„An der Apotheke links“

Irrfahrten und falsches Abbiegen: Warum wir nicht nur Technik und Grips brauchen, um den richtigen Weg zu finden, erklärt der Psychologe Stefan Münzer.

Eine Frau hält eine Landkarte in den Händen vor ihr Gesicht
Mit mehr Selbstvertrauen können wir die Karte auch mal zugeschlagen lassen. Nur so bauen wir unsere Orientierungsfähigkeit aus. © plainpicture/ Elektrons 08

Haben Sie sich schon mal so richtig verlaufen?

Ja, in Chicago. Ich war noch nie dort, kannte mich nicht aus und wollte zu Fuß von der Hochbahn zu meinem Hotel laufen. Zu Hause hatte ich mir den Weg bereits auf der digitalen Karte angesehen und fand, dass er einfach zu finden wäre. In den USA funktionierte jedoch mein Handy nicht und so konnte ich nicht noch einmal genau nachsehen.

Jedenfalls bin ich in die falsche Richtung losmarschiert und es hat über eine halbe Stunde gedauert, bis ich merkte, dass ich…

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in die falsche Richtung losmarschiert und es hat über eine halbe Stunde gedauert, bis ich merkte, dass ich mein Ziel wohl nie erreichen würde. Ich fand schließlich an einer Bushaltestelle einen aufgehängten Stadtplan, an dem ich mich orientieren konnte, und erreichte dann ziemlich verspätet mein Hotel.

Wie kommt es, dass manche Menschen immer genau wissen, wo es langgeht, während andere sich leicht verirren?

Ob wir den richtigen Weg finden, hängt davon ab, welche Vorstellung wir gedanklich von unserer Umgebung entwickeln. Und das hängt von unseren Fähigkeiten, Erfahrungen und Vorlieben ab, zum Beispiel ob wir gerne Karten lesen, uns Grundrisse von Gebäuden ansehen oder Räume aus verschiedenen Perspektiven vorstellen können. Darin unterscheiden wir uns. Es spielt auch eine Rolle, wie sehr wir uns auf unser Navi verlassen und ob wir uns auch mal ohne es zurechtfinden. Von entscheidender Bedeutung ist außerdem das Selbstvertrauen, also wie sehr ich auf mein Wissen und Gespür baue.

Wie entsteht denn unser Selbstvertrauen?

Durch eigenes Handeln. Wenn ich als Kind immer von den Eltern überall hingefahren wurde, wenn ich die Wegplanung in einer Gruppe stets anderen überlasse oder mich an meine Partnerin oder meinen Partner hänge, werde ich diesbezüglich kaum Sicherheit aufbauen. Orientierung entwickelt sich nicht von selbst. Für Kinder ist es wichtig, Wege selbständig zu gehen oder mit dem Fahrrad zu fahren, um Routen- und Richtungswissen zu erlernen, eine Fähigkeit, die wir als Erwachsene brauchen und die sich das ganze Leben lang erweitert. Und es braucht Selbstreflexion.

Wieso das?

Man sollte sich bewusstmachen, dass Fehler und Irrwege ganz natürliche Bestandteile dieses Lernprozesses sind. Das ermöglicht es, aus Erfahrungen zu lernen und somit das Selbstvertrauen zu festigen.

Der Begriff Orientierungssinn legt nahe, dass es ein Sinnesorgan gibt, das uns durch die Gegend leitet…

…aber das ist nicht der Fall. Orientierung beruht auf einem Zusammenspiel verschiedener Sinnesinformationen, zum Beispiel was wir sehen, unserem Gleichgewicht und wie wir unseren Körper bewegen. Es handelt sich um eine komplexe kognitive Leistung, bei der das Gehirn diese Informationen verarbeitet. Der Orientierungssinn ist also eine Fähigkeit, die uns durch die Umgebung leitet, ob zu Fuß in der Stadt, im Auto auf der Straße, in komplexen Gebäuden wie Flughäfen oder Krankenhäusern. Es ist eine Kompetenz, die es uns ermöglicht, effizient von A nach B zu kommen. Dabei ist auch unser Wissen entscheidend dafür, wie gut wir vorankommen.

Was meinen Sie damit?

Wenn ich zum Beispiel in Manhattan unterwegs bin, kann ich die Grid-Struktur der Straßen nutzen, um mich zurechtzufinden, also den netzartigen, rechtwinkligen Aufbau und die entsprechende Nummerierung. Dieses Wissen nützt mir in London oder Tübingen nicht viel, da dort die Städte anders strukturiert sind. Oder wenn ich auf der Autobahn fahre, kann ich der Beschilderung folgen, um an mein Ziel zu gelangen, sollte aber die Richtung wissen, wenn meine Ortschaft nicht aufgelistet ist. Kurzum: Wir werden immer wieder vor unterschiedliche Anforderungen gestellt und müssen dementsprechend unser Wissen einsetzen, um da anzukommen, wo wir hinwollen.

Orientieren wir uns jedes Mal anders?

Wir besitzen verschiedene mentale Vorstellungen, wie wir uns durch eine bestimmte Umgebung navigieren. Die einfachste Vorstellung ist dabei die eines bestimmten Weges. Dieser ist so etwas wie eine geordnete Kette von Abbiegeentscheidungen, also so was wie: „an der Apotheke links“, „bis zur T-Kreuzung geradeaus“. Wir merken uns dabei auffällige Kennzeichnungen oder Landmarken als Hinweise für unsere Route. Jedoch sind wir in diesem Fall darauf angewiesen, genau denselben Weg wieder zurückzufinden.

Weichen wir davon ab, haben wir keine Orientierung mehr?

Das kann passieren. Eine andere Variante ist das Richtungswissen: Wir können einen Ort finden, der weiter weg von unserem aktuellen Standpunkt liegt. Den steuern wir an, ohne auf einen Weg festgelegt zu sein. So wissen wir, manchmal auch nur ungefähr, wo unser Hotel liegt, wenn wir in einer uns fremden Stadt unterwegs sind. Die Herausforderung ist, dass wir die Richtung immer mitdenken müssen.

Und die hängt davon ab, wo wir uns gerade befinden und wohin wir schauen?

Ja. Während unserer mentalen Navigation aktualisiert sich innerlich ständig die Richtung, also wenn wir nach links oder rechts fahren oder uns drehen.

Eine weitere Vorstellung ist die cognitive map. Die entspricht ungefähr dem, was wir von einer gedruckten oder digitalen Karte her kennen. In unserem Kopf vereinfachen wir dabei die räumliche Umgebung, schematisieren sie, um uns zu orientieren. Auch ohne gedruckte Karte oder Navi können wir in Gedanken diese Karte aufbauen. Wir nehmen dafür die Vogelperspektive ein und sind sozusagen nicht mehr Teil der Umgebung. Dafür wechseln wir mental den eigenen Standpunkt und verbinden aus einem anderen Blickwinkel unterschiedliche Eindrücke miteinander.

Wie funktioniert Orientierung eigentlich?

Orientierung heißt im Grunde genommen, sich immer drei Fragen zu beantworten: Wo bin ich? Wo will ich hin? Wie komme ich dahin, wo ich hinmöchte? Wir bestimmen dabei unsere Position im Raum und unsere Ausrichtung in der Umgebung, integrieren und verarbeiten Sinneseindrücke und gleichen diese mit unserem Wissen ab.

Also: Bin ich da, wo ich laut Karte sein sollte? Das bedeutet, dass ich einen ständigen Abgleich zwischen den Informationen auf der Karte und den Informationen der Umgebung machen muss. Und dieses entsprechende Bild wandert Schritt für Schritt ins Gedächtnis.

Und formt dann eine Karte in meinem Kopf. Funktioniert das bei Tieren auch so?

Nein. Viele Tiere zeigen beeindruckende Navigationsleistungen. Zugvögel zum Beispiel sind mit ihrer natürlichen Sinnesausstattung in der Lage, sehr weite Strecken sicher zu navigieren. Sie nutzen Informationen über den Sonnenstand und die Magnetfeldlinien der Erde und fliegen, als ob sie einen eingebauten Kompass hätten.

Das ist uns leider nicht gegeben.

Dafür haben wir Menschen mithilfe unserer Intelligenz komplexe Verfahren und Hilfsmittel erfunden, wie Sextanten in der Seefahrt für die astronomische Navigation oder satellitengestützte Positionsbestimmung und digitale Routenführung, also das Navi im Auto.

Was die Navigation angeht, sind wir also von Natur aus nicht so gut ausgerüstet.

Nein, leider nicht. Die wesentlichen Kompetenzen dafür – auch für die Nutzung von Karten und Tools – müssen wir erlernen. Das stellt uns immer wieder vor neue Herausforderungen. Wenn wir in die Geschichte zurückblicken, gibt es ja berühmte Irrtümer, wie Kolumbus, der statt Indien Amerika „entdeckte“. Oder Charles Lindbergh: Der sparte bei seiner Atlantiküberquerung aus Gewichtsgründen einen Sextanten ein und musste dann auf seinem Flug über einem Fischerboot kreisen, nur um die Besatzung zu fragen, wo sein Ziel Irland liege.

Heute verlassen wir uns auf unsere Navis. Allein deren Existenz und exzessive Nutzung deutet darauf hin, dass wir uns von allein nicht wirklich gut orientieren können.

Apropos naturgegeben: Gibt es denn die vielbemühten Unterschiede zwischen Frauen und Männern, wenn es darum geht, sich orientieren zu können?

Was es gibt, sind Stereotype! Wir haben eine repräsentative Umfrage unter Frauen und Männern zu räumlichen Strategien durchgeführt. Dabei ging es darum, welche Vorgehensweisen bezüglich der räumlichen Vorstellung angewendet werden. Wir wollten prüfen, wie unsere Teilnehmerinnen und Teilnehmer mentale Karten entwerfen und bei der alltäglichen Navigation anwenden.

Wie fiel das Ergebnis aus?

Bei all diesen Aufgaben schätzten Männer ihre Fähigkeiten höher ein als Frauen. Männer gaben an, sicher bestimmte Navigations- und Orientierungsstrategien im Alltag anzuwenden, während Frauen von sich aus sagten, über diese Kompetenz nicht so sehr zu verfügen.

Und wie sieht es in der Realität aus?

Das hängt von der Art der Aufgabe ab. Männer können sich oftmals in einer Umgebung besser orientieren und sicherer die Richtungen zu entfernten Orten aufzeigen. Bei anderen Aufgaben, die konkreter sind und ein bestimmtes Erinnerungsvermögen an Orte erfordern, schneiden Frauen besser ab. Sie merken sich zum Beispiel besser als Männer, wo zu Hause bestimmte Dinge abgelegt wurden, wie Wohnungsschlüssel oder die Hefte der Kinder. Jedoch lässt sich das nicht wirklich verallgemeinern.

Es gibt auch Gemeinsamkeiten. Wir haben Männer und Frauen gebeten, nach einer geführten Navigation in einer unbekannten Gegend draußen ihre mentale Karte aufzuzeichnen. Dabei haben wir keine Unterschiede gefunden. Männer und Frauen unterscheiden sich auch darin nicht, sich eine konkrete Route zu merken, die sie einmal gegangen sind.

Stereotype führen ja bekanntlich zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung.

Das kann ich nur unterstreichen. Meine Erfahrung ist, dass Frauen ihre Orientierungsfähigkeit oft deutlich unterschätzen. Das führt nicht selten dazu, dass sie solche Aufgaben vermeiden, weniger Selbstvertrauen in die eigene Orientierungsfähigkeit haben und somit weniger Erfahrungen sammeln, bei denen sie sich erfolgreich in einer Umgebung ohne Hilfsmittel zurechtgefunden haben.

Unabhängig davon, ob Frau oder Mann: Wir alle müssen eben die notwendigen Kompetenzen erlernen, um uns in der Umgebung zurechtzufinden.

Unabhängig vom Geschlecht verwechseln manche „rechts“ und „links“. Macht das etwas mit der Orientierung?

Das liegt nahe, sie tendieren durch diese Verwechslung dazu, zum Beispiel öfter falsch abzubiegen. Die Menschen hören „rechts“ und gehen nach links, und es ist ihnen vielleicht in diesem Moment nicht bewusst. Sie haben wahrscheinlich auch mehr Schwierigkeiten sich zurechtzufinden, wenn sie eine nordorientierte Karte zur Hand haben, aber in eine andere Richtung, vielleicht in den Westen oder Süden schauen. Ob sich das jedoch verallgemeinern lässt, dazu sind mir keine Forschungsergebnisse bekannt.

Kann man den Orientierungssinn trainieren?

Ja, indem wir in konkreten Navigationssituationen bewusst auf auffällige Merkmale der Umgebung achten und versuchen, uns diese zu merken. Hilfreich ist, in überschaubaren Etappen immer wieder die Wegrichtung zu aktualisieren. Dabei helfen auch Karten, auf denen sich wichtige Strukturmerkmale wie zum Beispiel ein markantes Bauwerk oder Flüsse erkennen lassen, um sich diesbezüglich zu orientieren. Und das Navi kann helfen, nicht nur um sich führen zu lassen, sondern auch um seinen Standort zu verstehen, Orientierungspunkte zu finden und dabei zu prüfen, ob die gewählte Richtung stimmt.

Wenn Orientierung gelernt und geübt werden muss, lässt das Navi auf dem Smartphone oder im Auto unseren Orientierungssinn dann verkümmern?

Es macht uns träge. Wenn wir räumliche Informationen nicht aktiv verarbeiten und integrieren, erinnern wir sie nicht. Viele von uns haben bereits die Erfahrung gemacht, dass uns das Navi zum Ziel geführt hat, wir jedoch gar nicht so genau wussten, wo wir uns befinden. Manche Menschen wollen sich eine Orientierung verschaffen und bemerken, dass Navis so, wie sie im Moment funktionieren, dafür nicht hilfreich sind. Andere sind froh, vom Navi geführt zu werden, und wollen sich mit dem Weg nicht so beschäftigen. Schwierig wird es, wenn wir zu einem falschen Ziel geführt werden oder uns auf einer völlig anderen Route bewegen – ohne es zu bemerken.

Was werden die Navis der Zukunft können?

Wenn die bisherige Entwicklung so weitergeht, habe ich da eine pessimistische Sicht. Mal übertrieben gesagt, könnte es so aussehen: Das Navi passt sich als persönliche Assistenz perfekt unserem Denken und unseren Wünschen an. Es plant für uns den Weg, ohne dass wir selbst das Ziel angeben, denn es weiß, was uns gefällt. Es merkt sich das nette Vintagecafé oder den versteckt im Hinterhof liegenden Plattenladen. Es spiegelt uns die Wegführung in unsere Augmented Reality-Kontaktlinsen ein.

Schon jetzt werden Brillen entwickelt, die mit kleinen Kameras unsere Blickbewegungen in der Umgebung analysieren und uns daran angepasst Informationen in die Brille einblenden. Das Navi der Zukunft weiß also, wo wir stehengeblieben sind, um die Schaufensterauslage anzuschauen, und bestellt für uns genau das Paar Schuhe, das wir fixiert haben. Von solch einem Navi werden wir abhängig, da es Entscheidungen für uns trifft, die wir zum Teil nicht verstehen und nicht nachvollziehen können.

Das ist ja beinahe dystopisch…

Sich autonom zu orientieren fällt in einem solchen Szenario immer schwerer. Dahinter steckt natürlich eine Absicht: Das Café, der Plattenstore und der Schuhladen zahlen an den Techgiganten, der uns die Navisoftware auf Handy und der Brille bereitstellt, eine Gebühr, weil uns das Navi dorthin führen wird. Dieses Szenario finde ich nicht erstrebenswert. Bessere Navis, vor allem aber eigene Kompetenzen und eine bessere Orientierung könnten das verhindern.

Wie könnte denn eine positive Zukunftsvision mit Navigationssystemen aussehen?

Intelligente Technik wird zukünftig genutzt, um unsere räumlichen Fähigkeiten und unsere Orientierung zu fördern. Orientierungsinformationen unterstützen den Aufbau unseres Richtungswissens und fördern unser Lernverhalten. Hierbei kann das Navi erklären, warum eine vorgeschlagene Route die beste wäre, es schlägt uns Alternativen vor und merkt sich unsere Vorlieben, zum Beispiel nicht durch verzweigte Nebenstraßen zu fahren, nur um etwas Zeit zu sparen. Es wählt Hauptstraßen, die es uns ermöglichen, uns gut an den Weg zu erinnern. Es stellt uns kleine Aufgaben, während wir in einem Stadtviertel umhergehen.

Welche Art von Aufgaben?

Es fragt vielleicht: „In welcher Richtung von hier aus gesehen liegt das Café, in dem wir vorhin waren?“ „Wo befinden wir uns gerade? Zeige den Standort auf der Karte.“ Aus den Kartendaten und dem zurückgelegten Weg kennt das Navi die richtigen Antworten und gibt eine Rückmeldung, aus der wir lernen, ob wir mit unserer räumlichen Orientierung richtig lagen. Dadurch widmen wir der Umgebung mehr Aufmerksamkeit und bauen Fähigkeiten aus, ohne dass wir uns verlaufen und ohne dass wir uns inkompetent fühlen. Das Navi gibt uns Rückmeldungen über unsere Fortschritte und stellt die nächsten Aufgaben darauf ein. Auf dem Rückweg schaltet es in einen Standby-Mode und lässt uns selbst den Weg finden. Es überwacht die Navigation und greift nur ein, wenn wir uns verirren.

Wir sollten also etwas für unsere Orientierung tun.

Wir sollten darauf achten, dass uns die Technik das räumliche Denken nicht abnimmt, so dass wir die Navigation nicht mehr nachvollziehen können und die nötigen Fähigkeiten dafür verlieren.

Stefan Münzer forscht als Bildungspsychologe an der Universität Mannheim unter anderem zum räumlichen Lernen mit Navigations­systemen und digitalen Karten.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2024: Glückliche Stunde gesucht