Frau Robel, was ist eigentlich Nichtstun in den Augen der Deutschen? Eher Muße, Müßiggang oder Faulheit?
Das kommt auf die Situation an und darauf, wer in den Blick gerät, aber grob gesagt: wer nichts tut, wer nicht nichts tun soll oder wer nichts tun darf. Jeder äußert dazu andere Ängste und Sehnsüchte, je nachdem wen Sie fragen, also ob zum Beispiel Theologen, Sozialwissenschaftlerinnen, Zukunftsforscher, Freizeitpädagoginnen, Psychologinnen, Zeitforscher oder Journalistinnen darüber sprechen.
Andere…
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Freizeitpädagoginnen, Psychologinnen, Zeitforscher oder Journalistinnen darüber sprechen.
Andere wieder, wie etwa Ratgebende, Entschleunigungsvereine oder politisch Aktive, eignen sich Konzepte von Nichtstun – sozusagen positiv – an. Mit Aneignung meine ich hier etwa, wenn Menschen jährlich am 2. Mai den „Internationalen Kampf- und Feiertag der Arbeitslosen“ begehen und auf Demonstrationen ein Leben mit „Couch statt Coach“ oder auch ein „Recht auf Faulheit“ einfordern. Das Spannungsverhältnis zwischen diesen Ängsten, Sehnsüchten und Aneignungen verschiedener Akteure interessiert mich.
Sie haben als Historikerin das Nichtstun beziehungsweise den Blick der Deutschen darauf untersucht. Was genau haben Sie dafür gemacht?
Ich nenne es eine Wahrnehmungsgeschichte. Ich habe mir angeschaut, wie Nichtstun von den 1950er Jahren bis heute öffentlich verhandelt wird, und habe eine Fülle von Quellen ausgewertet: Berichte, Reportagen, Diskussionen in Hörfunk- und Fernsehsendungen, dazu Vorträge, aber auch fiktionale Hörstücke und vereinzelt Spielfilme wie etwa den 1971 herausgekommenen Fernsehzweiteiler Dreht euch nicht um – der Golem geht rum oder Das Zeitalter der Muße. Es gibt zahlreiche Beiträge in populärwissenschaftlichen Zeitschriften wie beispielsweise in der Psychologie Heute oder in alternativen Magazinen und Manifesten – wie das mit dem Slogan Lieber krankfeiern als gesund schuften! aus den 1970er Jahren.
Zudem habe ich mir Ratgeber, aber auch wissenschaftlich erstellte Umfrageergebnisse angeschaut. Zum Beispiel findet sich in den Jahrbüchern des Instituts für Demoskopie Allensbach seit den 1950er Jahren die Frage: „Glauben Sie, es wäre am schönsten, zu leben, ohne arbeiten zu müssen?“ Im Gegensatz dazu verschwinden Befragungen zum Mittagsschlaf oder zu dem Aus-dem-Fenster-Sehen spätestens in den 70er Jahren aus den Umfragen. Solche Funde habe ich sozusagen als Gradmesser dafür genommen, was überhaupt wann öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr.
Ist Nichtstun in unserer Gesellschaft ein Gegensatz zu Arbeit?
Ja, in den Quellen, die ich mir angeschaut habe, ist Nichtstun sehr oft als Gegensatz zu Arbeit gedacht. Wenn man beschreibt, wie Nichtstun wahrgenommen wird, analysiert man automatisch, wie über Arbeit gesprochen wird.
In gewisser Weise war zu erwarten, dass bei dem Nachdenken über das Nichtstun auch der Wert von Arbeit sowie von Zeit ausgelotet wird. Aber es wird eben noch mehr verhandelt – etwa unsere Einstellung zu Konsum und Wohlstand sowie Ideen vom Menschen und vom menschlichen Zusammenleben. Die Freizeitforschung etwa, die sich in den 1970er Jahren stärker an den Universitäten etablierte, prangerte immer wieder eine übertriebene Aktivität und Konsumorientierung in der Freizeit an. Es kam hier die Rede vom „Freizeitstress“ auf. Nichtstun wird als Ausweg angesehen – hin zu einem „Recht auf passive Freizeitgestaltung“.
Ist Nichtstun denn ein Gegensatz zu Produktivität?
Nein, überhaupt nicht. Es ist auffällig, dass dem Nichtstun seit den 1950er Jahren bis in die Gegenwart sehr häufig eine Produktivität zugeschrieben wird: Vor 60 bis 70 Jahren war von der „schöpferischen Faulheit“ oder dem „produktiven Müßiggang“ die Rede, später eher von Kreativität. Kreativität, heißt es da, tritt in faulen Zuständen zutage als das wahrlich Schöpferische im Menschen. In einer Sendung im NDR 1957 mit dem Titel Lob der Faulheit hieß es: „Ohne Faulheit kein Fortschritt. Weil der Mensch zu faul war, zu rudern, erfand er das Dampfschiff; weil er zu faul war, zu Fuß zu gehen, erfand er das Auto; weil er zu faul war, zu rechnen, erfand er das Elektronengehirn; weil er zu faul war, zu denken, erfand er die Bildzeitschriften; weil er zu faul war, abends die Augen zuzumachen, erfand er das Fernsehen.“ Nichtstun macht also erfinderisch, es hat das Potenzial, Neues hervorzubringen. In dieser bis heute zu findenden Denkweise zeigt sich das Unvermögen, sich von dem Anspruch zu emanzipieren, immer produktiv sein zu müssen.
Wurde das Nichtstun im Laufe der sieben Jahrzehnte, die Sie betrachtet haben, unterschiedlich bewertet?
Durchaus. Auf der einen Seite wird dem Nichtstun Produktivität zugeschrieben, und zwar über all die Jahrzehnte hinweg. Es gilt als kreativ und schöpferisch. Auch die Vorstellung, Nichtstun sei grundsätzlich menschlich, findet sich kontinuierlich über die Zeit. Demnach ist alles, was mit Arbeit oder der Unfähigkeit zum Nichtstun zu tun hat, eine Entfernung von unserem eigentlichen Menschlichen. Die Rückkehr zum Nichtstun ist dann das, was uns dem wieder nahebringt. Diesen Gedanken findet man beispielsweise bei Björn Kern, der 2016 in seinem Buch Das Beste, was wir tun können, ist nichts postulierte: „Im Grunde ist Nichtstun nicht, was es behauptet, sondern ebenfalls eine Tätigkeit. Die Urtätigkeit, die uns lange geläufig war und dann verlorenging.“
Aber die Sichtweisen haben sich mit den Jahren gewandelt?
Neben diesen auffälligen Kontinuitäten hat sich die Deutung von Nichtstun mit der Zeit verschoben, vor allem in den 1980er Jahren: Zum einen wird es seither als möglicher Lebensstil angesehen – Ratgeber verdeutlichten, dass nicht mehr nur Praktiken des zeitweisen Müßiggehens, die irgendwie in den Tag oder in die Ferien eingeplant werden sollten, legitim waren, sondern auch ein faules Dasein im Ganzen. Zum Zweiten wurde dem Individuum die Verantwortung zugeschrieben, sich um das eigene Nichtstun zu kümmern. Dabei sollte es sich an individuellen Größen orientieren. In Fachkreisen wurde die sogenannte „Eigenzeit des Menschen“ diskutiert, also biologisch verankerte Rhythmen.
Die Ausrichtung am Individuellen zeigt sich auch in Praktiken des Zeitmanagements, die beinhalten sollten, den eigenen alltäglichen Zeitgebrauch in Zeittagebüchern zu dokumentieren, sich in gründlicher Selbstbeobachtung über zeitliche Eigenheiten bewusstzuwerden und daraus individuell angepasste Zeitkonzepte – inklusive geplanter Zeiten des Nichtstuns – zu entwickeln. Zunehmend begriff die Gesellschaft das Nichtstun zudem als eine Vorsorgemaßnahme für die eigene Gesundheit – was sich in Buchtiteln wie Lebe faul, lebe länger widerspiegelt.
In Ihrem Buch Viel Lärm um nichts stellen Sie fest, die Sehnsucht nach dem Nichtstun sei oft verbunden mit dem Wunsch, im schönen, warmen Süden zu leben. Ist das die Flucht aus dem Hamsterrad ständiger Arbeit ins Paradies?
Ja. Vor allem in den 1960er Jahren lässt sich die Italiensehnsucht beobachten, die Idee des dolce far niente. Es ist die Sehnsucht der arbeitenden Bevölkerung nach Kontemplation, nach Ausruhen. Die Deutschen schrieben der Bevölkerung anderer Länder eine viel stärkere Faulheit zu. Damit bestätigten sie sich in ihrem wirtschaftlichen Hochschwung und dass sie mit ihrem Fleiß alles richtig machten. Gleichzeitig hatten sie aber auch diese Sehnsüchte. Das funktionierte nebeneinander.
Ist die Faulheit etwas, das in den Augen der Deutschen eigentlich nicht zu ihnen gehört?
Das könnte man denken. In Erhebungen des Instituts für Demoskopie Allensbach wurde auch nach Eigenschaften der Deutschen gefragt. Bei den Antworten ist oft der Fleiß ganz oben. Dieses Selbstbild ist schon interessant. In der Erhebung fragen die Forschenden auch ab, wie die Menschen andere Länder einschätzen – und präsentieren Klischees wie „Die Griechen arbeiten wenig“. Das ist völlig absurd, wenn man sich die aktuellen Debatten über deren Wochenarbeitszeiten von über 40 Stunden anschaut. Genauso schief ist der Blick auf Menschen in Italien. Die Befragten lagern die Sehnsucht nach der Fähigkeit zum Faulsein ins Ausland aus. Damit scheinen dann vor allem „die anderen“ diejenigen zu sein, die zu wenig oder nicht arbeiten.
In den 1960ern saßen in den damals entstehenden Fußgängerzonen die sogenannten Gammler. Wie Sie schreiben, ging man erstaunlich verständnisvoll mit ihnen um. Wie kam das?
Um das zu verstehen, muss man erst einmal sagen, dass diese jungen Menschen erstaunlichen Wind erzeugt haben. Für die wenigen Jugendlichen, die da im öffentlichen Raum sichtbar waren, war das eine wahnsinnige Aufregung: Forschende aus der Soziologie versuchten, Zahlen darüber zu generieren, es gab Journalisten, die geheime Daten erhoben über die Personen. Das gewisse Verständnis für die sogenannten Gammler ist aber dadurch erklärbar, dass es eben vor allem Jugendliche waren. Über die wurde anders gesprochen: „Das ist eine jugendliche Verirrung und in zwei, drei Jahren wieder vorbei. Dann münden die in den Hafen der Ehe.“ Mit dieser Sichtweise wollte man sich auch ein bisschen selbst beruhigen. Denn wenn man diese Gammler explizit als Protest wahrgenommen hätte, wären sie als bedrohlicher empfunden worden.
Was geschah stattdessen?
Im Sprechen darüber setzte eine Entpolitisierung ein, um ihnen eine solche Bedrohlichkeit zu nehmen. Das heißt, Journalistinnen und Soziologen bescheinigten ihnen eine Passivität, die sich bis in ihre ungepflegte Kleidung und lässige Körperhaltung äußere und die Jugendlichen von der Artikulation politischer Interessen und Ambitionen und damit von wirklicher Rebellion abhalte. Es geht dabei ja immer um die Frage: Was ist legitimes Nichtstun und was nicht? Legitim war später dann, wofür man sich aktiv, im Idealfall noch mit einer Lebensidee dahinter entschieden hatte und das auch noch kommunizieren konnte. Das haben die Gammler so nicht getan. Im Übrigen wiederholte sich dieser Vorgang der Entpolitisierung von Nichtarbeit in den 1980er Jahren sehr ähnlich in Bezug auf die Punks.
Wir unterscheiden also auch heute noch zwischen denen, die nichts tun wollen, und denen, die nichts tun können, zwischen jenen, die sich verweigern, und jenen, die es „einfach nicht bringen“?
Ja, so funktioniert unsere Gesellschaft, und das ist das Bittere: Dieser Umstand ist nicht denen vorzuwerfen, die einen Ratgeber darüber schreiben, weil sie selbst „ausgestiegen“ sind. Das „richtige“ oder „legitime“ Nichtstun ist in unserer Gesellschaft das, bei dem ich sagen kann, warum ich nichts tue. Also dass dahinter eine aktive individuelle Entscheidung steht. Das bestätigt sich in der Geschichte hierzulande immer wieder. Und dieses Nichtstun ist etwas anderes, als aus ökonomischer Not, bei Freiheitsentzug oder Krankheit nichts tun zu können.
Die moderne Form des Aussteigens ist das Sabbatical, oder?
Der Begriff des Aussteigers nimmt in den 1980er Jahren zu. Erst dann wird Nichtstun ein möglicher Lebensstil, auf längere Sicht. Beim Sabbatical sind wir aber immer noch im Temporären. Man zieht die Berechtigung für diese Auszeit daraus, dass man sonst ja einer Erwerbsarbeit nachgeht. Das ist ein Unterschied. Das Sabbatical ist nicht plötzlich das Lebensmodell aller Deutschen seit den 1980er Jahren, aber es ist legitim geworden. Es ist derweil eine wahnsinnig geschäftige Sache geworden, mit zahlreichen Anleitungen, wie ich diese Zeit „richtig“ gestalten kann. Auf diese Weise ist es ein berechtigter Ausstieg.
Ist damit nicht auch die Erwartung verbunden, dass ich in dieser Zeit endlich das Buch schreibe oder die Weltreise mache, also etwas Besonderes leisten muss?
Genau das ist die Idee der Produktivität, die eben heute oft Kreativität heißt. Natürlich finden wir auch Gegenbeispiele von Müßiggängern, die einfach nur in den Tag hineinleben. Aber viele Ratschläge und Anleitungen sind damit verbunden, loszugehen und sein Leben anders zu gestalten.
Man sieht in den heutigen Lebensläufen, dass diese Auszeiten gesellschaftlich akzeptiert sind – wenn sie mit Sinn aufgeladen sind. Selbstoptimierung im Zeitalter des Neoliberalismus?
Es gibt Menschen, die versuchen, sich Formen oder Praktiken des Nichtstuns politisch anzueignen, die genau dagegen ansteuern. Aber es ist die Funktionsweise des Neoliberalismus, schwer rauszukommen aus irgendeinem Nutzenzusammenhang. Schon wenn ich sage, dass Nichtstun ein Protest gegen den Neoliberalismus ist, habe ich dem wieder einen Nutzen zugeschrieben. Das völlig nutzenfreie Nichtstun, was in den Sehnsüchten vorkommt, ist gar nicht so einfach zu praktizieren, wenn man ehrlich ist.
Sie haben festgestellt, dass die öffentliche Auseinandersetzung mit Phänomenen des Nichtstuns mehrheitlich von Überlegungen von Männern für und über Männer geprägt ist. Wie kommt das denn, erwarten wir von Frauen sowieso nichts?
Da ist wieder die Frage, wie man es deutet. Für mich war es erst einmal wichtig, diesen Umstand festzustellen. Übrigens wurde in den 1980er Jahren durchaus auch über Hausfrauen und deren Verhältnis zum Nichtstun diskutiert. Das hatte etwas mit den Debatten über Haus- und Carearbeit zu tun und darüber, wer sich eigentlich Zeiten des Nichtstuns leisten kann. An dem Befund, dass in Auseinandersetzungen über das Nichtstun vor allem Männer über Männer sprechen, ändert das aber nichts.
Auch bei den Gammlern und Punks ist auffällig, dass die männlichen Jugendlichen viel stärker in den Blick rückten. Nur als Ausnahme gab es mal Reportagen über Punkerinnen, aber darin ging es eher um Gewalterfahrungen in der Punkerszene. In Bezug auf die Nichtarbeit, das Nichtstun – oder wie auch immer das gerahmt wird – bleibt es männlich. Offensichtlich wird die Idee von Produktivität, die auch in Bezug auf das Nichtstun dominant ist, in unserer Gesellschaft geschlechterspezifisch gedacht und verhandelt. Da könnte man jetzt ein bisschen spekulieren, warum das so ist. Als Frau sage ich: Wir leben nach wie vor in einer sehr männlich dominierten Welt.
Wir erleben gegenwärtig eine erregte Debatte über Menschen, die angeblich die Arbeit verweigern. Dabei geht es um das Bürgergeld und die Frage, wem es zusteht. Sehen Sie hierin eine Fortsetzung der vergangenen Diskurse?
Diese Diskussion ist alles andere als neu. Und sie hat interessanterweise Konjunkturen, nämlich immer ungefähr ein Jahr vor der Bundestagswahl. Da müsste man genauer hingucken: Wer spricht jetzt öffentlich über die sogenannte Arbeitsverweigerung, wer ist debattenbestimmend, wer begreift sich als Expertin oder Experte dafür und woher kommen diese Annahmen? Bei all den netten Geschichten, die ich übers Nichtstun ausgegraben habe, existierte parallel immer die Disziplinierung und Diffamierung von Nichtarbeitenden. Das läuft die ganze Zeit mit.
PD Dr. Yvonne Robel ist Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Sie hat zur öffentlichen Wahrnehmung von Nichtstun habilitiert: Viel Lärm um nichts. Eine Wahrnehmungsgeschichte des Nichtstuns in der Bundesrepublik.
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