„Der Zufall ist nicht blind, er folgt ausgetretenen Pfaden“

Warum geschieht etwas so und nicht anders? Soziologe Armin Nassehi erklärt, weshalb es sinnvoll sein kann, stets mit dem Unerwarteten zu rechnen.

Die Illustration zeigt eine Frau, die mit einer Leiter, einen sehr großen Spielwürfel hochsteigt in eine Öffnung
Werfen wir den Würfel ein paar mal, kann es sein, dass keine Sechs erscheint. Trotzdem: Je öfter wir würfeln, umso wahrscheinlicher wird auch die Sechs. © Lea Berndörfer für Psychologie Heute

Herr Nassehi, es gibt die Redewendung vom blinden Zufall. Wie sehen Sie das, ist der Zufall wirklich so „blind?

Da wäre zunächst wichtig zu überlegen, was wir unter Zufall verstehen: Ist es eine Notwendigkeit, ein Antrieb, eine Bestimmung oder Fügung? Wenn wir jemandem die Etappen unseres Lebens erzählen, stolpern wir sicher über einige Zufälle. Bei mir war es zum Beispiel so: Das Studienfach, mit dem ich begonnen habe, war das Ergebnis einer zufälligen Begegnung mit einem anderen Studenten. Und die…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

mit dem ich begonnen habe, war das Ergebnis einer zufälligen Begegnung mit einem anderen Studenten. Und die Tatsache, dass ich damals meine spätere Frau in einer bestimmten Situation kennengelernt habe, war wirklich dem Zufall geschuldet, denn es hätte auch anders sein können.

Wäre Ihr Leben anders verlaufen, wenn diese beiden Ereignisse nicht zufällig stattgefunden hätten?

Vielleicht. Aber blind waren diese Zufälle keineswegs. Der Mann, dem ich nach meinem Abitur begegnete, und die Frau, die später meine Frau werden sollte, sind erwartbare Begegnungen gewesen: Dass ich ausgerechnet mit diesem Studenten zusammentraf, lag daran, dass wir beide uns im gleichen sozialen Milieu aufgehalten haben. Das trifft ebenso auf meine Frau zu. Sie hat einen ähnlichen Werdegang wie ich: Abitur, akademischer Abschluss und gleichartige Interessen. Es waren zwar Zufälle, aber die waren alles andere als blind. Solche gibt es nur in mathematischen Experimenten, etwa bei einem perfekten Laplace-Würfel.

Was ist das?

Ein Laplace-Würfel funktioniert ähnlich wie ein handelsüblicher Spielzeugwürfel, bei dem jede Zahl dieselbe Chance hat zu erscheinen. Wenn Sie den Würfel nur ein paar Mal werfen, könnte es sein, dass die Sechs nicht so oft oder gar nicht erscheint. Aber je öfter Sie es versuchen, desto wahrscheinlicher ist es, eine Sechs zu bekommen. Das Konzept des Laplace-Würfels dient als theoretisches Modell zur Illustration von Wahrscheinlichkeiten.

Wie selbstbestimmt ist denn unser Dasein angesichts des Unerwarteten?

So wie der Zufall zumeist nicht blind ist, so ist unsere Selbstbestimmung nicht absolut. Alles, was wir tun, geschieht in vorstrukturierten Situationen – basierend auf all unseren Erfahrungen, sozialen Ressourcen und Gewohnheiten. Es erfolgt auf ziemlich ausgetretenen Pfaden. Insofern ist das Unerwartete eingeschränkt.

Warum überrascht uns das Unerwartete dann trotzdem so oft?

Unsere Entscheidungen und Handlungen sind stark von unseren praktischen Erfahrungen beeinflusst. Viele Dinge, die wir tun, geschehen automatisch, ohne dass wir bewusst darüber nachdenken. Und in unserer Umgebung sind bestimmte Verhaltensweisen oder Ereignisse absehbar, weil unsere Welt recht geordnet ist. Zum Beispiel befolgen wir oft Routinen oder Regeln, die unser Verhalten berechenbar machen. Das Unerwartete überrascht uns, weil wir die Wahrscheinlichkeit von erwarteten Ereignissen eigentlich gut einschätzen können – auch wenn uns das nicht immer bewusst ist.

Warum lassen wir uns oft von Verzerrungen täuschen, während wir bei vorhersehbaren Ereignissen häufig richtig liegen?

Ist es wirklich so, dass wir bei zu erwartenden Ereignissen öfter richtig liegen, ähnlich wie bei den Verzerrungen, von denen Sie sprechen? Diese Verzerrungen treten auf, weil wir die Logik unserer Welt ziemlich verinnerlicht haben, was die Wahrscheinlichkeit vorhersehbarer Ereignisse erhöht.

Wie können wir erkennen, wann wir bewusst Entscheidungen treffen und wann wir eher automatisch handeln?

Im Alltag können wir das durch Selbstbeobachtung herausfinden. Dabei sollten wir nicht nur auf große und wichtige Entscheidungen achten, sondern auch auf alltägliche Handlungen. Viele davon geschehen automatisch aufgrund von Gewohnheiten, typischen Situationen, Wiederholungen und dem Nachahmen anderer.

Oft geschieht mehr mit uns, als wir denken, besonders bei unerwarteten Ereignissen, die durch unsere finanzielle Lage, unsere Denkfähigkeiten oder unseren Gesundheitszustand beeinflusst werden können. Was wir für eine bewusste Entscheidung halten, wird oft von vielen anderen Faktoren geprägt. Zum Beispiel ist es wichtig, wie viel Geld wir haben, wenn wir etwas kaufen möchten. Unsere Denkfähigkeit und unsere Gesundheit beeinflussen zudem, wie wir schwierige Situationen meistern.

Wie können wir also sicherstellen, dass wir bewusste Entscheidungen treffen und nicht nur automatisch handeln?

Für jemanden in einer schwierigen Situation können unerwartete Umstände beängstigender sein als für jemanden mit ausreichend finanziellen Mitteln, um neue Dinge auszuprobieren. Letztere können möglicherweise Sicherheitsmaßnahmen ergreifen, um Risiken zu minimieren. Zum Beispiel suchen manche Bergsteiger den Nervenkitzel, wenn sie einen 8000-Meter-Berg besteigen wollen, und tun dies unter professioneller Begleitung, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Sie erwarten, dass die Agentur dafür sorgt, dass das Erlebnis nicht zu gefährlich wird, und bezahlen für die Betreuung entsprechend.

Sie sagen, dass wir einen Muskel für das Unerwartete entwickeln sollten, um insgesamt resilienter zu werden. Wie kann das gehen?

Unerwartetes ist wichtig für unser Wachstum und Lernen. In der Kybernetik reden wir von requisite variety, was bedeutet: Je vielfältiger ein System ist, desto besser kann es sich an verschiedene Situationen anpassen. Das heißt: Je komplexer und unvorhersehbarer die Welt ist, desto wichtiger ist es, flexibel zu sein und sich anzupassen. Es geht nicht darum, ob die Welt schwierig ist, sondern ob wir bereit sind, mit Herausforderungen umzugehen. Wer sich vorstellen kann, dass Dinge anders laufen als erwartet, kann besser damit umgehen, wenn es passiert.

Kann die Akzeptanz des Zufalls helfen, in Krisenzeiten besser mit gesellschaftlicher Instabilität umzugehen?

Gerade in schwierigen Zeiten ist das wichtig, aber gerade dann auch besonders schwierig. Wenn wir uns unsicher fühlen, wollen wir oft alles kontrollieren und sind sehr nervös, wenn sich etwas ändert. In solchen Zeiten ist es schwer, einfach dem Zufall zu vertrauen. Während der Pandemie haben wir versucht, die Kontrolle über eine absolute Ausnahmesituation zurückzugewinnen. In extrem herausfordernden Situationen kann es unrealistisch sein, auf den Zufall zu setzen.

Wir denken an jemanden – und kurz darauf ruft derjenige uns an. Zufall? Oder lässt sich das auch anders erklären?

Vielleicht war der Anruf sowieso wahrscheinlich, und es handelt sich um eine Koinzidenz, also um ein Zusammentreffen, dass er genau dann eintrifft, wenn wir an die Person denken. Es ist ebenso möglich, dass wir uns später nur daran erinnern, zu einem Zeitpunkt an den Anrufer gedacht zu haben, ohne dass es tatsächlich so war. Unser Gehirn neigt dazu, Muster und Zusammenhänge zu erkennen, selbst wenn sie nicht wirklich vorhanden sind.

Wie beeinflussen Erwartungen und Aufmerksamkeitsmuster unsere Realitätswahrnehmung?

Ein Beispiel: Wir reden heute über irgendetwas, nehmen wir rote SUVs. Die sind wohl recht selten. Haben wir uns darüber intensiv ausgetauscht, sehen wir in den nächsten Tagen womöglich auf einmal mehrere rote SUVs, die uns vorher gar nicht aufgefallen wären. Diese plötzliche Wahrnehmungsänderung entsteht durch die Art und Weise, wie unser Bewusstsein Aufmerksamkeit verteilt. Wir können daran erkennen, dass unsere Wahrnehmung nicht nur das passive Erfassen der Realität ist, sondern eine aktive Leistung, die von unseren eigenen Erwartungen beeinflusst wird. In diesen Zusammenhang gehört, dass Wahrnehmung nur durch Selektivität funktioniert, also indem wir ausklammern, was nicht in ein stimmiges oder erwartetes Bild passt.

Ist es nicht gerade andersherum: Uns fällt besonders auf, was nicht in das Muster passt, und die gewohnten Muster nehmen wir gar nicht aktiv wahr?

Es stimmt, dass Unerwartetes einen höheren Informationswert hat und deshalb besonders wahrgenommen wird. Das Beispiel mit den roten SUVs bestätigt das ja, doch das funktioniert nur bei seltenen Farben dieser Automobile. Wenn man über schwarze SUVs gesprochen hätte, würde man wahrscheinlich nicht durch deren Wahrnehmung überrascht, weil man die ohnehin an jeder Straßenecke sieht.

In Bezug auf Krankheiten wie Krebs sehen einige Menschen dies als Schicksal an, während andere es als Vorherbestimmung betrachten. Wie ist Ihre Sichtweise?

Schicksal und Vorherbestimmung werden oft als Möglichkeiten betrachtet, Krankheit zu verstehen und zu verarbeiten. Es hängt letztendlich davon ab, welche Perspektive für den Einzelnen besser geeignet ist. Beide Konzepte könnten dazu beitragen, das Unerwartete zu erklären. Wissenschaftlich betrachtet wissen wir, dass beides zutrifft: Krebs hat einen genetischen Anteil an Vorherbestimmung, aber es gibt auch eine Schicksalshaftigkeit, da eine genetische Vorherbestimmung nicht zwangsläufig zum Ausbruch der Krankheit führt.

Kann man das letztendlich auf alles anwenden, was uns widerfährt?

Ja, die soziale Welt ist oft strukturierter und vorhersehbarer, als wir denken. Das kann einerseits entmutigend sein, weil es so aussieht, als hätten wir wenig Einfluss. Andererseits ist es beruhigend, weil komplette Unvorhersehbarkeit überwältigend wäre. Trotzdem geschieht nichts nur aus Notwendigkeit.

Deshalb suchen wir manchmal nach Schuld, besonders bei Krankheiten wie Krebs. Schuld kann belastend sein, bietet aber eine Erklärung. Überhaupt ist die Vorstellung, dass Leid, Schmerz, Tod durch eine bloß zufällige Verkettung unglücklicher Umstände entstehen, kaum erklärbar. Das Be­drohliche daran wäre, dass es völlig unkontrolliert immer wieder und jederzeit passieren kann. Da hilft die Zurechnung von Schuld zu verstehen, warum etwas passiert ist.

Warum ertragen wir es nicht, manches einfach offenzulassen, warum suchen wir immer für alles eine Erklärung?

Unser Alltag ist geprägt von Kultur, Gewohnheiten, Routinen und Weltbildern, die dazu dienen, Unbeständigkeit zu reduzieren. Unsere Lebensweise soll uns ein Gefühl der Sicherheit geben und eine gewisse Ordnung schaffen. Gleichzeitig erzeugt sie jedoch den Eindruck, dass wir alles unter Kontrolle haben, auch wenn das nicht immer der Fall ist. Es erfordert eine gewisse Voraussetzung, auf diese Kontrollillusion zu verzichten. Nur wer sich einigermaßen sicher fühlt, kann sich von dem Bedürfnis nach vollständiger Regulierung lösen.

Kann ich das üben? Je häufiger ich etwas dem Zufall überlasse, desto entspannter gehe ich damit um und umso weniger Kontrollbedürfnis habe ich?

So einfach ist das nicht, denn es gilt auch umgekehrt: Je entspannter ich sein kann, desto eher werde ich etwas dem Zufall überlassen können. Oder anders gesagt: Es ist eine Frage des Könnens – nicht nur finanziell, sondern auch sozial oder kognitiv. Was man üben kann, ist der Umgang mit Unsicherheiten. Dies wird oft als Ambiguitätstoleranz bezeichnet, also die Fähigkeit, es auszuhalten, dass viele Dinge auch anders sein könnten.

Wenn ich einen Fehler mache oder mich gewaltig irre in einer Angelegenheit, ist das Zufall oder war es absehbar?

Es ist schwierig, eine genaue Antwort darauf zu finden, aber wir alle kennen das Phänomen, dass wir ähnliche Fehler wiederholen und uns irgendwie absehbar irren. Fehler sind oft vorhersehbar, und Dinge passieren nicht immer so, wie wir es erwarten. Außerdem dauert es oft lange, bis wir etwas Neues lernen, und es ist schwer, einmal Gelerntes wieder zu vergessen.

Finden, was man nicht gesucht hat – wie Christoph Kolumbus Amerika entdeckte, das ist nur ein Beispiel für viele Entdeckungen in der Geschichte. Was wäre, wenn es den Zufall nicht gäbe?

Die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus war einerseits Zufall, andererseits aber auch keiner. Er suchte Amerika aus durchaus stichhaltigen Gründen, aber er konnte nicht ahnen, dass seine Reise ihn an einen anderen Ort führen würde. Das ist fast eine Metapher dafür, wie wir die Welt stets innerhalb unserer eigenen Erfahrungen berechnen, in denen Unstimmigkeiten, Unberechenbarkeiten, Freiheit und eben Zufälle vorkommen. In einer Welt ohne Zufall würde nichts Interessantes geschehen.

Die Neigung, versteckte Muster zu suchen, führt bei manchen auch dazu, dass sie Wahrsagerinnen aufsuchen oder Horoskope lesen. Was denken Sie darüber?

Na ja, oder diese Menschen suchen die Sozialforschung auf! Wahrsager und Horoskope bieten Erklärungen für das Unerwartete oder das immer Gleiche. Aber die Sozialforschung geht tiefer: Sie untersucht Menschen, die die Möglichkeit haben, anders zu handeln als bisher. Sie könnten zum Beispiel anders wählen gehen oder sich anders verhalten. In der Forschung entdeckt man erstaunliche Verhaltensmuster bei bestimmten Gruppen. Die Vorhersage eines Bundestagswahlergebnisses, basierend auf einer Umfrage unter etwa 2000 Personen, ist kein Zufall, sondern das Ergebnis eines gut durchdachten, aber nicht vorherbestimmten Prozesses.

Jüngere Menschen fordern häufig das Schicksal heraus, während Ältere eher an Vertrautem und Bewährtem festhalten, Unsicherheiten meiden und auf Kontrollierbares setzen. Verändert sich unsere Einstellung zum Zufall im Laufe der Jahre?

Vielleicht ändert sich mit den Jahren nicht zwangsläufig unsere Einstellung zum Zufall, aber wir neigen dazu, an schwer zu ändernden Gewohnheiten festzuhalten. Dies trifft jedoch nicht auf alle zu: In späteren Lebensphasen können Neuanfänge für einige wahrscheinlicher werden, insbesondere für diejenigen, die es sich leisten können. Dies zeigt sich deutlich im Konsumverhalten, den entsprechenden Lebensstilen, der Mobilität und in Bildungsinteressen älterer Menschen, die über die nötige Gesundheit sowie finanzielle und organisatorische Möglichkeiten verfügen. Es wird deutlich, dass Abweichungen und Unsicherheiten oft nur dann möglich sind, wenn eine gewisse Grundstabilität vorhanden ist.

Kann man dem Zufall eine Chance geben und die Wahrscheinlichkeit für produktive Zufälle erhöhen?

Das law of requisite variety, also das „Gesetz der erforderlichen Vielfalt“ besagt, dass wir besser mit unterschiedlichen Situationen umgehen können, wenn wir viele verschiedene Möglichkeiten haben. Wenn wir nicht offen für neue Ideen sind und unsere Chancen nicht nutzen, verpassen wir etwas Wichtiges. Das gilt auch für die Evolution, sie gibt dem Zufall eine Chance und ist dabei jedoch nicht blind! Sie verwirft, was als Abweichung und Variation nicht passt, und nimmt auf, was sich bewährt. Die Natur nutzt den Zufall, um Veränderungen zu ermöglichen, doch nur die Dinge, die funktionieren, bleiben bestehen. Also, wenn wir manchmal wollen, dass alles gleich bleibt, ändert sich die Welt trotzdem. Es ist wichtig zu akzeptieren, dass Veränderungen unausweichlich sind. Indem wir dem Zufall Raum geben, können wir uns weiterentwickeln.

Kybernetik

Den Begriff Kybernetik prägte der Mathematiker Norbert Wiener in den 1940er Jahren. Heute findet man die englische Form davon vor allem bei digitalen Themen wieder (zum Beispiel Cyberspace, Cybermobbing). Wiener sagt, dass Menschen und Tiere genauso wie Computer und Maschinen Systeme sind, die Informationen verarbeiten und sich daran anpassen können.

Armin Nassehi ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er forscht zur Theorie moderner ­Gesellschaften sowie zu medizin- und wissenssoziologischen ­Themen. Er ist einer der Herausgeber des Kursbuchs 213 - ­Alles kein Zufall (2023).

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2024: Bin ich gestresst oder habe ich ADHS?