Wird über Polyamorie gesprochen, tauchen schnell Assoziationen auf wie „Fremdgehen mit Erlaubnis“, „Gruppensex“ und „Bindungsängste“. Noch immer ranken sich viele Vorurteile und Mythen um die Beziehungsform. Tatsächlich bedeutet Polyamorie – zu Deutsch „Vielliebe“ –, dass Menschen einvernehmlich Beziehungen zu mehr als einem Menschen haben.
Im Unterschied zu offenen Beziehungen geht es dabei nicht nur um sexuelle Kontakte, sondern um romantische Bindungen. Wie können Partner und Partnerinnen in diesen Bezie…
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um sexuelle Kontakte, sondern um romantische Bindungen. Wie können Partner und Partnerinnen in diesen Beziehungen therapeutisch begleitet werden? Mit welchen Konflikten kämpfen die Beteiligten? Und weshalb entscheiden sich Personen für diese Beziehungsform?
Sonja Bröning hat Antworten auf diese Fragen. Sie ist Professorin für Entwicklungspsychologie an der privaten Medical School Hamburg und systemische Therapeutin mit Weiterbildung im Bereich Sexualtherapie. Seit fast 20 Jahren forscht sie zur Paar- und Konfliktberatung. Fast ebenso lang unterstützt sie in ihrer Praxis Menschen, die alternative Beziehungsmodelle leben. „Das Interesse wächst gewaltig“, sagt sie.
Hinterfragt und neu gedacht
In der repräsentativen deutschen ElitePartner-Studie 2023 heißt es, dass sich nahezu jeder dritte Mann unter dreißig und etwa jede fünfte Frau eine „offene Beziehung“ vorstellen kann. In anderen, älteren Untersuchungen war noch für 85 bis 99 Prozent der befragten Männer und Frauen sexuelle Exklusivität ein wichtiger Faktor in ihren Liebesbeziehungen.
Die Zahl der Menschen, die in Deutschland tatsächlich in polyamoren Beziehungen leben, ist klein, schätzt Sonja Bröning. Konkrete Untersuchungen dazu fehlen noch. Durch die gestiegene Sichtbarkeit offener Beziehungsformen finden allerdings immer mehr Polyküle – das heißt Beziehungskonstellationen polyamor lebender Menschen – den Weg in ihre Beratung. Viele von ihnen kontaktieren sie mittlerweile auch, weil sie trotz ihrer ursprünglich monogamen Beziehung eine zweite Person lieben oder mindestens einer von beiden die Beziehung öffnen möchte. Bröning sagt: „Was früher als Trennungsgrund galt, wird heute oft hinterfragt und neu gedacht.“
Die Gründe, warum Menschen sich für alternative Beziehungsformen entscheiden, sind ihrer Erfahrung nach vielfältig. Manchmal gehe es darum, dass bestimmte Bedürfnisse in einer monogamen Beziehung nicht erfüllt würden, zum Beispiel im Bereich der Sexualität. Andere strebten nach Freiheit und neuen Erfahrungen. „Aber oft passiert es einfach – man lernt eine neue Person kennen, spürt diese Sehnsucht und stellt gleichzeitig fest, dass man den langjährigen Partner oder die langjährige Partnerin weiterhin liebt“, sagt die Psychologin.
Lieber daran arbeiten, anstatt sich zu trennen
Wenden sich in polyamoren Beziehungskonstellationen Lebende häufiger an eine Beziehungsberatung als andere? Bröning sagt: „Meine Erfahrung ist, dass Menschen generell eher eine Paartherapie aufsuchen, wenn sie ihre Beziehung wertschätzen und an ihr arbeiten wollen, anstatt sich einfach zu trennen.“ In polyamoren Beziehungen sei dies oft so. Diese Menschen erlebten häufig zusätzlich Unverständnis und Ablehnung oder müssten ihre Lebensweise verheimlichen. „Wenn polyamor lebende Menschen zu mir kommen, ist die Wertschätzung gegenüber den Partnern häufig sogar besonders hoch, da sie trotz des äußeren Drucks und aufkommender herausfordernder Gefühle die Beziehung bewahren wollen, anstatt einfach nachzugeben und sich zu trennen“, sagt Bröning.
Die Beziehung von Lia und Marleen ist ein Beispiel aus ihrer Praxis, nur die Namen der Beteiligten wurden geändert. Lia und Marleen sind seit fünf Jahren ein Paar. Seit etwa zwei Jahren ist Lia auch mit Sylvia zusammen, die wiederum mit David verheiratet ist und mit ihm in einer gemeinsamen Wohnung lebt. Als Sylvia und David ein Kind bekommen, verändert sich das Zusammensein für alle.
In der Beratung geht es darum, wie oft sich Lia und Sylvia sehen können und ob diese Treffen in der Wohnung von Lia und Marleen stattfinden dürfen. Zudem übernimmt Lia Betreuungsaufgaben für das Baby, und es stellt sich die Frage, ob auch Marleen eine Bezugsperson für das Kind werden kann. Die Großmutter des Babys zeigt sich besorgt, dass Lia die Eingewöhnung in der Krippe begleitet, da sie Lia nicht als Teil der Familie ansieht und darauf besteht, diese Aufgabe selbst zu übernehmen. Darüber hinaus kämpft Lia mit dem Bedürfnis nach Zeit für sich, während sie gleichzeitig die babyfreie Zeit in ihrer Wohnung mit Marleen genießt.
Bröning arbeitet nur mit Lia und Marleen, da die beiden sie aufgesucht haben. Gemeinsame Sitzungen mit Sylvia und David oder sogar mit allen zusammen wären zwar möglich, sind aber derzeit nicht geplant.
Meistens sind zwei da
Laut Bröning unterscheidet sich das Setting und die therapeutische Herangehensweise bei Menschen in offenen Beziehungen kaum von monogamen Paaren. „Auch bei polyamoren Konstellationen kommen oft zwei Personen in die Sitzung“, sagt sie. Manchmal werden auch Konflikte mit weiteren Personen thematisiert, dann können diese hinzukommen. „Aber mehr als drei Menschen in einer Sitzung sind selten.“
Zwar wird Polyamorie unterschiedlich gelebt: Manche „Polys“ führen mehrere Beziehungen, bei denen sich die jeweiligen Beziehungspersonen untereinander gar nicht kennen, andere führen eine Beziehung zu dritt oder zu viert, bei der jede beteiligte Person romantische Gefühle füreinander hat. Dennoch gilt: „Auch wenn mehrere Menschen involviert sind, bleibt Bindung im Kern immer dyadisch. Im Vordergrund steht die Beziehung zwischen zwei Menschen – und auch im Zentrum meiner Arbeit, unabhängig von den anderen Beteiligten.“
Natürlich spielten alle Personen im Umfeld eines Paares eine Rolle und beeinflussten den Kontext, erklärt Bröning. Aber Streitigkeiten und Konflikte zeigten sich meistens zwischen zwei Menschen. „Marleen findet, dass Lia zu oft bei Sylvia ist, während Sylvia sich mehr Zeit mit Lia wünscht. Letztlich muss Lia entscheiden, wie sie diese Erwartungen ausbalanciert. Marleen und Sylvia müssen sich nicht unbedingt direkt miteinander auseinandersetzen. Die Verantwortung liegt bei Lia. Sie muss ihre Entscheidung gegenüber ihren Beziehungsmenschen vertreten.“
Keine Ketten
Inhaltlich überschneiden sich die Themen monogam und polyamor lebender Personen. Doch der Umgang damit ist anders, wie Sonja Bröning schon bei ihrem ersten Gespräch mit einem polyamoren Paar feststellte. Wenn es zum Beispiel um Schwierigkeiten in der Kommunikation und den Umgang mit Eifersucht geht, versuchen monogame Paare meist zu verhindern, dass unangenehme Gefühle aufkommen. Menschen in polyamoren Konstellationen seien stärker bereit, sich mit unangenehmen Gefühlen auseinanderzusetzen. Oft hätten sie auch mehr Übung darin.
In einer von Sonja Bröning durchgeführten Interviewstudie mit knapp 500 mehrheitlich nichtmonogam lebenden queeren Erwachsenen schilderten polyamor lebende Personen, dass sie intensiv darüber nachdächten, wie Vorstellungen von Beziehung und Liebe gesellschaftlich geprägt sind und wie im Vergleich dazu ihre eigenen Werte aussehen. „Ich finde, polyamor lebende Menschen denken viel darüber nach, wie sie ihren eigenen Werten folgen können – vielleicht weil das Modell nicht selbstverständlich ist“, sagt die Therapeutin. Ein häufig geäußertes Bedürfnis sei zum Beispiel, niemanden „festketten“ zu wollen. Man versuche, Freiräume in den Beziehungen zu schaffen, ohne dabei die Verbundenheit zu verlieren.
Über Eifersucht reden
Der Umgang mit Eifersucht ist bei den „Polys“ laut der Beziehungstherapeutin ebenfalls dadurch geprägt, dass die Beteiligten eher versuchen, die Eifersuchtsgefühle offen zu kommunizieren, die Auslöser zu hinterfragen und Wege zu finden, mit ihnen umzugehen. Eine der Beteiligten an der Interviewstudie sagte: „Es ist ein Spektrum zwischen Eifersucht und Freude über die Möglichkeiten.“ Sie habe für sich ein Ampelsystem entwickelt, um anzuzeigen, wie wohl sie sich damit fühlt, ihre Beziehungsperson mit einem anderen Menschen zu sehen. Grün bedeutet, dass sie sich freut, dass sich beide nahekommen, Gelb oder Rot stehen eher für Unbehagen oder für unangenehme Gefühle.
Für das „Mitfreuen“ haben polyamor lebende Menschen sogar ein eigenes Wort entwickelt: „Compersion“, ein Kunstwort aus Wörtern wie compassion (Mitgefühl) und companionship (Kameradschaft). Was für viele monogam lebende Menschen undenkbar ist, beschreibt eine Klientin von Sonja Bröning so: „Ich finde das so süß, wenn mein Freund andere Frauen datet. Das macht mich richtig verliebt.“
Manche Themen von Polykülen erinnern Bröning an die therapeutische Arbeit mit Patchworkfamilien: Auch dort wird lange überlegt, inwieweit man einen neuen Partner den Eltern, Freundinnen oder Kindern vorstellt, wer zum Familienfest und zum Elternabend kommt, wie Zukunftspläne aussehen können, wer wie oft mit wem verreist.
Das Image meiner Partnerschaft
Zu den Herausforderungen für polyamore Paare zähle zusätzlich die Frage, wie sie ihre Beziehungsform nach außen präsentieren wollen, erklärt Bröning. Sie müssen abwägen, ob sie ihre Polyamorie öffentlich leben oder privat halten. Oftmals empfinden sie es als belastend, sich ständig rechtfertigen und erklären zu müssen. Doch auch das Verbergen einer Beziehung kann die Beziehungsqualität beeinträchtigen. Es gebe noch viele gesellschaftliche Annahmen und Klischees gegenüber nichtmonogamen Modellen. „Dann wird behauptet, solche Menschen seien egoistisch, könnten sich nicht festlegen und würden eine Art cherry picking in der Liebe betreiben“, sagt Bröning.
Vor allem jungen Menschen wird häufig unterstellt, dass sie durch nichtmonogame Beziehungen Verantwortung vermeiden und ungebunden bleiben wollten. Dem setzen polyamor lebende Personen entgegen, dass sie durch das Eingehen mehrerer Beziehungen eigentlich sogar mehr Verantwortung übernähmen. Eine Studie der amerikanischen Psychologin Amy C. Moors zeigte, dass die befragten polyamor lebenden Menschen ihre Beziehungen als sicher und stabil erlebten und sogar weniger Ängste empfanden als Personen in monogamen Partnerschaften.
Wenn Menschen zu Sonja Bröning kommen, die bisher monogam waren und Neugierde verspüren, ihre Beziehung zu öffnen, empfiehlt sie, langsam und behutsam an die Sache heranzugehen. Es lohne sich, die eigene Motivation genau zu reflektieren. Als Therapeutin stellt sie dem Paar unter anderem folgende Fragen: Möchten das wirklich beide, oder hat eine Person das Gefühl, sie muss das machen, weil sie sonst den Partner oder die Partnerin verlieren könnte? Muss jemand gestärkt werden, um zum Ausdruck bringen zu können, was er oder sie wirklich möchte? Mit kleinen Experimenten könne man sich an die Öffnung der Beziehung herantasten und zum Beispiel beobachten, wie es sich anfühlt, wenn die Beziehungsperson sich mit einem anderen Menschen zu einem Date verabredet.
Manchmal rät sie Paaren jedoch auch davon ab, ihre Beziehung zu schnell zu öffnen.
Ein neuer Partner löst keine Probleme
Wenn Menschen extreme Verlustängste haben und sehen, wie ihr Partner oder ihre Partnerin einen anderen Menschen küsst oder mit ihm intim wird, kann das sehr schwer zu verarbeiten sein. Es gibt auch Menschen, die in monogamen Beziehungen einfach glücklicher sind, die keine Abwechslung suchen oder den organisatorischen Aufwand einer offenen Beziehung sehr belastend finden.
Bröning weist darauf hin, dass eine offene oder polyamore Beziehung keinesfalls als Lösung für eine bereits kriselnde Partnerschaft gesehen werden sollte. „Das Hinzufügen von weiteren Personen und damit auch weiteren Bedürfnissen, Wünschen und Grenzen erhöht immer die Komplexität im Beziehungssystem. Wenn bereits zwischen zwei Partnern viele ungelöste Themen bestehen, ist es höchst unwahrscheinlich, dass sich diese verbessern, wenn weitere Personen ins Spiel kommen.“
Sie betont, dass es nicht darum gehe, ob eine Beziehungsform besser sei als die andere, sondern darum, was für die beteiligten Personen funktioniere. Ihre Erfahrung ist: Gelingt neugierigen Paaren eine einvernehmliche, auf Vertrauen und gegenseitiger Rücksicht basierende Annäherung, so berichten viele davon, dass sie mehr Fülle, Abwechslungsreichtum und Freiheit erleben. Sie erfahren verschiedene Qualitäten in ihren Beziehungen, ohne dass der eine Partner alle Bedürfnisse erfüllen muss.
In innerer Unabhängigkeit
Personen in polyamoren Beziehungen können oft ganz genau in Worte fassen, was jeweils der besondere Aspekt an ihrer Beziehung ist und was sie schätzen und bewahren wollen. Seit sie mit polyamoren Paaren arbeitet, fragt Bröning auch monogame Paare häufiger: „Was ist die einzigartige Qualität eurer Beziehung? Was ist besonders lustvoll? Was macht euch im Kern aus?“
Durch die Beratung polyamor lebender Menschen habe sie außerdem gelernt: Es ist wichtig, sich eine innere Unabhängigkeit zu erarbeiten, um parallele Beziehungen rücksichtvoll behandeln zu können. So kann es oft notwendig sein, die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen und zum Beispiel auch einmal allein ins Kino zu gehen, obwohl man den Abend lieber gemeinsam verbracht hätte.
„Wie immer in der Liebe geht es darum, sich manchmal auch mit einem nichtidealen Zustand zufriedenzugeben“, sagt Bröning. „Die Kernherausforderung in jeder intimen Beziehung, ob monogam oder nicht, bleibt diese: Das Spannungsverhältnis zwischen Autonomie und Verbundenheit auszubalancieren. Durch die doppelten oder dreifachen Einflüsse naher Partnerinnen wird es noch wichtiger, sich selbst treu zu bleiben, eigene Bedürfnisse und Grenzen zu kommunizieren und die Vielfalt an Emotionen in den verschiedenen Beziehungen zu managen.“ Als Lohn für diese Mühen können polyamor lebende Menschen tiefe, authentische Verbindungen erfahren.
Polyamorie
Polyamorie und offene Beziehungen sind konsensuelle, nichtmonogame Beziehungsformen. Wer sie führt, kann mit dem Wissen und dem Einverständnis seines Partners oder seiner Partnerin auch Bindungen zu anderen Menschen eingehen. Während es bei der offenen Beziehung jedoch vor allem um sexuelle Kontakte zu anderen geht, unterhalten polyamorös lebende Menschen romantischen Bindungen zu mehreren Personen
Lotta Falter ist systemisch weitergebildete Psychologin und hat sich in ihrer Masterarbeit mit den Unterschieden zwischen monogamen, polyamoren und offenen Beziehungen beschäftigt.
Xenia Peukert ist systemisch und paartherapeutisch weitergebildete Psychologin und arbeitet bei Plus e.V., einer in Mannheim und Heidelberg ansässigen Organisation, die „Angebote und Beratung zur Vielfalt von sexueller Orientierung und Geschlecht“ bietet.
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Quellen
Beatrice Bartsch u.a.: ElitePartner Studie 2023. So liebt Deutschland. 2023
Judith Treas, Deirdre Giesen: Sexual Infidelity among Married and Cohabiting Americans. Journal of Marriage and the Family, 62/1, 2000, 48–60
Sonja Bröning u.a: Facetten von Intimität in konsensuell nicht-monogamen Liebesbeziehungen. Eine qualitative Interviewstudie. Zeitschrift für Sexualforschung, 37/3, 2024, 133–141
Sonja Bröning, Agostino Mazziotta: Therapy and counselling experiences of queer adults in Germany. Counselling and Psychotherapy Research, 24/4, 2024, 1660–1669
Amy C. Moors u.a.: Multiple loves: the effects of attachment with multiple concurrent romantic partners on relational functioning. Personality and Individual Differences, 147, 2019, 102–110