„Wir sind den ganzen Tag für andere Menschen da“

Die psychosomatische Schön-Klinik in Bad Bramstedt bietet Erwachsenen mit ADHS Hilfe an. Stationsleiter Roy Murphy beschreibt seinen Arbeitsalltag.

Personen sitzen in deiner Gruppentherapie und unterhalten sich
Die Alltagserfahrungen von Patientinnen und Patienten spiegeln sich auch in Gruppentherapien wider. © Tempura/Getty Images

Die Klinik sieht riesig aus. Wie viele Betten gibt es hier, und wie lange bleiben die Patienten?

Wir haben über 400 Betten auf 16 Stationen, die nach den verschiedenen Behandlungsschwerpunkten aufgeteilt sind. Die Patienten kommen mit einer Krankenhauseinweisung von ihrem Hausarzt oder Psychiater und bleiben in der Regel sechs bis zwölf Wochen. Die Dauer ist stark vom Störungsbild abhängig, es kommt auf den Verlauf der Therapie an, außerdem spielt eine Rolle, ob weitere Störungsbilder, sogenannte…

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es kommt auf den Verlauf der Therapie an, außerdem spielt eine Rolle, ob weitere Störungsbilder, sogenannte Komorbiditäten bestehen.

Wenn jemand beispielsweise mit der Diagnose Depression zu uns kommt und wir entdecken im Zuge unserer diagnostischen Arbeit, dass zusätzlich noch eine Angststörung besteht, liegt eine realistische Aufenthaltsdauer eher bei acht Wochen. Bei Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung dauert die Behandlung sogar meist zwölf Wochen.

Ist eine psychotherapeutische Zusatzausbildung Voraussetzung für die Arbeit als Psychologe in der Klinik?

Ja, denn das Diplom im Fach Psychologie allein ist für einen klinischen Beruf wenig wert. Um Menschen zu behandeln, braucht man eine Psychotherapeutenausbildung, die über mehrere Jahre geht und eine Menge Geld kostet. Da ist es oft einfacher, die Ausbildung im Rahmen einer Anstellung an einer Klinik zu absolvieren. Das habe ich auch so gemacht. Diese Klinik verfügt über ein eigenes Institut, in dem Psychologen als Psychotherapeuten ausgebildet werden und Ärzte einen Teil ihrer Facharztausbildung absolvieren.

Wie sieht Ihr typischer Arbeitsalltag aus?

Arbeitsbeginn ist um halb neun auf unserer Station mit dem Schwerpunkt ADHS im Erwachsenenenalter, es beginnt mit der Morgenvisite. Die sieht ein bisschen anders aus, als man das vom Krankenhaus her kennt. Hier trägt niemand einen weißen Kittel, und wir gehen auch nicht zu den Patienten aufs Zimmer. Die 30 Patienten und das Team aus den drei Stationspsychologen, zwei Ärzten und einer Kotherapeutin versammeln sich im großen Gruppenraum. Dort besprechen wir, was für den kommenden Tag wichtig ist, begrüßen neue Patienten, verabschieden andere, deren Aufenthalt endet.

Diese Morgenrunde läuft insgesamt eher locker ab. Das ist wichtig, damit die Patienten sich trauen, in diesem Rahmen Gesprächsbedarf bei ihrem Bezugstherapeuten anzumelden, wenn sie es möchten. Wir sind in der Regel drei Psychologen auf dieser Station, und jeder ist für rund sechs bis acht Patienten verantwortlich.

Wie geht Ihr Tagesablauf nach der Morgenvisite weiter?

Gleich anschließend, um 10.30 Uhr geht es in die Gruppentherapie, die ich mit einer weiteren Therapeutin leite, die auch Psychologin oder Ärztin ist. Diese Gruppen dauern 100 Minuten und stellen einen Schwerpunkt unseres Behandlungskonzeptes dar. Wir treffen uns dazu wieder im Gruppenraum, nehmen im Kreis auf Stühlen Platz, und dann geht es los. Die meisten Gruppen sind „themenoffene Gruppen“. Das bedeutet, die Teilnehmer wählen die Themen selbst. In diesem Rahmen berichten Einzelne über aktuelle Schwierigkeiten oder andauernde Probleme, für die wir gemeinsam Lösungsansätze suchen.

Neben diesen „offenen Gruppen“ gibt es auch „thematische Gruppen“. Hier richten sich die Inhalte nach dem vorgegebenen Behandlungskonzept. Typische Themen sind: der Umgang mit Gefühlen, Übungen zur Achtsamkeit oder auch zu realistischen Zielsetzungen im Leben, die Zukunftsplanung im Speziellen. Spezifische Inhalte für die Patienten mit dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom sind unter anderem: innere Anspannung, was sie bei Einzelnen bewirkt, wie man mit ihr umgehen und sie ein Stück weit abbauen kann. Ein weiterer wichtiger Ansatzpunkt ist das Selbstwertgefühl, das bei unseren Patienten oft sehr gering ausgeprägt ist und das wir zu stärken versuchen.

Welche Methoden wenden Sie in den Gruppen an?

Wir orientieren uns an der kognitiv-verhaltenstherapeutischen Schule. Das bedeutet: Wir arbeiten fast immer mit dem Verhalten und Erleben im Hier und Jetzt und blicken nur selten in die ersten Lebensjahre des Patienten zurück. Und wir arbeiten lösungsorientiert. Das Ziel der Behandlung ist eine Änderung im Verhalten und im Denken. Also beispielsweise, dass ein Patient es schafft, trotz Bewegungsdrangs auf dem Stuhl sitzen zu bleiben und den anderen weiter aufmerksam zuzuhören. Die Gruppe wirkt dabei wie ein soziales Erfahrungsfeld.

Was die Patienten hier im Umgang mit anderen Menschen erleben, ähnelt dem, was sie auch sonst im Alltag erfahren: Wer beispielsweise im „echten“ Leben soziale Situationen meidet, wird sich in der Gruppe ebenfalls möglichst verkriechen; wer sich „draußen“ schlecht konzentrieren kann, wird sich hier ähnlich unruhig verhalten. Was in der Gruppe geschieht: Wir bieten dem Patienten geschützte Bedingungen und einen Rahmen, das eigene Denken, Fühlen und Verhalten zunächst einmal deutlicher zu erkennen.

Häufig arbeiten wir in den Gruppen auch gemeinsam die aufrechterhaltenden Bedingungen einer Störung heraus. Bei einem Patienten mit einer Panikstörung fragen wir uns beispielsweise: Warum wird so eine Angst nicht von selbst weniger? Vielleicht sogar schlimmer? Ein klassisches Beispiel wäre, dass es an Vermeidung liegt. Weil der Patient immer mehr Aktivitäten und Situationen scheut, die seiner Meinung nach eine Panikattacke auslösen könnten, traut er sich bald gar nicht mehr aus dem Haus.

Das Problemverhalten, der Rückzug lindert kurzfristig die Angst – das setzt aber einen Teufelskreis in Gang: Denn je öfter er zu Hause bleibt, desto größer wird die Furcht davor, das Haus zu verlassen. Dieser Kreislauf kommt sehr häufig vor: Die meisten psychischen Störungen werden durch Formen der Vermeidung aufrechterhalten: Das ist bei der Kontaktvermeidung des Depressionspatienten der Fall und genauso bei der Emotionsvermeidung von sehr kontrollierten, zwanghaften Patienten.

Und wie behandeln Sie Patienten mit so einem Vermeidungsverhalten?

Der Patient muss sich mit seiner Angst konfrontieren – und lernen, dass nichts Schlimmes passiert, wenn er seine Vermeidungsstrategie aufgibt. Die meisten Übungen dazu führen wir im Rahmen der Einzeltherapie durch: Mit einem Patienten, der nicht in die Bahn steigen mag, fahre ich zusammen im Zug nach Hamburg, mit einem anderen, der Höhenangst hat, steige ich auf den Hamburger Michel, mit einem dritten, der unter Tunnelphobie leidet, gehe ich in den alten Elbtunnel – das sind unsere beliebten Touren.

Diese sogenannte graduierte Exposition in vivo ist eine klassische Form der verhaltenstherapeutischen Angstbehandlung, die den Patienten nachweislich hilft. Das Ziel besteht in der Habituation, also der Gewöhnung. Der Patient soll die bislang gemiedenen Situationen irgendwann, ganz ohne Unwohlsein zu empfinden, erleben können. Dabei ist die Selbständigkeit des Betroffenen ganz wichtig. Ich muss den Patienten gar nicht bei jeder Tour begleiten. Wenn er oder sie sich das allein zutraut – umso besser.

Die Klienten kommen mit einer bestimmten Diagnose in die Klinik. Überprüfen Sie diese?

Ja, das tun wir immer. Sie glauben gar nicht, wie viele Menschen mit unpassenden Diagnosen zu uns in die Klinik kommen. Es gehört zu unserem Auftrag, den Patienten richtig einzuschätzen, denn die Diagnose stellt ja die Grundlage der Behandlung dar. Ich schaue mir daher alle Daten meiner Bezugspatienten genau an: Die vorliegenden Diagnosen und psychopathologischen Befunde, Aufzeichnungen aus der Anamnese und den Einzelgesprächen.

Wir arbeiten mit den diagnostischen Leitlinien des ICD-10, des internationalen Klassifikationssystems psychischer Störungen. Ich prüfe, welche Kriterien erfüllt sind, und leite daraus die Diagnose ab. Zusätzlich führen wir mit manchen Patienten psychologische Tests durch.

Wie stellen Sie fest, ob ein Patient tatsächlich an einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung leidet? ADHS ist ja eher als Problem von Kindern und Jugendlichen bekannt.

Für die ADHS-Diagnose setzen wir ein Interview und zwei Fragebögen ein, allerdings darf man diese Verfahren nicht überbewerten, sie geben nur die grobe Richtung vor. Ergänzend führe ich immer Einzelgespräche, denn unter anderem muss ich klären, ob diese Form von Beeinträchtigung schon das ganze Leben über existiert. ADHS ist keine Störung, die erst im Erwachsenenalter beginnt, wer ab dem 20. Lebensjahr unter ähnlichen Symptomen leidet, hat mit Sicherheit kein ADHS, sondern eine andere Krankheit.

Genau das zu prüfen macht die Diagnostik hier so aufwendig: Ich lasse mir die Grundschulzeugnisse des Patienten zeigen, die Entwicklungsberichte der Lehrer, oft telefoniere ich zusätzlich mit den Eltern oder ziehe weitere Informationsquellen hinzu. Bei jeder diagnostischen Arbeit kommt auch unsere Teamarbeit ins Spiel, denn meine Kollegen erleben den Patienten ja ebenfalls: Sie sehen ihn in der Gruppe, bei den Visiten oder auf dem Flur, in der Kunst- oder Sporttherapie. Ich habe also die Möglichkeit, meine Kollegen als zusätzliche Informationsquellen anzuzapfen, um meine diagnostischen Fragen zu beantworten – und das tue ich auch regelmäßig.

Die vielen Informationen, die Sie sammeln, fließen nicht nur in die therapeutische Arbeit mit ein, Sie müssen auch alles dokumentieren.

Richtig. Das ist ein anderer wichtiger Teil meiner Arbeit, der viel Raum einnimmt. Für meine Bezugspatienten muss ich alles, was wir an Behandlungen durchführen, in Form von Berichten festhalten. Zu dieser Arbeit gehören vor allem zwei wichtige Dokumente. Zum einen die Krankengeschichte, die hier fortgeschrieben wird: Sie beginnt beim sozialen Status, geht über aktuelle Beschwerden und den psychischen Befund bis hin zu medizinischen Beeinträchtigungen.

Zum zweiten verfasse ich die psychologische Seite des Arztbriefes, der zur Entlassung fertiggestellt sein muss: Denn sowohl der Patient als auch der Kollege, der diesen Patienten dann übernimmt, also beispielsweise der niedergelassene Psychotherapeut, hat ja ein Interesse zu erfahren, was hier in der Klinik genau gelaufen ist. Der Arztbrief beinhaltet eine detaillierte Übersicht über den Behandlungsverlauf und alle gestellten Diagnosen, und er enthält unsere Empfehlung für die weitere Behandlung.

Sie sind als Klinikpsychotherapeut ja kein Einzelkämpfer, sondern arbeiten im Team.

Ja, und da muss für den Informationsfluss gesorgt sein. Deshalb gibt es zum Ende des Frühdienstes eine Teamsitzung. Es ist ganz wichtig, dass wir uns täglich austauschen, denn bei 30 Patienten fällt eine Menge an: Wir müssen sowohl das Medizinische im Blick behalten – also die körperlichen Erkrankungen, die unsere Patienten ja auch oft haben, ihre medikamentöse Einstellung und mögliche Nebenwirkungen – als auch die psychische Verfassung.

In diesen Teamsitzungen wird jeder Patient regelmäßig ausführlich besprochen: Wie er oder sie in der Psychotherapie vorankommt, was gut läuft, wo es vielleicht Stolpersteine gibt oder Schwierigkeiten in der Interaktion. Anschließend an die Teamsitzung werden dann die diensthabenden Kollegen, die nach 17 Uhr für das Haus zuständig sind, von einem Vertreter pro Station kurz im Rahmen einer Übergabe informiert: Gibt es von den Patienten auf dieser Station etwas zu erwarten für die kommende Nacht?

Was könnte das sein, eine Suizidgefährdung?

Genau. Es gibt vor allem zwei Patientengruppen, die im Spätdienst zu beobachten sind. Das sind zum einen die suizidalen Patienten, zum anderen Patienten, die sich selbst verletzen. Für mich bedeutet das: Ich bin als Psychologe im Spätdienst, zu dem ich etwa einmal im Monat eingeteilt werde, für über 400 Patienten zuständig.

Im Schnitt habe ich im Spätdienst zwischen 10 und 20 Kontakte zu Patienten, bis ich dann kurz vor Mitternacht nach Hause gehe. Aber das ist natürlich ganz unterschiedlich und lässt sich vorher überhaupt nicht einschätzen. Auch nicht, wie lange die einzelnen Gespräche dauern und wie schwierig sie sind. Es kann sein, dass mich ein suizidaler Patient drei Stunden lang beschäftigt, weil ich ihn beobachten oder sogar eine Verlegung in die Psychiatrie organisieren muss.

Abgesehen von den beruflichen Qualifikationen, die Sie für Ihre Arbeit hier mitbringen: Was würden Sie sagen, gibt es bestimmte Eigenschaften, die für Ihre Arbeit wichtig sind?

Auf jeden Fall ist Neugierde wichtig, das Interesse an ganz unterschiedlichen Menschen und ihren Lebensgeschichten. Außerdem ein gutes Empathievermögen und die Fähigkeit, sich vom eigenen Schubladendenken zu verabschieden. Denn in der psychotherapeutischen Arbeit geht es nicht um meine persönlichen Wertvorstellungen und Maßstäbe, sondern immer um die des Patienten.

Und was ich auch wichtig finde in unserer Arbeit: auf sich selbst zu achten und eigene Grenzen zu erkennen. Diese Fähigkeit halte ich für ganz wichtig, denn der Beruf birgt ein großes Burnoutrisiko. Aus folgendem Grund: Wir sind als Therapeuten den ganzen Tag für andere Menschen da. Die Gefahr ist daher groß, sich selbst mit seinen Bedürfnissen und Grenzen ein bisschen aus dem Blick zu verlieren.

Was ist das Schönste an Ihrer Arbeit?

Da fallen mir mehrere Dinge ein. Das eine ist die Teamarbeit, das Hand-in-Hand-Arbeiten mit den Kollegen. Was mir auch besonders Freude macht, ist die Vielseitigkeit: Dass ich psychotherapeutisch mit den Patienten zu tun habe, Supervision gebe, Behandlungskonzepte erarbeite. Wahrscheinlich das Schönste für mich ist, wenn ich Patienten ein bisschen helfen kann. Wenn ich mitbekomme, wie sie in der Therapie Aha-Erlebnisse haben oder etwas, das sie bislang noch nicht für möglich gehalten hätten, plötzlich hinkriegen. Oder wenn Patienten sich bedanken oder mit einem Strahlen die Klinik nach einigen Wochen verlassen – das finde ich nach wie vor immer wieder großartig.

Roy Murphy schloss sein Studium der Psychologie 1999 in Kiel mit dem Diplom ab. Nach einer kurzen Tätigkeit auf einer Promotionsstelle wechselte er auf eine kombinierte Therapie- und Forschungsstelle in der Schön-Klinik in Bad Bramstedt. Dort forschte er zu „neuropsychologischen Aspekten bei Anorexiepatientinnen im Vergleich mit Bulimie- und Zwangspatienten“ und schrieb zu diesem Thema seine Doktorarbeit. Murphy ist approbierter Psychotherapeut mit Zusatzausbildung in Verhaltenstherapie.

In der Klinik baute er ab 2005 den Schwerpunkt „ADHS im Erwachsenenalter und komorbide Erkrankungen“ auf, den er aktuell auch leitet. Seit 2012 ist Roy Murphy als leitender Psychologe und Qualitätsbeauftragter in der Klinik tätig.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2013: Ich kann auch anders!