Im Fokus: Bewegungsmangel bei Kindern und Jugendlichen

Kaum noch Zeit zum Toben: Wie zu viel Sitzen die psychische Entwicklung von Kindern beeinflusst, erklärt Fachärztin Christine Joisten im Gespräch.

Kinder spielen auf einer Wiese Fußball
Ab nach draußen und dem Ball nachjagen. Freies Toben und Bewegung fördern die gesunde psychische Entwicklung von Kindern. © Rob and Julia Campbell/Stocksy

Frau Joisten, es heißt oft, dass Kinder und Jugendliche ständig vor dem Bildschirm hängen und sich viel zu wenig bewegen. Ist es wirklich so schlimm?

Um zu beurteilen, was zu wenig ist, muss man zunächst schauen, wo man die Grenze für ausreichend Bewegung zieht. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt, dass Kinder sich mindestens eine Stunde am Tag bewegen sollten. Das machen laut der KiGGS-Studie, die vom Robert-Koch-Institut durchgeführt wird, in Deutschland nur 23 Prozent der Mädchen und 30 Prozent der…

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vom Robert-Koch-Institut durchgeführt wird, in Deutschland nur 23 Prozent der Mädchen und 30 Prozent der Jungen im Alter von drei bis siebzehn Jahren. Dabei zeigt sich: Je älter die Kinder werden, desto weniger bewegen sie sich. Während im Kindergartenalter noch etwa 50 Prozent mindestens eine Stunde am Tag körperlich aktiv sind, ist es bei den Elf- bis Siebzehnjährigen nur noch jeder Fünfte. Durch die Coronapandemie wurde der Trend noch deutlich verschlechtert.

Drei Viertel aller jungen Menschen bewegen sich nicht einmal 60 Minuten am Tag?

Ja. Und Bewegung heißt nicht mal unbedingt Sport, auch Gehen, Radfahren, das Klettern auf Bäume und das Spielen im Freien zählen als körperliche Aktivität. In Deutschland haben wir in einer Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nationale Empfehlungen für Bewegung erarbeitet. Wir raten auf Basis der Daten hierzulande täglich sogar 180 Minuten für Vier- bis Sechsjährige und 90 Minuten für Sechs- bis Achtzehnjährige. Mindestens! Untersuchungen zeigen, dass Kinder sich in den 1970er Jahren etwa drei bis vier Stunden am Tag bewegt haben.

Gilt also immer: Je mehr sich die Kinder ­bewegen, desto besser?

Ja, sofern sie keine gesundheitlichen Einschränkungen haben, definitiv. Eigentlich haben Kinder ein gutes Gefühl dafür, sie wollen sich viel bewegen. Das Wichtigste ist, dass wir als Eltern darauf achten, wann ein Kind sich bewegen will, um dann auch die Freiräume dafür zu schaffen. Das erlebe ich gerade wieder sehr eindrücklich bei dem Projekt frühstArt, welches sich an Kindergartenkinder mit Übergewicht richtet. Wenn man ihnen den Raum gibt, rennen sie begeistert herum und wollen sich bewegen. Wir sehen dort aber auch, dass sogar schon Kinder im Kitaalter aufgrund ihres Übergewichts gemobbt werden. Etwa 15 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland sind übergewichtig, das sind mehr als zwei Millionen junge Menschen.

Woran liegt es, dass Kinder immer weniger körperlich aktiv sind?

Zum einen finden sie heute draußen kaum noch jemanden zum Spielen. Die Familienstrukturen haben sich verändert, meist gibt es weniger Geschwister, und die Kinder sind heute sehr stark verplant, sie haben kaum noch Zeit zum freien Spielen. Außerdem lädt die Draußenwelt auch nicht unbedingt zur Bewegung ein. Es gibt zu wenig Räume, in denen Kinder und Jugendliche sich frei bewegen, spielen, rennen und toben können.

Und was natürlich extrem zugenommen hat, ist der Konsum von Tablets, Smartphones und anderen audiovisuellen Medien. Das ist für den Körper und den Geist ein echter Stress. Wenn im Restaurant die Kinder Tablets schon in den Buggy gereicht bekommen, wenn sie vor dem Fernseher oder Smartphone geparkt werden, ist das fatal. Sie wachsen von klein auf in diese sitzende Gesellschaft hinein. Viele der Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern haben sicherlich mit dieser ständigen audiovisuellen Überreizung und mangelnden Bewegung zu tun.

Was empfehlen Sie stattdessen?

Wir von der Arbeitsgruppe „Bewegungs­förderung im Alltag“ empfehlen für Deutschland, dass bei den Kindern, die jünger als drei Jahre sind, die vermeidbare sitzende Zeit null Minuten betragen sollte. Das heißt: überhaupt keine Medienzeit. Bei den älteren Kindern und Jugendlichen ist es wichtig, dass sie Medienkompetenz lernen. Die digitalen Medien gehören zu unserem Leben dazu und sie sind auch für vieles wichtig, aber ihr Konsum braucht Grenzen. Bewegung kann eine Alternative dazu sein. Bei körperlicher Aktivität lernt man die Welt ganz anders kennen, als wenn man nur auf einen Bildschirm schaut.

Was passiert denn eigentlich im Gehirn, wenn man sich bewegt?

Bewegung führt zu erhöhter Durchblutung und hat auch einen Einfluss auf die Botenstoffe im Gehirn; ganz besonders Serotonin und Dopamin werden ausgeschüttet, die als Glückshormone bekannt sind. Dopamin aktiviert das Belohnungssystem und ist als innerer Antreiber bekannt. Serotonin ist das Wohlfühlhormon, das Angstgefühle reduziert und die Stimmung ausgleicht. Zudem scheint körperliche Aktivität sich auch positiv auf die Bildung von Synapsen und ihre Vernetzung im Gehirn auszuwirken. Wenn Sie sich vorstellen: Sie hängen im Baum, den Ast in den Kniekehlen, und sehen die Welt mal von unten nach oben, dann erleben Sie eine andere Art von Reiz, und dieser führt natürlich zu einem anderen Schaltmuster im Gehirn.

Deshalb ist es nicht nur für die motorische, sondern auch für die geistige Entwicklung so wichtig, dass Kinder viel rennen, toben, klettern?

Ja, und nicht nur das. Körperliche Aktivität spielt eine zentrale Rolle für die gesamte gesunde Entwicklung, also körperlich, psychosozial, emotional und kognitiv. Ich glaube, es ist uns als Gesellschaft nicht wirklich bewusst, welche riesige und umfassende Bedeutung Bewegung für die gesamte Entwicklung von Kindern hat, auch für epigenetische Prozesse, also die Interaktion zwischen Umwelt und Genen.

Was übersehen wir denn?

Meistens wird Bewegungsmangel nur mit motorischen Defiziten verknüpft, also dass man weniger weit hüpfen oder nicht gut balancieren kann. Oder Eltern bekommen Angst, dass ihre Kinder übergewichtig werden und Folgeerkrankungen entwickeln. Das sind auch wichtige Themen, dabei wird aber die Bedeutung für die mentale Gesundheit zu wenig berücksichtigt. Kinder müssen sich viel bewegen, um Selbstwirksamkeit zu erfahren. Körperliche Aktivität ist sehr wichtig für die Bildung unserer gesamten Persönlichkeit.

Was bedeutet das konkret?

Nehmen Sie zum Beispiel das Prinzip von Trial and Error: Nur wenn ich hinfalle, lerne ich, auch wieder aufzustehen. Ich übe einen Purzelbaum, anfangs klappt es nicht, dann probiere ich es noch einmal und noch einmal und merke ganz unmittelbar, dass ich besser werde. Diese Leistungsbereitschaft ist sehr wichtig für die psychische Gesundheit – also nicht in einem Sinne von Leistungssportbereitschaft, sondern zu lernen, Lösungen zu finden, auch mit Niederlagen umgehen zu können sowie Selbstvertrauen und eine Frustrations­toleranz zu entwickeln. Diese Aspekte greifen alle ineinander. Wenn Kinder zu behütet aufwachsen, sich also nicht frei bewegen können, immer nur gewinnen müssen, können sie das alles nicht lernen.

Ist Bewegung denn ein Allheilmittel oder kann sie auch zu viel werden?

Ich glaube, das ist eine Frage der Haltung, ob der Spaß im Vordergrund steht. Wenn ich als Elternteil zu ehrgeizig bin und zu viel von meinem Kind erwarte, kann der Druck natürlich stark werden. Man sollte darauf achten, wie es dem Kind geht, und es nicht drillen. Im Leistungssport sollten Eltern, Trainerinnen, Trainer und möglicherweise betreuende Kinder- und Jugendärzte und -ärztinnen die Kinder wachsam im Blick behalten. Und sich fragen: Wie geht es ihnen, was möchte ich für sie? Denn manchmal steckt dahinter doch eher das eigene Ziel der Eltern.

Manche Kinder möchten ja in einem Verein trainieren, werden aber nicht aufgenommen, weil sie nicht sportlich genug sind.

Das ist ein großes Problem. Viele Vereinsangebote werden spätestens ab dem dritten Schuljahr sehr leistungsorientiert. Kinder, die einen schlechten Tag haben oder nicht zu den leistungsstärkeren gehören, werden dann nicht auf den Platz geschickt. Nicht das Dabeisein und das Mitmachen stehen so im Vordergrund, sondern die Leistung. Kinder, die zum Beispiel übergewichtig, eingeschränkt, chronisch krank oder einfach nicht sehr fit sind, haben oft nur wenig Möglichkeiten, in einen Verein aufgenommen zu werden. Dabei wäre es gerade für ihre Entwicklung besonders wichtig.

Es gibt Kinder, die begeistert Sport treiben, und wenn sie in die Pubertät kommen, hören sie mit allem auf. Wieso?

Teilweise liegt das an den Peers. Wenn die anderen Gleichaltrigen keinen Sport treiben, ist der Verein vielleicht nicht mehr angesagt. Es kann aber auch an der Entwicklungsphase liegen und dass man nicht so richtig weiß: Was ist eigentlich los mit mir? Es kommt vor, dass Kinder im Sport super waren und in der Pubertät sind sie plötzlich motorisch nicht mehr so gut und haben dann natürlich auch weniger Lust darauf. Es ist wichtig zu wissen, dass das eine Phase ist, in der nicht nur die Hormone verrücktspielen, sondern das gesamte Wachstum durcheinandergerät, Längen- und Breitenwachstum nicht so richtig zueinander passen.

Wie sollten Familien damit umgehen?

Ich würde mir wünschen, dass wir solche Aspekte mehr im Blick behalten, weil es nicht sofort bedeutet, dass die Jugendlichen unmotiviert sind oder nichts mehr können. Darüber kann man dann auch mit dem Jugendlichen sprechen.

Studien zeigen, dass Kinder aus finanziell ärmeren Haushalten ein höheres Risiko für Inaktivität haben. Woran liegt das?

Meine Arbeitsgruppe geht mit Projekten explizit in Brennpunktviertel und wir erleben dort häufig, dass Familien, die in prekären Lebenslagen sind, sich nicht so stark um Sportvereine oder Bewegungsangebote kümmern, weil sie mit existenziellen Fragen beschäftigt sind. Außerdem ist der Skaterpark oder der Spielplatz in dem Viertel vielleicht vermüllt und weniger gepflegt. Manchmal haben die Eltern dann Sorgen, ihre Kinder rauszuschicken, weil sie die Umgebung nicht als sicher wahrnehmen. Ich würde mir wünschen, dass die politisch Verantwortlichen schauen, wie wir diese Stadtteile lebenswerter und bewegungsfreudiger gestalten können. Dafür ist es immer wichtig, die Menschen vor Ort partizipativ einzubinden. Das betrifft jedoch nicht nur Brennpunktviertel.

Stadtplanung sollte also immer mitdenken, wie öffentliche Räume bewegungsfreundlicher gestaltet werden?

Ja, unbedingt. Also: Wie sehen die Lebensumfelder aus? Gibt es ausreichend Grünflächen? Sind die Radwege und Bürgersteige sicher? Können Kinder mit dem Fahrrad zur Schule fahren? Dahinter würden städtebauliche Maßnahmen stecken, die tatsächlich dann auch wieder gut für das Klima sind und sich sehr gut in die aktuell diskutierten Hitzepläne integrieren lassen.

Wie können denn die Eltern ihre Kinder motivieren, sich mehr zu bewegen?

Eltern sind Vorbilder. Wenn uns Bewegung wichtig ist, ahmen unsere Kinder uns nach. Und je kleiner sie sind, desto mehr sind sie darauf angewiesen, dass wir als Eltern ihnen Bewegung ermöglichen, sie im Verein anmelden, zum Sport fahren oder mit ihnen nach draußen gehen. Wichtig ist auch, dass Eltern ihre Kinder nicht ständig zum Sitzenbleiben ermahnen und sie vielleicht sogar vor dem Bildschirm parken. Gerade bei Letzterem ist das Grenzensetzen von immenser Bedeutung.

Zudem sollten sie ihre Kinder mit all ihren Neigungen und Fähigkeiten in den Blick nehmen, um sie in dem zu unterstützen, was ihnen – auch im Sport – liegt. Sie sollten die intrinsische Motivation und Selbstwirksamkeit von Kindern und Jugendlichen ansprechen, um einen aktiven Lebensstil zu fördern. Mit Druck und Zwang funktioniert das nicht.

Und was muss sich in Schulen und Kitas ändern?

Es wäre schön, wenn die Einrichtungen ausreichend Bewegungsangebote ermöglichen. Das lässt sich zum Beispiel auch mit Sprachförderung kombinieren. Wir hatten in einem Brennpunktviertel ein Projekt, in dem Kinder spielerisch mit körperlichen Aktivitäten wie Ballspielen Wörter gelernt haben. Da passiert auch schon relativ viel. In Nordrhein-Westfalen gibt es zum Beispiel die anerkannten Bewegungskindergärten mit dem Pluspunkt Ernährung. Die Erzieherinnen und Erzieher absolvieren dafür eine Übungsleiterausbildung und gehen eine Kooperation mit Vereinen in ihrer Nähe ein.

Wissenschaftler fordern täglich mindestens eine Stunde Sport in der Schule. Was halten Sie davon?

Vom Grundprinzip her finde ich die Idee prima. Das Problem ist nur, dass davon oft am Ende nur 15 Minuten bleiben, in denen die Kinder tatsächlich Sport treiben, weil der Weg zur Halle und das Umziehen so viel Zeit beanspruchen. Leider fällt auch eher eine Sportstunde weg, als dass akademische Fächer gestrichen werden. Ich wünschte mir, dass in die 45 Minuten Unterricht – ob das nun Deutsch, Physik, Mathematik oder Biologie ist – jedes Mal eine fünfminütige Bewegungspause eingebaut würde.

Das würde aber in allen Fächern die akademische Lernzeit reduzieren.

Dafür würde es sich aber positiv auf das Klassenklima und den gesamten Unterricht auswirken, die Kinder würden aktiver, könnten sich wieder besser konzentrieren, und sie hätten sich an einem Vormittag mit sechs Stunden schon 30 Minuten bewegt. Das kann je nach Bedürfnissen gestaltet werden, einmal über den Pausenhof rennen, Hampelmänner machen oder kleine Übungen wie Mit-den-Schultern-Rollen, bei denen die Kinder Körperwahrnehmung lernen. Tatsächlich gibt es auch wissenschaftliche Daten, die belegen, dass es der akademische Leistung nicht schadet. Im Gegenteil. Und ich würde mir wünschen, dass wir Menschen stärker für solche lebensstilfördernden Aspekte wie mehr Bewegung, gesunde Ernährung und Medienkompetenz qualifizieren.

Wie meinen Sie das?

Jede Lehrperson, jede Erzieherin, jeder Erzieher und jede Pflegekraft müssten zum Beispiel lernen: Wie kann ich kleine Übungen einstreuen, um so die sitzende Zeit zu unterbrechen und zu reduzieren? Es werden wahnsinnig viele Aufgaben auf Schulen und Kitas abgewälzt, die verständlicherweise oft damit überfordert sind. Wir sollten daher bei der Ausbildung ansetzen. Alle, die mit Menschen zusammenarbeiten, sollten lernen, wie sie die Gesundheitskompetenzen stärker fördern, damit jeder mehr Verantwortung für die eigene Gesundheit und das eigene Wohlbefinden übernehmen kann.

Betrifft das auch Ärzte und Ärztinnen?

Ja, unbedingt, im Medizinstudium sind Themen wie Bewegung, Ernährungs- und Sportmedizin nicht verpflichtend für die Studierenden, die sind nur ein nice to have für die Universitäten. Ich finde, dass das nicht mehr zeitgemäß ist in Anbetracht dessen, dass Krankheiten, die die Folge von Bewegungsmangel und falscher Ernährung sind, zu den größten Herausforderungen unseres Gesundheitswesens zählen.

Christine Joisten ist Fachärztin für Allgemein-, Sport-, Ernährungsmedizin und ­ärztliche Psychotherapie und Professorin am Institut für Bewegungs- und Neurowissenschaft der Deutschen Sporthochschule Köln.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2024: Sind die anderen glücklicher? Streiten nur wir so viel? Passen wir noch zusammen?