Ende der 1980er Jahre reiste Harvey Whitehouse in den Regenwald von Papua-Neuguinea. Eigentlich wollte er seine Doktorarbeit über die traditionellen Jagd- und Anbautechniken der Einheimischen schreiben. Stattdessen sprachen sie mit ihm über ihren Glauben. Sie waren überzeugt, dass bald eine neue Ära anbrechen werde, bei der die Toten als weiße Menschen zurückkehren und die modernen Technologien des Westens mit sich bringen würden.
Die Anhänger der Gruppe Pomio Kivung wollten dieses Zeitalter mithilfe von…
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Gruppe Pomio Kivung wollten dieses Zeitalter mithilfe von Ritualen heraufbeschwören: Viele brachten den Toten täglich Opfergaben dar. In einigen Splittergruppen kam es aber auch zu extrem unangenehmen oder schmerzhaften Ritualen. Manche Gruppenmitglieder hielten sich wochenlang eng zusammengepfercht in Hütten auf, andere durchstachen sich die Zunge oder bohrten Knochen durch ihre Haut.
Diese Beobachtungen ließen den Anthropologen von der britischen Universität Oxford nicht mehr los. Statt mit Landwirtschaft und Jagd begann er, sich mit den Hintergründen von Ritualen zu beschäftigen. Aus zahlreichen historischen und ethnografischen Beobachtungen entwickelte Whitehouse eine Theorie, die er Formen der Religiosität (modes of religiosity) nannte.
Er unterscheidet in dieser Theorie zwei Arten von Ritualen. Die eine bezeichnet er als lehrhafte Form (doctrinal mode). Darunter kann man sich Rituale vorstellen, die wenig Erregung hervorrufen, häufig stattfinden und meist größere, zentralisierte Gruppen einschließen – typischerweise etwa Gottesdienste oder gemeinsame Gebete in einer Moschee. Whitehouse stellt diesen Ritualen die imaginistische Form (imaginistic mode) gegenüber. Diese rufen eine stark emotional aufgeladene Erregung hervor, kommen relativ selten vor und lassen sich eher in kleinen, eng zusammenhängenden Gruppen beobachten. „Beispiele dafür sind Rituale, die körperliche Misshandlungen oder schockierende Ereignisse enthalten – etwa erzwungene Selbstverletzungen oder ekelerregende Handlungen“, erläutert der Forscher.
In den vergangenen 20 Jahren hat Whitehouse zahlreiche Daten gesammelt und analysiert, um seine Theorie zu überprüfen. Dabei beschränkte er sich allerdings meist auf beschreibende Einzelfallstudien. Vor kurzem konnte der Wissenschaftler seine Annahmen in einem größeren Umfang testen. Gemeinsam mit seinem Kollegen Quentin Atkinson, der mittlerweile im neuseeländischen Auckland lehrt, wertete Whitehouse 645 religiöse Rituale aus 74 unterschiedlichen Kulturen aus. Diese Rituale fanden die Forscher in den Human Relations Area Files, einer Datenbank, die auch charakteristische Merkmale der Rituale enthält.
Die Ergebnisse stützen tatsächlich Whitehouses Theorie. Wie er vorausgesagt hatte, werden imaginistische Rituale überwiegend von kleineren Gruppen vollzogen. Solche Formen, die eine starke negative Erregung hervorrufen, finden zudem (zeitlich) seltener statt. Weiterhin kommen entsprechende Rituale weniger oft in Gemeinschaften vor, die einer der klassischen Religionen angehören und an einen moralisch urteilenden Gott glauben.
Brutale Initiationsrituale für eine intensive Bindung
Mit schmerzhaften und unangenehmen Ritualen führen sich in vielen Fällen neue Mitglieder in eine Gemeinschaft ein. Ein Beispiel sind die oft brutalen Mutproben, die Studenten an amerikanischen Universitäten bestehen müssen. „Wir nehmen an, dass sich Rituale, die mit Schmerz oder Traumatisierung verbunden sind, stark in das Gedächtnis einprägen“, sagt Whitehouse. „Sie können so ein intensives Gefühl der Bindung an die Gruppe erzeugen.“ Allerdings gibt es auch seltene unangenehme Rituale, die nichts mit Initiationsriten zu tun haben. Manche Feste verlangen beispielsweise, dass die Feiernden über glühende Kohlen laufen oder sich die Haut durchbohren. „Solche intensiven gemeinsamen Erlebnisse haben vermutlich den Zweck, die Zusammengehörigkeit der Gruppe zu stärken“, sagt Atkinson.
Darüber hinaus hat die Art der Rituale möglicherweise auch etwas mit dem Entwicklungsstand einer Gesellschaft zu tun. So beobachteten Whitehouse und Atkinson, dass zeitaufwendige, wenig erregende Rituale vor allem in landwirtschaftlich geprägten Gemeinschaften vorkamen – und seltener in Gruppen, die noch als Jäger und Sammler leben. „Es könnte sein, dass solche ‚lehrhaften‘ Rituale vor allem in weiterentwickelten Gesellschaften von Bedeutung sind“, sagt Whitehouse. „Hier könnten sie eine organisierte Zusammenarbeit fördern, die in Jäger- und Sammlergruppen weniger wichtig ist.“
Welche Rituale in modernen, komplexen Industriegesellschaften am häufigsten vorkommen und welche Rolle sie hier spielen, ist bisher allerdings weniger klar. „Wir vermuten, dass religiöse Rituale hier immer mehr zur Routine werden, stärker nach einem festgelegten Schema ablaufen und insgesamt weniger verbreitet sind“, sagt Whitehouse.
Genauere Antworten erhoffen sich die Forscher von einem umfassenden Forschungsprojekt, das unter der Leitung von Whitehouse von 2011 bis 2016 läuft. Im Zentrum steht die Frage, warum es überhaupt Rituale gibt: Welche Rolle spielen sie bei der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, wie tragen sie zur Entstehung von Konflikten, Kriegen und Terrorismus bei? Um dies herauszufinden, arbeiten Psychologen, Anthropologen, Historiker und Archäologen aus Großbritannien, den USA und Kanada eng zusammen.
Einer der beteiligten Wissenschaftler ist der Doktorand Brian McQuinn. Er durchlief im Rahmen des Projekts seine eigene Mutprobe. Im Juli 2011 reiste er nach Libyen, wo die bewaffnete Revolution gegen den Machthaber Muammar al-Gaddafi gerade in vollem Gange war. Sieben Monate lang lebte er zusammen mit den Rebellen. In dieser Zeit interviewte er mehr als 300 Kämpfer aus 21 Gruppen. Die kleinste davon bestand aus zwölf, die größte aus über 1000 Mitgliedern. Dabei interessierte den Forscher vor allem, wie sich Solidarität und Zusammengehörigkeit in den Rebellengruppen entwickeln. Außerdem wollte er herausfinden, wie Rituale dazu beitragen, dass aus kleinen Gruppen mit der Zeit größere, organisierte Brigaden entstehen.
Gemeinsame negative Erfahrungen schweißen zusammen
Während seiner sieben Monate in Libyen beobachtete McQuinn, dass sich die Mitglieder der ersten, kleinen Rebellengruppen meist noch persönlich kannten. Ihr Zusammenhalt wuchs in dieser Zeit. Er führt das vor allem auf traumatische Erlebnisse und die gemeinsam erlebte Angst während der Kämpfe zurück. „Solche gemeinsamen negativen Erlebnisse wirken sich offenbar ähnlich aus wie stark erregende, schmerzhafte oder traumatische Rituale: Sie erhöhen das Gemeinschaftsgefühl und die Bindung an die Gruppe“, erläutert McQuinn.
Die kleinen Gruppen wuchsen mit der Zeit zu sechs große Brigaden mit jeweils über 750 Kämpfern. Hier entdeckte McQuinn nun genau die Art von Ritualen, die man nach Whitehouses Theorie in großen Gruppen erwarten würde: Der Leiter berief täglich Versammlungen ein, dabei trainierten die Rebellen gemeinsam und wiederholten moralische Verhaltensregeln. Diese Abläufe lassen sich als routinemäßige, relativ wenig erregende Vorgänge beschreiben. „Durch die täglichen Übungen hatten die Menschen das Gefühl: ‚Jeder, der hier trainiert, gehört zu unserer Gruppe‘“, sagt McQuinn.
Die Ergebnisse können aus Sicht der Forscher nicht nur den Sinn von Ritualen erhellen. Die Wissenschaftler hoffen, auch die Entstehung und den Verlauf politischer Konflikte besser zu verstehen: „Unsere Forschung soll dazu beitragen, effektive Strategien für internationale Organisationen zu entwickeln, die bei Konflikten vermitteln oder mit Konfliktparteien in Kontakt stehen.“
Amüsanter und weniger gefährlich ist dagegen die Forschung von Cristine Legare von der University of Texas in Austin (USA). Sie untersucht Rituale, die in Brasilien häufig vorkommen: die sogenannten Simpatias. „Nimm am Tag des Vollmonds die Seite mit den Stellenangeboten aus der Zeitung und falte sie viermal. Lege sie zusammen mit einer kleinen weißen Kerze, um die du Honig und Zimt verteilst, auf den Boden. Stell dir gleichzeitig deine neue, gut bezahlte Arbeit vor.“ So lautet eine Simpatia, die dazu beitragen soll, seinen Traumjob zu finden. Solche Simpatias gibt es in Brasilien zu Dutzenden. Sie sollen helfen, von einer Krankheit geheilt zu werden, negative Gefühle loszuwerden, einen Partner oder gute Freunde zu finden, die Untreue seines Partners zu beseitigen oder ganz allgemein mehr Glück im Leben zu haben.
Ein Gefühl der Kontrolle
Legare und ihre Kollegen interessiert, warum Menschen überhaupt solche Rituale vollziehen – und wann sie sie als besonders wirksam ansehen. „Bisherige Untersuchungen haben gezeigt, dass Rituale vor allem in ungewissen oder riskanten Situationen eingesetzt werden“, sagt Legare. „Wir nehmen deshalb an, dass sie dabei helfen, das Gefühl der Kontrolle über die Situation zurückzugewinnen.“ Dieses Gefühl kann wiederum dazu beitragen, dass sich jemand selbstbewusster und optimistischer fühlt und eher in der Lage ist zu handeln – es ist also wichtig für das psychologische Gleichgewicht.
In zwei Experimenten mit 40 Teilnehmern in Brasilien und 94 Probanden in den USA untersuchte das Team um Legare erstmals, wie sich ein Gefühl von Zufälligkeit auf die empfundene Wirksamkeit eines Rituals auswirkt. Dazu verwendeten die Forscher einen Test mit Wörtern, der entweder einen Eindruck von Zufälligkeit, ein negatives oder ein neutrales Gefühl hervorrufen sollte. Anschließend beurteilten die Teilnehmer sechs Simpatias, die für die Studie entwickelt worden waren und echten Simpatias ähnelten. Tatsächlich schätzten die Teilnehmer in der Zufallsbedingung die Simpatias als deutlich effektiver ein als die Probanden in der neutralen oder der negativen Bedingung. „Rituale könnten also eine Möglichkeit sein, das verlorene Gefühl der Kontrolle wiederzugewinnen“, folgert Legare.
Doch wann glauben Menschen, dass ein Ritual wirkt – obwohl es objektiv gesehen natürlich keine kausalen Wirkungen hat? Um dies herauszufinden, überlegten sich Legare und ihr Team eine weitere Studie, in der sie verschiedene Aspekte der Simpatias systematisch veränderten. „Unsere Hypothese war, dass intuitive Annahmen über Ursache und Wirkung, die im Alltag eine Rolle spielen, auch für die Wirksamkeit von Ritualen gelten“, erklärt Legare.
In vier Teilstudien mit insgesamt 162 Teilnehmern aus Brasilien und 68 aus den USA sollten die Probanden die Effektivität verschiedener experimenteller Simpatias beurteilen. „Die Auswertung zeigt, dass Simpatias als effektiver wahrgenommen werden, wenn sie viele Schritte und viele Wiederholungen enthalten“, berichtet Legare. „Außerdem werden sie als besonders wirksam angesehen, wenn das Vorgehen genau festgelegt ist.“ Ähnliche Zusammenhänge gelten auch im Alltag. Zum Beispiel ist die Wahrscheinlichkeit, eine zufriedenstellende Arbeit zu finden, in der Regel höher, wenn man viele Stellenangebote durchsucht. Und die Chancen, eine Krankheit auszukurieren, sind höher, wenn ein Medikament nicht nur einmal, sondern mehrmals und zu festgelegten Zeitpunkten eingenommen wird.
Synchrone Bewegung bindet
Darüber hinaus wurden auch Simpatias, die ein religiöses Symbol enthielten, als besonders wirksam eingeschätzt – vor allem von Teilnehmern, die an die Simpatias glaubten. „Dies spricht dafür, dass übernatürliche Elemente die wahrgenommene Wirksamkeit erhöhen“, sagt Legare. Dagegen hatte die Vertrautheit mit den Ritualen keinen Einfluss: Die experimentellen Simpatias wurden von Teilnehmern aus den USA – wo solche Rituale relativ unbekannt sind – als genauso wirksam wahrgenommen wie von den brasilianischen Probanden.
Auch Ryan McKay von der Royal Holloway University in London beschäftigt sich im Rahmen des Oxforder Forschungsprojekts mit der Frage, welchen Einfluss verschiedene Bestandteile von Ritualen haben. Eine wichtige Komponente sind synchrone Bewegungen. Das haben frühere Untersuchungen von Scott Wiltermuth an der amerikanischen Stanford University gezeigt. Das Marschieren von Soldaten, synchrones Tanzen oder gemeinsames Singen seien ein wichtiger Wirkfaktor von Ritualen. „Diese Abläufe erzeugen vermutlich Vertrauen und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und erhöhen die Zusammenarbeit in der Gruppe“, sagt Wiltermuth. Dabei sei es nicht notwendig, dass die Teilnehmer bei ihrem synchronen Handeln positive Gefühle erleben.
McKay selbst fand in einer Untersuchung heraus, dass das Ritual der Beichte – also das Zugeben der eigenen Sünden, aber auch das Lossprechen davon – ein effektives Mittel ist, um jemanden an die katholische Kirche zu binden. So waren Probanden, die sich vorgestellt hatten, zur Beichte zu gehen, bei einer Spende an die Kirche großzügiger als Versuchsteilnehmer, die sich nur an ihre Sünden erinnert hatten. Hierbei könnten verschiedene psychologische Mechanismen eine Rolle spielen. „Vielleicht ruft die Erinnerung an die eigenen Sünden Schuldgefühle hervor, die Befreiung davon erzeugt dann auch positive Gefühle“, sagt McKay. „Beides zusammen könnte helfendes Verhalten und die Bindung an die Kirche fördern.“
Rituale sind heute genauso wichtig wie früher
Ob ein eher einschüchterndes Ritual wie die katholische Beichte sinnvoll ist, darüber lässt sich streiten. Problematisch wird es jedoch, wenn Rituale dazu beitragen, die Meinungen und Wertvorstellungen einer Gruppe in „heilige Werte“ zu verwandeln, über die nicht mehr diskutiert oder verhandelt werden kann. So halten es viele Israelis für ein unantastbares Recht, die West Bank zu besetzen, während viele Palästinenser es als ihr ebenso heiliges Recht ansehen, in ihre Heimatorte in der West Bank zurückzukehren.
„Auf diese Weise entstehen Konflikte, die kaum mehr zu lösen sind“, sagt Scott Atran, Direktor der anthropologischen Forschung am Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) in Paris und Berater von Whitehouses Projekt. Seine Untersuchungen haben ergeben, dass finanzielle Anreize, die einen Kompromiss herbeiführen sollen, das Problem oft noch verschärfen – denn sie tragen dazu bei, dass sich die unantastbaren Werte weiter verfestigen.
„Alles in allem zeigt unsere Forschung, dass Rituale heute genauso wichtig sind wie in früheren Zeiten“, sagt Whitehouse. Dies betrifft nicht unbedingt religiöse Rituale – die in manchen Kulturen deutlich seltener werden –, sondern alle Arten von Ritualen, wie sie von Einzelnen oder in Gruppen vollzogen werden. „Viele Menschen denken, dass Rituale etwas Exotisches, ja sogar Eigenartiges sind und deshalb in unserer modernen, rational geprägten Zeit allmählich aussterben würden“, so der Forscher: „Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein.“
Quellen
Harvey Whitehouse: Modes of religiosity: A cognitive theory of religious transmission. Altamira Press, Lanham 2004
Quentin D. Atkinson, Harvey Whitehouse: The cultural morphospace of ritual form. Examining modes of religiosity cross-culturally. Evolution and Human Behavior, 32, 2011, 50–62
Brian McQuinn: After the fall: Libya‘s evolving armed groups. Small Arms Survey Working Paper, 12, 2012
Cristine H. Legare, André L. Souza: Evaluating ritual efficiency: Evidence from the supernatural. Cognition, 124/1, 2012, 1–15
Ryan McKay, Jenna Herold, Harvey Whitehouse: Catholic guilt? Recall of confession promotes prosocial behavior. Religion, Brain & Behavior, 2012.DOI: 10.1080/2153599X.2012.739410