„Erholsam ist schon, wenn man über seine Freizeit selbst entscheidet“

Feierabend, Wochenende, Urlaub: Doch von Erholung ist keine Spur! Sabine Sonnentag über das Lösen von Arbeitsanspannung und abgeschlossene Aufgaben

Die Illustration zeigt ein Ruderboot mit Besatzung, die in eine Röhre reinrudern
Gemeinsamkeit und Sport können helfen, dem Sog der Anstrengung zu entkommen. © Luisa Jung für Psychologie Heute

Frau Professorin Sonnentag, Sie haben ein Phänomen beschrieben, das Sie „Erholungsparadox“ nennen: Gerade nach besonders stressigen und belastenden Arbeitstagen, wenn man sich völlig ausgelaugt fühlt und die Erholung am nötigsten bräuchte, fällt einem das Abschalten und Energietanken besonders schwer. Wie ist das zu erklären?

Nach einem angespannten Tag beobachten wir oft zwei scheinbar gegensätzliche Muster. Das eine ist eine hohe negative Aktivierung. Also: Man steht unter Dampf, ist angespannt, gereizt,…

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Muster. Das eine ist eine hohe negative Aktivierung. Also: Man steht unter Dampf, ist angespannt, gereizt, aufgebracht, ärgerlich. Das äußert sich auch körperlich, zum Beispiel in einem erhöhten Puls und Blutdruck und mehr Stresshormonen: Der Organismus wird dann nach Feierabend nicht vollständig in den Ruhemodus heruntergefahren.

Das andere Muster: Man hat wenig Aktivierung, man fühlt sich müde und erschöpft, der Akku ist sozusagen leer. Beide Zustände behindern die Erholung. Wenn man von der Arbeit noch aufgebracht ist und sich ärgert, fällt es schwer, abzuschalten und sich zu entspannen. Und wenn man müde ist, kostet es viel Kraft und Überwindung, erholsamen Aktivitäten nachzugehen und sich etwa zum Sport aufzuraffen. Das Ergebnis ist in beiden Fällen, dass wir uns gerade nach besonders stressigen Tagen schlechter erholen.

Welche Art von Stress bei der Arbeit trägt dazu bei, dass wir auch nach Feierabend das Büro gedanklich mit uns herumtragen und angespannt sind?

Das kann mit der Arbeit selbst zu tun haben, etwa dass eine Aufgabe einen überfordert oder dass der Arbeitsanfall, unser workload einfach zu hoch ist oder ein immenser Zeitdruck herrscht. Oder es ist etwas schiefgelaufen, es gab Missverständnisse, technische Probleme, und nach Feierabend schaut man dem nächsten Arbeitstag schon mit Bangen entgegen. Als sehr belastend und der Erholung abträglich haben sich vor allem soziale Stressoren am Arbeitsplatz erwiesen. Das können ausgewachsene Konflikte mit Kolleginnen und Kollegen oder mit den Vorgesetzten sein, aber auch scheinbar harmlose Vorfälle wie kleine Sticheleien oder dass man sich in einer Sitzung übergangen fühlt. Gerade solche Vorfälle gehen einem auch nach der Arbeit oft noch lange im Kopf herum.

Die Gestaltpsychologie spricht bei solchen schwelenden Konflikten oder bei Aufgaben, die man begonnen hat, aber nicht fertigstellen konnte, von einer „offenen Gestalt“: Da ist etwas unerledigt oder ungeklärt und drängt auf Abschluss, deshalb geht es einem nicht aus dem Kopf. Könnte das ein Grund dafür sein, warum einen die Arbeit nicht loslässt?

Eigentlich ist das ja ein gutes Prinzip, dass wir Menschen weiter an den Dingen hängen, die wir nicht zu Ende gebracht haben, und dass wir uns von Zeit zu Zeit daran erinnern, dass da noch etwas fertigzustellen ist. Nur ist es eben dysfunktional, wenn wir den ganzen Feierabend daran denken. Die Wirtschaftspsychologin Christine Syrek hat die Auswirkungen solcher unfinished tasks, also nicht abgeschlossener Aufgaben untersucht und festgestellt, dass sie in der Tat der Erholung im Weg stehen.

Also sollte man wenn irgend möglich an einem Arbeitstag zu Ende bringen, was man begonnen hat, damit man den Feierabend genießen kann?

Das ist sicher hilfreich. In dieser Hinsicht sind flexible Arbeitszeiten etwas Sinnvolles, also dass ich nicht pünktlich um fünf Uhr nachmittags aufhören muss, sondern bei Bedarf eben noch 20 Minuten dranhänge, bis ich abgeschlossen habe, woran ich gerade arbeite. Ich weiß, das ist nicht immer möglich, zum Beispiel wenn Kinder abgeholt werden müssen. In solchen Fällen empfehle ich: Notizen machen – damit ich eben nicht im Kopf präsent halten muss, woran ich am nächsten Arbeitstag anzuknüpfen habe. Ich weiß dann: Ich habe es mir aufgeschrieben, da schaue ich dann am nächsten Morgen drauf, und bis dahin kann ich es vergessen.

Was sind die Folgen, wenn man in seiner Freizeit die Arbeit nicht hinter sich lassen kann?

Wenn es einem nicht gelingt, nach Feierabend abzuschalten, zu entspannen und erholsamen Aktivitäten nachzugehen, äußert sich das oft am nächsten Arbeitstag: Man ist weniger konzentriert, nicht so bei der Sache, leichter aus dem Gleichgewicht zu bringen. Wenn es einem dauerhaft an Erholung mangelt, kann das aber auch langfristige Konsequenzen haben, bis hin zu chronischer Erschöpfung.

Damit es nicht so weit kommt, hört man dann den Rat: „Erholen Sie sich erst mal gründlich!“ Aber was ist das eigentlich: Erholung?

Erholung ist ein der Anspannung entgegengesetzter Prozess, also ein Herunterfahren der Beanspruchung, ein Abebben der negativen Aktivierung. Der Erholungsprozess geht mit vier Erfahrungen einher: detachment, relaxation, mastery, control.

Gehen wir diese vier doch mal durch: detachment, sich loslösen, was ist damit gemeint?

„Loslösen“ trifft es. Es ist das gedankliche Abschalten von der Arbeit. Und zwar nicht nur, indem man nicht mehr aktiv an die Arbeit denkt, sondern auch in dem Sinne, dass sich Gedanken an die Arbeit einem nicht wider Willen aufdrängen, sich nicht ins Bewusstsein schleichen.

In welchen Momenten ist solch ein Zustand erreicht?

Wenn wir in der Freizeit etwas tun, das uns nicht nur oberflächlich beschäftigt, sondern auch gedanklich gefangen hält, so dass Gedanken an die Arbeit gar nicht erst aufkommen.

Die zweite Erholungserfahrung ist relaxation, Entspannung. Was verstehen Sie darunter?

Im Wesentlichen „sympathische Deaktivierung“. Also: Das sympathische Nervensystem, das den Organismus in Anspannung hält, wird heruntergefahren. Mental macht sich dieses Herunterfahren als Entspannung bemerkbar.

Den dritten Begriff, mastery, also etwas können und meistern, hätte ich auf Anhieb nicht mit Erholung in Verbindung gebracht.

Damit wollen wir zum Ausdruck bringen, dass Erholung eben nicht nur durch Passivität und Nichtstun stattfindet, sondern dass gerade Aktivität und Erfolgserlebnisse erholsam sein können. Wenn man zum Beispiel Sport macht oder einem Hobby nachgeht, bei dem man gefordert ist, nimmt man sich als handelnd wahr, man bewirkt etwas. Auch das trägt zur Erholung bei.

Und warum braucht man control, Kontrolle zum Erholtsein?

Weil man sich leichter und besser erholt, wenn man selbst bestimmen kann, was man macht und wie man es macht. Erholsam ist also schon, wenn man selbst entscheiden kann, wie man seine Freizeit verbringt, wenn man das Gefühl hat, nicht unter Zwang zu stehen. Denn die Freizeit ist ja nicht durchgängig freie Zeit, wir haben auch in der Freizeit Verpflichtungen, etwa die Einkäufe oder den Hausputz.

Also der Verwandtenbesuch am Wochenende trägt nicht unbedingt zur Erholung bei.

Es kommt darauf an. Hat man das selbst entschieden und macht man das gerne, dann kann ein solcher Besuch erholsam sein. Fühlt man sich hingegen nur verpflichtet und man will es eigentlich nicht und hat keine Möglichkeit, nein zu sagen oder auf den Zeitpunkt und die Dauer der Pflichtvisite Einfluss zu nehmen, dann ist es der Erholung eher abträglich.

Gibt es einen Kniff, mit dem man Pflichten zur Kür und damit zur Freizeit umdeuten kann?

Wenn ich mir sage: Ich könnte mir zwar Schöneres vorstellen, als den Garten umzugraben, aber es ist mir wichtig und ich organisiere es so, dass ich dadurch nicht in Stress gerate – dann kann ich dem vielleicht etwas Positives abgewinnen.

In dem Moment, in dem ich eine solche Pflicht zu meiner eigenen Agenda mache, fällt sie leichter?

Im Idealfall ja, aber wir sollten uns auch nichts vormachen. Man muss sich nicht einreden, dass man nur positiv denken muss, und schon ist alles schön. Nee. Es gibt einfach Aufgaben, die sind und bleiben unangenehm.

Ist das Wochenende die wichtigste Zeit zur Erholung?

Faktisch ist es so, dass viele sich am Feierabend nicht ausreichend erholen und deshalb diese beiden Tage brauchen. Doch je mehr man Erholung auch schon in den Alltag unter der Woche integrieren kann, umso besser.

Wenn ich nun aber bemerke, dass es mir an dieser Erholungszeit nach Büroschluss fehlt – weil eben auch in der Freizeit so viele Verpflichtungen warten: die Wäsche, Behördenbriefe und Rechnungen, die Eigentümerversammlung –, wie soll ich da abschalten?

Da würde ich unterscheiden zwischen „abschalten“ und „erholen“. Bei vielen solcher Verpflichtungen kann man möglicherweise perfekt von der Arbeit abschalten: Wenn ich mir Sorgen um die Kinder oder um meine Finanzen mache, dann werde ich davon so aufgesogen, dass ich die Arbeit womöglich sehr schnell vergesse. Aber erholsam ist das natürlich nicht. Klar, je mehr solcher Anforderungen man auch außerhalb der Arbeit hat, desto schwieriger wird es, sich gut zu erholen.

Wie kann es dennoch gelingen?

Hilfreich sind gängige Mittel aus dem Repertoire der Selbstregulation, etwa ein kurzer Spaziergang, eine Atemübung, eine Viertelstunde im Lieblingsbuch lesen, also Tätigkeiten, in denen man aufgehen kann und über denen man seine Sorgen für eine gewisse Zeit vergessen kann.

Was taugt besser zur Erholung: einfach die Füße hochlegen und nichts tun – oder Körper und Geist auf Trab halten?

Da gibt es große Unterschiede von Person zu Person. Grundsätzlich kann man sagen, dass Nichtstun höchstens für eine gewisse Zeit erholsam ist. Aktiv zu sein, etwa beim Sport, eignet sich besser.

Warum ist Sport erholsam, obwohl uns körperliche Anstrengung doch eigentlich erschöpft?

Zum einen ist Sport – zumal draußen in der Natur – ein wichtiger Ausgleich zu der oft sitzend verbrachten Zeit am Arbeitsplatz. Sport regt die Durchblutung an, die Körpertemperatur steigt, was als wohltuend empfunden wird. Außerdem hilft vor allem anstrengender Sport, wie erwähnt, beim gedanklichen Abschalten. Und man hat Erfolgserlebnisse, also mastery. Auch die soziale Komponente wirkt anregend und damit erholungsfördernd: Wir verabreden uns mit anderen zum Joggen oder Schwimmen oder trainieren in einem Verein.

Warum ist es so befriedigend und erholsam, etwas in der Gemeinschaft mit vertrauten Menschen zu unternehmen?

Vertraute Beziehungen zu haben ist ein menschliches Grundbedürfnis. Wenn es befriedigt wird, befördert dies positive emotionale Zustände, was wiederum zur Erholung beiträgt.

Es gibt ja auch Tätigkeiten, die zwar körperlich anspruchslos, aber psychisch sehr aktivierend sein können, zum Beispiel seine Lieblingsmusik hören oder einen fesselnden oder bewegenden Roman lesen. Ist das erholsam?

Das Absorbiertsein von der Handlung oder der Musik fördert zumindest das Abschalten, bringt einen auf andere Gedanken. Auch die Freude und positive Spannung beim Musikhören oder Romanlesen können erholungsfördernd sein.

Wie wichtig ist Schlaf für die Erholung?

Superwichtig.

Das Frustrierende ist ja: Je gestresster man ist, also je nötiger man den Schlaf eigentlich bräuchte, desto schlechter schläft man.

Das ist ein Teil des Erholungsparadoxes: Je höher die negative Aktivierung, desto schwerer ist es, gut zu schlafen.

Was sollte man am Feierabend nicht tun, wenn man gut schlafen will?

Nichts tun, was mit der Arbeit zu tun hat. Stark aktivierende Dinge unterlassen – auch Joggen lieber früh am Abend statt unmittelbar vor dem Schlafengehen.

Das Lieblingsthema aller Beschäftigten ist der Urlaub. In welchem Maße tragen Urlaube zur Erholung bei?

Studien bestätigen klar den Erholungseffekt von Urlauben. Unmittelbar nach dem Urlaub fühlen sich Befragte besser als vor dessen Antritt.

Wie lange dauert ein für die Erholung optimaler Urlaub?

Manche Studien zeigen kaum einen Effekt der Urlaubsdauer – für das Befinden sofort nach dem Urlaub spielt es also keine wesentliche Rolle, ob es nun zwei oder drei Wochen waren. Sehr viel wichtiger ist: Was geschieht in der Zeit nach dem Urlaub, wie lange hält die Erholungswirkung an? Und da muss man leider feststellen: Nach zwei, spätestens nach vier Wochen ist wieder alles beim Alten.

Was kann ich tun, damit die Urlaubserholung nicht ganz so schnell verfliegt, sobald der Alltag mich wieder hat?

Es langsam angehen lassen und sich bei der Arbeit nicht sofort zu vielen Stressoren aussetzen. Aber ich weiß: Das ist ein frommer Wunsch!

Woran merke ich, dass ich – nach einem Urlaub, einem Wochenende – erholt bin?

Man fühlt sich besser, positiver gestimmt – was sich oft, aber nicht immer auch in den physiologischen Kennwerten spiegelt. Möglicherweise – aber dazu gibt es kaum eindeutige Studien – ist man auch resistenter gegenüber Belastungen, also gelassener.

Wie schön es doch wäre, wenn man diesen Zustand konservieren könnte!

Das ist wohl nicht möglich. Aber man kann sich im Alltag immer wieder an diesen erholten Zustand erinnern und ihn damit vielleicht für Momente wiederherstellen. Man sollte also schon in dem erholten Zustand selbst aufmerksam dafür sein, wie sich dieses Erholtsein körperlich, mental und emotional anfühlt. Wenn man dann später diese Erinnerung wieder aufruft, dann stellt sich vielleicht auch ein wenig von diesem Erholungszustand selbst wieder ein.

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Sabine Sonnentag ist Professorin für Organisations- und ­Arbeitspsychologie an der ­Universität Mannheim. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich unter anderem damit, was zum Wohlbefinden und zur Erholung von der Arbeit beiträgt.

Quelle

Sabine Sonnentag, Bonnie Hayden Cheng, Stacey L. Parker: Recovery from work: Advancing the field toward the future. Annual Review of Organizational Psychology and Organizational Behavior, 9, 2022, 33–60

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2024: Glückliche Stunde gesucht