Herr Professor Lindenberger, Londoner Taxifahrer haben das Straßennetz ihrer Stadt an einem bestimmten Ort im Gehirn gespeichert. Und weil London so groß ist, ist auch dieser Teil ihres Gehirns besonders ausgeprägt …
Das stimmt. Es handelt sich um den hinteren Teil des Hippocampus, der beim Lernen und Erinnern von Orten und der Orientierung im Raum eine wichtige Rolle spielt. Neurowissenschaftler haben herausgefunden, dass er bei Londoner Taxifahrern oft deutlich größer ist als bei anderen Menschen. Und es…
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herausgefunden, dass er bei Londoner Taxifahrern oft deutlich größer ist als bei anderen Menschen. Und es mehren sich die Hinweise, dass dies tatsächlich auf die spezifischen Anforderungen ihres Berufs zurückzuführen ist.
Demnach müsste das Gehirn von Albert Einstein ein Riesending gewesen sein. Das konnte die Forschung aber nicht bestätigen. Was der amerikanische Pathologe Thomas Harvey in den 1950er Jahren sezierte, war ein Hirn von ganz und gar normaler Größe.
Es gab eine Zeit, da versprach sich die Forschung viel von solchen anatomischen Untersuchungen. Deren großes Handicap aber liegt darin, dass sie sich – notgedrungen – auf tote Materie beschränken. Heute können wir ein lebendes Gehirn in Aktion betrachten, seine Reaktionen auf kontrollierte Reize, die Größe und Beschaffenheit seiner Strukturen und deren Vernetzung. Wir nähern uns einem systemischen Verständnis der Hirnaktivität handelnder Menschen, auch gemeinsam handelnder Menschen, zum Beispiel beim Musizieren. All das war damals nur sehr eingeschränkt möglich. In Zukunft werden Psychologie und Neurowissenschaften ihre Forschungsfragen immer häufiger aufeinander beziehen und gemeinsam entwickeln.
Wir können irgendwann sehen, was einer denkt?
Natürlich nicht! Außerdem kann ich ihn auch fragen. Ich teile nicht die Euphorie mancher Kollegen, die meinen, schon bald für jedes psychologische Konzept ein neuronales Substrat zu finden. Aber ich gehöre auch nicht zu den besorgten Skeptikern, für die jeder Bezug zur Hirnforschung ein Schritt fort vom eigentlichen Thema der Psychologie ist, nämlich dem Verhalten und Erleben des Menschen.
Die meisten Taxifahrer nutzen heute ein Navigationssystem. Und wenn zwei Fußballfreunde sich unterhalten und nicht gleich darauf kommen, wie der Torwart von Borussia Dortmund heißt, dann zücken sie ihr Smartphone, googeln die gewünschte Information und setzen die Konversation fast ohne Unterbrechung fort. Solche Geräte bestimmen den Alltag, sie überbrücken Verwirrung oder Vergesslichkeit, entlasten das Gehirn – aber machen sie am Ende nicht vielleicht dümmer?
Das wissen wir nicht. Sicherlich machen sie es überflüssig, das Gehirn in bestimmten Bereichen in Bewegung zu halten. Wer sich auf sein Navi verlässt, der wird die Geografie einer Stadt eher nicht in seinem Gedächtnis verankern. Was langfristig daraus erwächst – das wäre noch zu erforschen. Vielleicht nutzt der Autofahrer die freie Kapazität, die ihm sein Hilfsmittel verschafft, indem er ganz entspannt ein Hörbuch einschiebt und seinen Geist auf anderen Gebieten in Bewegung hält.
Also freuen wir uns auf eine Welt, in der viele kleine Helfer uns das Suchen abnehmen, das Umherirren, das Erinnern und am Ende vielleicht auch das Denken …
Nochmals: Vorsicht! Wenn intelligente Technik uns bestimmte Dinge abnimmt, dann schafft sie vielleicht Platz für andere Tätigkeiten, angenehmere und auch anspruchsvollere. Wir stehen in der Erforschung solcher Zusammenhänge noch am Anfang. Und wie jeder Dialog zwischen verschiedenen Bereichen der Wissenschaft bringt auch der zwischen Psychologie und den Neurowissenschaften zunächst Missverständnisse, Vereinfachungen und Vergröberungen mit sich – weil man ja erst mal eine gemeinsame Sprache entwickeln muss.
Wir haben in der Analyse des Verhaltens einen gewissen Differenzierungsgrad erreicht und versuchen nun herauszubekommen, wie sich diese Analyseebene mit der neuronalen Ebene verknüpfen lässt.
Also die Neurowissenschaften als Grundlage der Verhaltenswissenschaften?
Nein, keine Hierarchien, in keine Richtung. Kann sein, dass Neurowissenschaftler sich manchmal fragen, wieso die Psychologen so viele feine Unterschiede machen, obwohl es vielleicht neuronal derselbe Mechanismus ist, der diese verschiedenen Verhaltensweisen hervorbringt.
Die gleichen Fragen können sich aber auch in umgekehrter Richtung ergeben: Was wir auf der Ebene des Verhaltens als einheitlich betrachten, könnte auf der Ebene des Gehirns sehr viel komplexer sein, etwa hervorgebracht durch ganz unterschiedliche Mechanismen. Wir haben es hier nicht mit Eins-zu-eins-Beziehungen zu tun, sondern mit Mehrfachbeziehungen, die sich im Laufe des Lebens auch noch verändern können.
Das heißt: Die Beziehung zwischen Gehirn und Verhalten ist selbst wiederum abhängig von der Entwicklung?
Richtig. Und deswegen auch nicht bei jedem Menschen gleich. Das ist kompliziert, aber grundlegend und nicht zuletzt deshalb auch sehr spannend. Man muss mit der Erforschung solcher Zusammenhänge einfach anfangen, dann macht man ein paar Fehler, und dann macht man weiter. Und das Nachdenken über die eine Ebene verändert das Nachdenken über die andere.
Die Vorhersagen über die Entwicklung der Zusammenhänge zwischen Lernen, Belohnung und Motivation ändern sich, wenn man etwa weiß, dass der Neurotransmitter Dopamin, dessen Produktion mit dem Alter stark abnimmt, in allen drei Fällen eine wichtige Rolle spielt.
Schade. Ich hatte gehofft, man könne Ihnen ein Gehirn in Aktion zeigen, etwa auf einem Bildschirm, und Sie können sagen, jawohl, das muss ein Taxifahrer sein.
Das wird nicht klappen. Ich könnte anhand der Struktur eine Wahrscheinlichkeitsaussage machen über das Alter des Gehirns. Und wenn ich das Gewebe in Aktion sehe, auf einem Bildschirm, könnte ich vielleicht feststellen, ob der Mensch ein Rechts- oder ein Linkshänder ist. Ob sich das Gehirn im Ruhezustand befindet, in dem wir frei unsere Gedanken wandern lassen, oder ob es gerade eine visuelle Aufgabe oder auch eine Höraufgabe bearbeitet. So etwas könnte man mittlerweile vermutlich erkennen. Aber viel mehr wohl nicht.
Ihr Kollege Leo Montada hat kürzlich davor gewarnt, dass die Psychologie viele Kompetenzen aufgäbe, wenn sie sich den Neurowissenschaften unterordnete. Psychologen seien oft fasziniert davon, die Aktivität eines Gehirns auf dem Bildschirm verfolgen zu können, schrieben dem Sichtbaren größere Bedeutung zu als dem nur begrifflich Definierten – und merkten dabei nicht, dass es in den Neurowissenschaften um eine ganz andere Abstraktionsebene geht.
Nun führen Sie mit Ihrem Kollegen Wolfgang Schneider das Werk von Montada und Rolf Oerter als Herausgeber des Lehrbuchklassikers „Entwicklungspsychologie“ fort …
Ich stimme Leo Montada zu: Die Psychologie als Wissenschaft vom Verhalten und Erleben sollte sich ihre Gegenstände und Begriffe durch nichts und niemanden vorgeben lassen. Ich habe allerdings meine Kontakte zu den Neurowissenschaften und mein eigenes Dasein als Psychologe, der gleichzeitig neurowissenschaftlich forscht, nie so verstanden, dass man mir meine psychologischen Begriffe wegnehmen möchte.
Der erste Impuls lag immer bei mir: Ich wusste, was mich am Verhalten interessiert, brennend interessiert – beispielsweise, wie sich das Gedächtnis, die Aufmerksamkeit oder das Zusammenspiel solcher Funktionen über die Lebensspanne entwickelt. Das hat mich zunächst völlig unabhängig davon interessiert, ob es ein Gehirn gibt oder nicht. Aber es ist einfach zusätzlich spannend, zu erfahren, wie sich diese Veränderungen beziehen lassen auf Veränderungen des Gehirns und des Körpers insgesamt.
Weil nämlich auch so etwas wie Wahrnehmung, Aufmerksamkeit oder Lernen die Strukturen verändert?
Und zwar physiologisch verändert, so ist es! Ganz offensichtlich hängen Verhaltens- und Gehirnentwicklung in einer noch zu bestimmenden Weise miteinander zusammen. Darüber mehr zu erfahren betrachte ich für unsere Disziplin als Herausforderung und als Chance. Ich musste ein ganzes Vokabular dazulernen, sozusagen eine ganze Wissenschaft – aber nicht als etwas, was zur Psychologie in Konkurrenz tritt oder sie gar verdrängt. Es ist eine Erweiterung. Wir können so etwas angeben wie physiologische Voraussetzungen oder ermöglichende Faktoren.
Wir können zuschauen, wie sich das Gehirn im Lauf der Kindheit reorganisiert und welche Schritte der kognitiven Entwicklung damit einhergehen. Ich spreche hier von Korrespondenzbeziehungen – weil es eben nicht darum geht, das eine als die Basis des anderen darzustellen. Es handelt sich um verschiedene Analyseebenen desselben Gegenstandes, die einander wechselseitig bedingen. Und ich finde es sehr wichtig, dass wir als Psychologen weiterhin unsere eigenen Konzepte entwickeln. Wenn sich Psychologen wie Montada für komplexe Emotionen interessieren, für Schuld und Verantwortung – dann ist der wissenschaftliche Wert ihrer Arbeit nicht daran zu messen, ob und in welcher Weise sich diese Begriffe auf die Neurowissenschaften beziehen lassen. Da stimme ich ihm völlig zu.
Also Entwarnung?
Mehr als das: ein Aufbruchssignal. Ich sehe es ganz und gar nicht so, dass die Psychologie in ihrem Bestand bedroht oder angegriffen würde durch einen Nachbarn, der es irgendwie besser kann. Im Gegenteil: Durch ihre Bezüge zu anderen Wissenschaften – man könnte das ja in ähnlicher Weise in Richtung Soziologie ausführen – gewinnt die Psychologie. Weil sie nämlich als eine Mittlerwissenschaft zwischen der dinglichen und sozialen Umwelt einerseits und dem Gehirn andererseits den handelnden Menschen in den Mittelpunkt stellt. Etwas Spannenderes kann ich mir gar nicht vorstellen.
Als Herausgeber eines neuen Lehrbuches, das von nun an Prüfungsstoff für jeden Psychologiestudenten in Deutschland sein wird, geben Sie ja die Richtung vor.
Nun ja. Es ist, erstens, ein Herausgeberbuch, zu dem viele Autoren zu unterschiedlichen Teilgebieten und aus verschiedenen Positionen beitragen. So soll es auch sein: Wolfgang Schneider und ich sehen uns hier in der Pflicht, das Fach insgesamt möglichst umfassend zur Geltung zu bringen. Wir sind gewissermaßen Sammler; es geht nicht darum, unsere eigene Sicht der Dinge zu propagieren.
Aber zweitens: Ja, wir können Akzente setzen. Darin liegt ein Reiz der Aufgabe. Wir konnten also überlegen, an welcher Stelle wir uns in die Kontinuität des Oerter/Montada stellen – das macht den weitaus größten Teil aus. Und wo wir die Schwerpunkte leicht verschieben.
Wir haben zum Beispiel der vorsprachlichen Kognition sowohl in Bezug auf den Menschen als auch auf Primaten ein eigenes Kapitel gewidmet. Oder wir haben im Grundlagenteil ein eigenes Kapitel über die Entwicklung des Gehirns untergebracht. Aber das erste Kapitel zu Fragen, Konzepten und Perspektiven der Entwicklungspsychologie haben wir als Herausgeber gemeinsam mit unserem Vorgänger Leo Montada geschrieben. Darin steckt ja auch eine Aussage.
Ein Signal der Kontinuität. Und doch ist es unbestritten, dass sich die Entwicklungspsychologie sehr verändert hat. Gerade die Arbeiten von Paul Baltes am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, zu dessen Direktoren Sie heute gehören, haben das Konzept grundlegend neu definiert: Heute sehen wir Entwicklung als einen lebenslangen Prozess. Was ist denn Ihre Prognose für Ihr Fach: Was werden die wichtigen Themen der kommenden 10, 20, 50 Jahre sein?
Paul Baltes war – zusammen mit Michael Chapman – mein wichtigster Lehrer. Ich hatte das Glück, von 1983, damals als Diplomand, bis zu seinem Tod 2006 mit ihm zusammenzuarbeiten. Baltes hat wesentlich dazu beigetragen, das Fach auf die gesamte Lebensspanne auszudehnen und auf eine solide konzeptuelle Grundlage zu stellen. Seine theoretischen und methodologischen Arbeiten, insbesondere der 1960er und 70er Jahre, sind enorm wichtig. Das zeigt sich auch in unserem Buch. In den frühen Ausgaben des Oerter/Montada war die Psychologie der Lebensspanne eher noch eine Hinzufügung, ein Extrakapitel.
Entwicklungspsychologie bezog sich vor allem auf die Kindheit – mit dem Hinweis darauf, ja, in neuerer Zeit gebe es die Idee, dass Entwicklung nicht nur aus Aufbau, sondern auch aus Verlusten besteht, und dass sie sich auf das ganze Leben erstreckt, multidimensional, multidirektional, multifunktional … Dieses Bild änderte sich bereits in den späteren Ausgaben – und nun erst recht in der neuen.
Wolfgang Schneider und ich möchten die Entwicklungspsychologie von vornherein als etwas darstellen, das sich auf die gesamte Lebensspanne bezieht. Wir haben diesen Aspekt im Buch auch weiter ausdifferenziert – also etwa dem mittleren Erwachsenenalter ein höheres und danach noch das sehr hohe Erwachsenenalter hinzugefügt, einschließlich des Sterbens.
Wie wirkt sich das auf die Arbeit von Psychologen aus?
Das wäre meine zweite Prognose: Ich glaube, es wird immer mehr darum gehen, individuelle Entwicklungsverläufe zu verstehen. Das heißt, sich zu trennen von Altersnormen und querschnittlichen Vergleichen: Was macht der Dreijährige, was macht der Fünfjährige? Stattdessen: Wieso entwickelt sich eine bestimmte Person in einem bestimmten Lebensalter in der und der Weise? Also weg von Normen, hin zur Erklärung individueller Unterschiede in der Entwicklung.
Wenn wir zu einem besseren Verständnis der einzelnen Person kommen, wird die daraus entstehende Praxis viel wirksamer sein, als wenn wir uns an relativ groben diagnostischen Kategorien orientieren, die etwa unterscheiden zwischen hochbegabt, normal und zurückgeblieben. Wir hantieren da bisweilen mit Begriffen, die die einzelne Person nur sehr unzutreffend beschreiben.
Wird die Praxis dem folgen können? Die Wirklichkeit ist ja die, dass etwa Kinder mit geistiger Behinderung zwar in eigenen Klassen unterrichtet werden, dort aber alle möglichen Grade und Ausprägungen von Behinderung nebeneinandersitzen.
Genau das ist das Problem. Lerngruppen sind nie wirklich homogen. Wir brauchen Institutionen und wissenschaftliche Kategorien, die der einzelnen Person besser gerecht werden. Es geht darum, ein neues Instrumentarium zu entwickeln, wissenschaftlich und gesellschaftlich, das der individuellen Entwicklung besser entspricht.
Wer differenzierter messen kann, der muss anschließend auch differenzierter reagieren können.
So ist es wohl. Je besser wir einzelne Verläufe verstehen, desto mehr wird sich im Dialog mit der Pädagogik eine erfolgreiche Praxis der Individualisierung der Anforderungen und der Techniken herausbilden. Das Gleiche gilt auch für die klinische Psychologie, die Psychiatrie und andere Anwendungsfelder: Es geht immer um die individuellen Verläufe, ihre Ursachen und Chancen.
Die Erforschung der psychischen Entwicklung gibt uns die Hinweise darauf, nach welchen Prinzipien unser Denken und Handeln organisiert ist und in welcher Weise wir es verändern können. Die Entwicklungspsychologie wird stärker ins Zentrum der Verhaltenswissenschaften rücken, weil sich immer mehr die Erkenntnis durchsetzen wird, dass wir die Dinge nur aus ihrer Bewegung heraus verstehen können.
Die Botschaft ist in der Öffentlichkeit angekommen. Wir reden darüber, wie es uns im Alter ergehen wird. Wir verhandeln über Rente und Pflege und beugen der Altersarmut vor. Wir sparen auf Weltreisen und fürchten Verfall, Verlust und Demenz. Kann die Psychologie dieses Interesse überhaupt befriedigen? Ist nicht längst aller Stoff auf dem Markt?
Jaja, die Psychologen und Neurowissenschaftler als die neuen Sinngeber, die Priester der säkularisierten Welt … Ich halte mich da lieber zurück. Der Blick auf das Erwachsenenalter hat sich sicherlich in den letzten 20, 30 Jahren grundlegend verändert. Das fing an mit der Unterscheidung zwischen dem jungen und dem alten Alter, wie Baltes sie vorgeschlagen hat – also mit der Entdeckung, dass heute Menschen mit 60, 70 Jahren oft körperlich und geistig so fit sind, wie es früher wesentlich jüngere Menschen waren. Und dass sie deshalb Erwartungen ans Leben haben, die vielleicht nicht dem Bild entsprechen, das man gemeinhin vom Alter hat.
Das heißt: Die Lebensspanne hat sich verlängert, dadurch hat sich auch das, was man summarisch mit dem Alter verbunden hat, aufgefächert in ganz unterschiedliche Phasen und damit verbundene Erwartungen.
Das hohe Alter, so hat Paul Baltes noch konstatiert, entspreche dann doch weitgehend unseren Befürchtungen und dem Stereotyp vom Alter schlechthin: Man baut ab, wird klapprig und kann sich die Telefonnummer nicht mehr merken. Aber das junge Alter ist eine Entdeckung, hinzugewonnene Lebenszeit. Aber auch ein Alter der Unterforderung.
Das stimmt wohl. Paul Baltes hat immer wieder darauf hingewiesen: Historisch betrachtet ist das Alter als normative Lebensphase jung. Während wir alle sehr genaue Vorstellungen darüber haben, was mit Leuten geschieht im Alter zwischen null und 18, sind die gesellschaftlichen Erwartungen und Vorstellungen über das, was im sogenannten dritten Alter passiert, was wir mit diesen gewonnenen Jahren anfangen können und sollen, noch relativ unausgegoren.
Wir reden über die Zeit um das Rentenalter herum, plus etwa zehn, 15 oder 20 Jahre …
Da fehlt der gesellschaftliche Konsens darüber, wie diese Jahre zu gestalten sind, auch deswegen, weil entwicklungspsychologische Erkenntnisse und verteilungspolitische Überlegungen aufeinanderstoßen. Es sind ja Jahre, in denen oft eine gute körperliche Verfassung einhergeht mit hoher Kompetenz, Berufs- und Lebenserfahrung. Aus entwicklungspsychologischer Sicht wäre es also gut, wenn die Leute länger arbeiten könnten.
Allerdings ist es sehr schwer zu sagen, wie das im Einzelnen umgesetzt werden kann. Die Menschen werden eben immer unterschiedlicher mit zunehmendem Alter – deshalb wird es immer schwieriger, eine allgemeingültige Altersgrenze anzugeben, bis zu der jemand arbeiten soll. Oder darf. Da betreten wir ein Terrain, das noch nicht klar strukturiert ist.
Fehlen für dieses Lebensalter die Institutionen?
Absolut! Genau das ist das Problem. Wie wäre eine Arbeit zu organisieren, die einerseits ein Ende der Berufszeit einleitet, andererseits aber die Kompetenzen der Menschen nutzt und honoriert? Im Luxussegment gibt es so etwas, bei Professoren etwa, die dann an eine andere Uni gehen. Oder in die USA. Aber die Frage ist, wie man das massenhaft organisiert: Das hat noch keine neue gesellschaftliche Form gefunden.
Aber die Fortschritte der psychologischen Forschung haben die Menschen immerhin angeregt, mehr Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen, sich bewusster auf die neue Lebensphase einzustellen. Das ist doch auch ein Erfolg der modernen Psychologie …
Die Ehre gebührt sicherlich zu guten Teilen meinem Kollegen Jochen Brandtstädter, der dafür den Begriff der „intentionalen Selbstentwicklung“ geprägt hat.
Das heißt: Ich übernehme die Regie in meiner eigenen Biografie; ich mache aus mir das, was ich mir vorgenommen habe.
So in der Richtung. Ein grandioses, sehr aufgeklärtes, sehr zeitgemäßes Konzept – was nebenbei auch daran zu erkennen ist, dass sich ein riesiger Markt für Ratgeber jeglicher Art und Qualität daraus entwickelt hat. Ich sehe auch, dass viele Kolleginnen und Kollegen immer wieder mit Fragen danach bedrängt werden, was denn nun zu tun sei für ein möglichst gutes, erfülltes und langes Leben …
Das ist legitim. Dazu betreiben Sie ja Ihre Forschung.
Klar. Doch ich sehe darin auch zwei Probleme. Das erste ist das Verhältnis von intentionaler Selbstentwicklung einerseits und Widerfahrenem andererseits. Nennen Sie es Schicksal, Zufall oder wie Sie wollen: Man kann sich noch so löblich und gesund verhalten, man kann seinen Geist in Bewegung halten – und trotzdem im Alter dement werden. Oder an der nächsten Straßenecke vor ein Auto rennen.
Sie relativieren die Ergebnisse Ihrer eigenen Forschung?
Ich relativiere die Möglichkeiten, einen Lebenslauf zu steuern. Wir reden hier immer nur von Wahrscheinlichkeiten: Es geht darum, günstige Verläufe wahrscheinlich und ungünstige Verläufe weniger wahrscheinlich zu machen. Das muss jeder wissen und bedenken, und auch im gesellschaftlichen Diskurs sollte es verankert sein …
Denn mit erhöhter Wahrscheinlichkeit geht auch erhöhte Verantwortlichkeit einher. Wer krank wird, einen Unfall hat, seinen Job verliert oder im Alter abbaut, hätte demnach selbst Schuld.
Bis hin zu der Frage, wie Versicherungen damit umgehen. Es gibt eindeutige Risiken wie zum Beispiel das Rauchen. Aber wenn man diesen Gedanken zu Ende dächte, dann gäbe es irgendwann nur noch individualisierte Risiko-Assessments aufgrund von spezifischen Verhaltensweisen: Rauchen, Trinken, welches Verkehrsmittel einer nutzt oder welche Sportart er betreibt …
Ein Leben unter totaler Kontrolle?
Da stoßen wir schnell an Grenzen, ethisch und faktisch, weil das Leben nun mal nicht komplett plan- und vorhersagbar ist. Wir müssen sowohl als Wissenschaftler, die wir mit der Öffentlichkeit kommunizieren, als auch als alternde Menschen, die wir selbst sind, eine Balance finden und sagen: Schön, es gibt Vorkehrungen, Verhaltensweisen, die ein Risiko verringern können – aber eine Garantie gibt es nicht. Das ist der erste Punkt.
Zweitens: Es ist gut zu wissen und zu bedenken, dass Entscheidungen einer früheren Lebensphase mit einer Wahrscheinlichkeit X Auswirkungen in einer späteren haben können. Nur sollte man es mit den Folgerungen nicht übertreiben, weil diese früheren Lebensphasen ja auch einen Wert in sich selbst haben. Als forschender Entwicklungspsychologe mit einer Sympathie für Befunde aus der Naturwissenschaft aber bin ich ständig in Versuchung, alles, was eine Person zum Zeitpunkt A tut, zu beurteilen nach dem, was es für den Zeitpunkt A plus eins bedeutet.
Für eine rüttelfeste Verankerung in der Psychologie sorgte Ulman Lindenberger, Jahrgang 1961, mit einem Psychologiestudium in Berlin und an der Universität von Berkeley in Kalifornien. 1990 promovierte er bei Paul Baltes an der Freien Universität in Berlin. Der berühmte Entwicklungspsychologe und Alternsforscher wurde ein wichtiger Mentor für den jungen Wissenschaftler – und bald schon ein Kollege am Max-Planck-Institut.
Lindenbergers Beiträge zum Konzept des lifespan development umfassen Forschungsarbeiten zur Plastizität von Verhalten und Gehirn mit den Schwerpunkten Gedächtnis, Arbeitsgedächtnis und Sensomotorik sowie multivariate Methoden der Entwicklungsforschung. 2010 erhielt er den Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Auch die Entwicklungspsychologie entwickelt sich weiter. Das klassische Lehrbuch von Rolf Oerter und Leo Montada wurde deshalb immer wieder dem aktuellen Stand der Forschung angepasst. Jetzt haben die Autoren die Verantwortung an eine neue Generation von Wissenschaftlern weitergegeben: Gemeinsam mit seinem Würzburger Kollegen Wolfgang Schneider hat Ulman Lindenberger, Direktor am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, das Standardwerk Entwicklungspsychologie aus dem Beltz-Verlag auf die Zukunft eingestellt.