. In Singapur etwa spiele sich ein großer Teil des Lebens im öffentlichen Raum ab. Die eigene, meist eher zweckmäßige Wohnung liegt oft fernab des Zentrums. Da ist es vermutlich einfacher, Freunde zum Essen in einem Restaurant einzuladen. Biswas-Dieners Schlussfolgerung: „Die Singapurer und Singapurerinnen sind vielleicht nicht weniger gastfreundlich. Sie sind es nur auf eine andere Art und Weise.“

Eines habe gelebte Gastfreundschaft aber überall auf der Welt gemeinsam, so Biswas-Diener: Sie gehe Hand in Hand mit Glück. „Menschen, die generell gastfreundlich sind, sind auch zufriedener mit ihrem Leben. Sie erleben mehr positive Emotionen und leiden weniger unter negativen als ihre weniger gastfreundlichen Mitmenschen.“ Wie so oft bleibt offen, ob es sich um eine Korrelation oder eine Kausalität handelt: Womöglich macht Gastfreundschaft Menschen glücklicher. Oder aber glückliche Menschen sind offener für Gäste. In jedem Fall, so Biswas-Diener, sei es ein Gewinn.

Unser hospitality score

Die Forschungsergebnisse erinnern mich an das zufriedene Lächeln von Ahmed. Und an Abu Hamad, der in den Gästen eine Quelle des Glücks sieht. Wenn Gastfreundschaft unser Wohlbefinden fördert, kann man sie dann trainieren? Wie einen Muskel, den man gezielt kräftigt und formt?

Die Big-Five-Persönlichkeitsmerkmale gelten zwar als weitgehend stabil, sagt der Psychologe Meagher. Man könne sich aber darin üben, geselliger zu werden. In Stein gemeißelt ist unser hospitality score ohnehin nicht. So kann zum Beispiel auch die jeweilige Lebensphase beeinflussen, wie gastfreundlich wir uns verhalten. Meagher hat das an sich selbst beobachtet: „Als Junggeselle in meinen Zwanzigern betrachtete ich meine Wohnung vor allem als Zufluchtsort: Ich arbeitete, kam nach Hause und zog mich allein zurück.“ Seit er verheiratet sei, konzentriere er sich weniger auf sich selbst. Sein Zuhause sehe er jetzt mehr als Ressource, die er mit anderen teilen wolle. „Wenn man anfängt, diese Einstellung zu ändern, folgt irgendwann das Verhalten“, sagt Meagher.

Auch Biswas-Diener beschreibt Gastfreundschaft vor allem als Haltung. Die könne man trainieren, indem man versuche, die Welt öfter aus der Perspektive anderer zu sehen. Denn wer sich in den Gast hineinversetzen kann und auf dessen Bedürfnisse achtet, wird laut Biswas-Diener zu einem besseren Gastgeber. Der Psychologe ist davon überzeugt, dass sich die Mühe lohnt. Für das Glück in den eigenen vier Wänden, aber auch darüber hinaus: „In einer Zeit, in der politische Spaltungen und Identitätspolitiken oft Barrieren zwischen Menschen errichten“, schreibt er, „ist eine gastfreundliche Haltung – besonders gegenüber Fremden – vielleicht wichtiger denn je.“

Quellen

Benjamin R. Meagher u.a.: Be our guest: The development of the Interpersonal Hospitality Scale. Journal of Personality Assessment, 105/2, 2023, 203–214

Shawn M. Burn: Why sharing a house or being a guest can cause conflict. Psychology Today online, 18. Dezember 2023

Robert Biswas-Diener u.a.: Assessing and understanding hospitality: The Brief Hospitality Scale. International Journal of Wellbeing, 9/2, 2019, 14–26

Robert Biswas-Diener: Inviting: How hospitality can improve everything. High Quelen OnlinePerformance Institute, www.highperformanceinstitute.com, 30. März 2018, abgerufen am 20.06.24

Shawn M. Burn: The trouble with houseguests. Why houseguests, like fish, smell after three days. Psychology Today online, 25. Juli 2013

Daniel Danner u. a.: Das Big Five Inventar 2. Diagnostica, 65/3, 2019, 121–132

Daniel N. Jones, Delray L. Paulhus: Introducing the short dark triad (SD3): a brief measure of dark personality traits. Assessment, 21/1, 2013, 28-41

Anne Vinsel u.a.: Privacy regulation, territorial displays, and effectiveness of individual functioning. Journal of Personality and Social Psychology, 39/6, 1980, 1104–1115.

These 9 things are what holiday hosts stress the most about. New York Post, https://nypost.com/, 25. Oktober 2023

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2024: Bin ich gestresst oder habe ich ADHS?