Immer ich, immer anders

Gefühl der Selbstkontinuität: Bin ich noch, wer ich früher war? Warum Menschen immer sie selbst bleiben möchten und wie das gelingen kann

Die Collage zeigt zwei schwarz-weiß Fotos auf denen ein Mann abgebildet ist in zwei Lebensphasen, als Jugendlicher und als erwachsener Mann
Beim Durchstöbern alter Fotoalben stoßen wir auf eine jüngere Version von uns selbst. Nicht selten fragen wir uns, ob wir immer noch die gleiche Person sind. © Véronique Stohrer für Psychologie Heute

Darf ich Sie mal etwas Persönliches fragen? Fühlen Sie sich verbunden mit Ihrer Vergangenheit? Oder: Glauben Sie, dass wichtige Aspekte der Persönlichkeit über die Zeit gleich bleiben? Nehmen Sie sich ruhig kurz Zeit, um ein wenig darüber nachzudenken. Würden Sie auch zustimmen, dass die Vergangenheit stehts nahtlos in die Gegenwart übergeht?

Mit Fragen wie diesen messen Forscherinnen und Forscher, was sie Selbstkontinuität nennen. Sie meinen damit das Gefühl, durch Vergangenheit und Gegenwart bis in die…

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was sie Selbstkontinuität nennen. Sie meinen damit das Gefühl, durch Vergangenheit und Gegenwart bis in die Zukunft hinein dieselbe Person zu sein – also dass jemand glaubt, immer noch der- oder dieselbe zu sein wie vor vielen Jahren. Dieses Gefühl kann stärker oder schwächer ausgeprägt sein. Manche empfinden es als wohlig warm, sie mögen die Vorstellung, sich durch das Leben zwar weiterzuentwickeln, dabei aber irgendwie stets dieselbe Person zu bleiben.

Anderen hingegen widerstrebt das, sie wollen Wandel, und alles Kontinuierliche ist ihnen ein Graus. Wieder andere wollen nicht in allem so bleiben, wie sie bisher immer waren – sie wären zum Beispiel gerne gewissenhafter, sozialer, pünktlicher, schaffen es aber nicht, ihr „Ich“ abzulegen. Und es gibt jene, die das Gefühl nicht loswerden, ihre Wurzeln verloren zu haben.

Tatsächlich hat, das zeigte die Wissenschaft in den vergangenen Jahren, Selbstkontinuität wie auch -diskontinuität Vor- und Nachteile. Aber welche? Und wovon hängt es ab, ob Menschen ihr Leben als Kontinuum erleben oder nicht? Ob sie sich noch für denselben Menschen halten, der sie in der Grundschule waren, auch wenn man nun größer und schwerer ist, andere Überzeugungen, Motive und Ziele hat oder neue Hobbys? Und lässt es sich ändern, wenn die Selbstkontinuität abhandengekommen ist und man fürchtet, gar nicht mehr zu sein, wer man war?

Dinge, die das Ich betreffen

Spricht man Fachleute wie den Psychologieprofessor Werner Greve auf solche Fragen an, muss man erst mal klären, was mit Selbstkontinuität nun genau gemeint ist. Denn das Gefühl mag jeder kennen, es aber zu greifen und exakt mit Worten zu beschreiben ist gar nicht so einfach. Und das hat vor allem mit dem ersten Wortbestandteil zu tun – dem „Selbst“.

Greve lehrt an der Universität Hildesheim, er hat viel dazu geforscht, wie Menschen sich selbst wahrnehmen, was sie meinen, wenn sie ihr Selbst beschreiben, und wie das Selbst und seine Wahrnehmung sich über das Leben verändern. „Das Selbst, damit meinen Psychologinnen und Psychologen eigentlich alle Aspekte, die die innere Sicht einer Person von sich betreffen. Wie ich mich in Bezug zur Welt sehe, wie ich mich wahrnehme und beschreibe oder wie ich mich bewerte.“

Irgendwie also alles. Ein kleines Sammelsurium all jener Dinge, die das Ich betreffen. Das macht das Wörtchen „Selbst“ zu einem recht unscharfen Begriff, der je nach Zusammenhang etwas anderes meinen kann. Seit Jahrtausenden versuchen Menschen zu bestimmen, was das Selbst eigentlich genau ist – einen Konsens haben Forschende aus Psychologie, Biologie, Neurowissenschaften und Philosophie bis heute nicht erlangt. Im Alltag spielt das paradoxerweise keine Rolle, da weiß jede und jeder, was und wer mit „ich“ gemeint ist.

Das Leben als fortwährende Geschichte

Wann genau im Leben sich dieses Selbstverständnis herausbildet, ist schwer zu sagen. „Bei der Geburt haben wir es noch nicht“, sagt Greve. „Da haben wir Durst oder uns ist kalt, wir sind einsam oder es tut was weh. Viel mehr empfinden wir da noch nicht.“ Mit etwa eineinhalb bis zwei Jahren können Kinder zwischen sich und anderen unterscheiden, irgendwann auch ihren eigenen Namen sagen und dabei mit dem Finger auf sich zeigen. „Ob dieses Gefühl von Ich, Selbst und Identität entstehen kann, bevor wir sprechen, ist eine schwierige Frage“, sagt Greve. „Das heißt nicht, dass es nicht so ist. Aber es ist schwer, das zu untersuchen bei jemandem, der noch nicht sprechen kann.“

Manche Forschende gehen davon aus, Kinder hätten eine Idee von sich selbst, wenn sie sich mit etwa eineinhalb Jahren im Spiegel erkennen – dies zeigt sich, wenn man ihnen einen roten Punkt auf die Wange malt, sie das Spiegelbild sehen und sich dann selbst ins Gesicht fassen. Für andere ist es schon ein Hinweis auf eine Vorform des Selbstbewusstseins, dass wenige Monate alte Babys die Gesichter von Gleichaltrigen länger betrachten als ihr eigenes im Spiegel.

Im Verlauf der Kindheit und Jugend bilden sich weitere Prozesse heraus, die wiederum das Selbst beeinflussen – etwa wie wir Zeit wahrnehmen, Erinnerungen, Aufmerksamkeitsprozesse oder die Fähigkeit, eine andere Perspektive zu übernehmen. Wie die Wahrnehmung des Selbst letztlich genau zustande kommt, das ist ebenso schwer zu beantworten wie die Frage, wann sie erwacht.

Das Selbst als Fluss

Trotz aller Wandlungen empfinden die meisten das Selbst als etwas Dauerhaftes. „Die Erfahrung der Kontinuität machen wir alle“, sagt Psychologieprofessor Werner Greve. „Von dem Werner, der damals eingeschult wurde, oder dem Werner, der in die Pubertät kam, oder dem Werner, der einst angefangen hat, Psychologie zu studieren, unterscheide ich mich aber heute natürlich in vielerlei Hinsicht.“ Im Laufe des Lebens entwickeln wir uns weiter, vieles wandelt sich – Alter, Haarfarbe, Fähigkeiten und Fertigkeiten, Motive, Haltungen oder Moral –, dennoch kann das Gefühl vorherrschen, immer noch der- oder dieselbe zu sein.

Um das in ein Bild zu fassen, nutzt Werner Greve die Metapher eines Flusses. Wenn er vor seinen Studierenden über die Entwicklung des Selbst spricht, redet er vom Rhein, der immer derselbe Rhein sei und niemals der Nil. „Wenn ich vor dem Rhein stehe und ein paar Minuten warte, dann fließt ganz anderes Wasser vor mir. Auch hat sich in den letzten drei, vier Jahren das Flussbett etwas verändert, gegenüber dem vor 50 oder gar 100 Jahren sogar sehr stark“, sagt Greve. „Und trotzdem ist da immer noch der Rhein vor mir.“ Eine Metapher, die unsere Biografie widerspiegele. „Klar, über die Jahre hat sich Werner etwas verändert“, sagt Greve. „Aber das, was mich mit den Wernern von damals verbindet, mit Einschulungs-, Pubertäts- und Erstsemester-Werner, ist die Kontinuität der Historie. Es ist immer Werner.“

Doch wie genau entsteht bei dem Professor dieses Gefühl, „immer Werner“ zu sein? Wieso empfinden manch andere, dass sie immer noch sind, wer sie vor 20 Jahren waren?

Im Herbst vergangenen Jahres haben eine Forscherin und zwei Forscher der britischen University of Southampton einen Übersichtsartikel zur Selbstkontinuität verfasst. Darin haben sie zusammengetragen, welche Faktoren die Kontinuität beeinflussen, welche Ereignisse oder Eigenschaften also dazu führen, dass man sich verglichen mit früher eher als jemand anderen wahrnimmt – oder eben als gleich gebliebene, nur etwas älter und reifer gewordene Version.

Bruch in der Biografie

Fünf Gründe konnte das Team ausfindig machen, die das Kontinuitätsgefühl eher behindern. Erstens: wenn Menschen im Unklaren darüber sind, wer sie eigentlich selbst sind, wofür sie stehen, was sie können. Zweitens: wenn ihnen die Fähigkeit abgeht, den eigenen Standpunkt zu verlassen und aus einer neutraleren Perspektive auf sich selbst zu schauen. Drittens: wenn Menschen sozial ausgegrenzt sind, keine Freunde haben oder andere regelmäßige Sozialkontakte. Viertens verringern häufig wechselnde Hobbys oder Vorlieben die Selbstkontinuität.

Und schließlich, fünftens, beeinflussen auch ungewollte einschneidende Lebensereignisse die Selbstkontinuität negativ, etwa Arbeitslosigkeit, Heimatverlust und Vertreibung, Kindheitstraumata, das Ende von Partner- und Freundschaften oder der Tod Nahestehender. Erlebnisse wie diese bringen oft große Veränderungen mit sich. Sie bedeuten nicht selten einen Bruch, der die Biografie in ein Vorher und ein Nachher unterteilt. Das kann es erschweren, ein konstantes Selbst zu erkennen.

Darüber hinaus haben alle diese Aspekte gemein, dass sie das Selbstkonzept trüben (siehe Definition unten). Fällt es Menschen schwer, ein klares Selbstkonzept zu formulieren, fällt es ihnen auch schwer, eine Kontinuität zu sehen. Es liegt auf der Hand: Wenn man keine Vorstellung davon hat, wer man ist und wer man war, kann man das Vergangenheits-Ich und das Gegenwarts-Ich auch nicht in Verbindung bringen.

Umgekehrt gibt es aber eine Reihe von Einflüssen, die unsere Verbindung zum Ich aus früheren Zeiten verstärken. So der Hang dazu, beim Erinnern das Positive zu sehen. Zwar erinnern Menschen Positives ganz grundsätzlich schneller und genauer. Manche Menschen tun das aber noch stärker als andere. Und wer die Vergangenheit positiver einschätzt, der fühlt auch eine stärkere Verbindung mit ihr.

Kultur und Kontinuitätsgefühl

Auch die Art, wie man erinnert, hat Einfluss. Einige Menschen sehen Erinnerungen als abgeschlossene Einheiten, andere wiederum sehen in ihrer Vergangenheit eine fortwährende Geschichte, einen zusammenhängenden Pfad. Letzteres stärkt das Kontinuitätsgefühl. Schließlich hat auch der Hang zu Nostalgie eine starke Wirkung. In Erinnerungen zu schwelgen stärkt das Selbstbewusstsein, die Sichtweise auf die Welt wird positiver und man fühlt sich verbundener. Einerseits mit der Welt insgesamt, es entsteht ein Gefühl von Sinnhaftigkeit; andererseits mit seinen Freunden und der Familie, man empfindet sich als sozial eingebunden und zugehörig; aber auch mit sich selbst – wer öfter einmal sehnsüchtig in die Vergangenheit blickt, spürt eine engere Verbindung mit den vergangenen Ichs.

Und schließlich spielen der Kulturkreis, in dem wir leben, und das Lebensalter eine Rolle. Die gesellschaftlichen Umstände sind zwar nicht entscheidend dafür, ob Menschen das Gefühl der Selbstkontinuität erleben, denn das ist universell – Menschen kennen es in Asien, in Europa, in Nordamerika, sie fühlen es in jungen Jahren oder auf ihre alten Tage, Männer wie Frauen –, die gesellschaftlichen Umstände spielen aber eine Rolle dabei, wodurch sich das Gefühl einstellt.

Im Jahr 2018 veröffentlichte ein Team aus 60 Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen in Self and Identity die Ergebnisse einer Studie, in der sie die Daten von 7287 Erwachsenen aus 33 Nationen ausgewertet hatten. Sie sahen: In den Kulturkreisen, in denen menschliche Eigenschaften als stabil und unveränderlich angesehen werden (etwa in Rumänien, Georgien, der Türkei oder im Libanon), stärkte es die Wahrnehmung von Selbstkontinuität, wenn die Menschen sich tatsächlich sehr ähnlich blieben, wenn sie also auch Jahre später immer noch so fröhlich oder ebenso störrisch wie früher waren.

In anderen Gesellschaften, deren Mitglieder Menschen als wandelbar ansehen (wie in Brasilien, Äthiopien, Namibia, Schweden, Neuseeland oder auf den Philippinen), speiste sich dieses Gefühl hingegen viel stärker aus der Erzählung, zu der eine Person ihre Vergangenheit verband. Der Fokus liegt bei ihnen eher auf einer stimmigen Entwicklung.

Leichter in die Zukunft schauen

So gibt es also einige Einflüsse, die entweder begünstigen oder erschweren, dass in uns das Gefühl aufkeimt, immer noch der oder die Gleiche zu sein wie einst. Wie damals in der Schule, im Sportverein, wie zur Studienzeit, während des ersten Jobs oder zu Beginn einer Partnerschaft – es kann ein sehr schönes Gefühl sein, das heutige Selbst im früheren wiederzuentdecken. Manchmal aber wollen wir gerade das auch nicht, etwa weil wir eine Facette an uns nicht mögen und gerne pünktlicher oder zuverlässiger, mutiger oder gelassener wären. Hängt es also davon ab, wie wir uns selbst sehen, ob wir Kontinuität als etwas Schönes oder etwas Schlechtes bewerten?

Emily Hong kann diese Frage gut beantworten. Die Psychologin und Forscherin an der University of Southampton hat die genannte Übersichtsarbeit zur Selbstkontinuität mitverfasst. Sie ist der Meinung, dass sie etwas ist, nach dem wir dauerhaft streben: „Wir alle wollen das Gefühl der Selbstkontinuität erleben“, sagt Hong, „denn das stärkt unseren Glauben daran, wer wir sind in der Welt.“ Wenn das Ich über die Zeit hinweg kohärent sei, wenn man es als ein Fließen erlebe von der Vergangenheit in die Gegenwart und dann weiter in die Zukunft, gebe einem das das Gefühl, eine stimmige Identität zu haben. „Ich weiß dann, wer ich bin“, sagt Hong. „Ich fühle mich zugehörig und mein Leben bekommt eine größere Bedeutung.“

Und tatsächlich bringt eine hohe wahrgenommene Selbstkontinuität zahlreiche Vorteile mit sich: Menschen erinnern die Vergangenheit positiver. Aber nicht nur die Erinnerungen werden schöner, sondern alles, was damit zusammenhängt. Wer einen alten Freund von früher trifft, schätzt ihn und die Beziehung zu ihm positiver ein. Auch getroffene Entscheidungen, Einstellungen oder Vorstellungen werden positiver bewertet, selbst wenn sie sich bis heute gewandelt haben. Wer sich auch seinem Zukunfts-Ich verbunden fühlt, verfolgt gesetzte Ziele hartnäckiger und trifft eher überlegte, vorausschauende Entscheidungen, etwa beim Anlegen von Geld oder bei der Vorsorge für die eigene Gesundheit.

Doch streben wir wirklich alle danach, irgendwie dieselben zu bleiben? Scheint nicht gerade die Veränderung im Zeitgeist zu liegen? Was ist mit jenen, die sich verändern, um alte Marotten abzulegen? Was, wenn wir mit dem Rauchen aufhören oder mit dem Joggen anfangen wollen? Wenn das Selbst also gerade nicht kontinuierlich weitermachen soll?

Wenn das Loslassen schwer fällt

Wie alles hat auch die Selbstkontinuität ihre Schattenseiten. In manchen Fällen kann es in der Tat vorteilhafter sein, sich der Vergangenheit oder Zukunft nicht so verbunden zu fühlen. Das Phänomen der sunk cost fallacy ist da ein gutes Beispiel. Forschende der Sozial- und Wirtschaftspsychologie beschreiben damit die Tendenz, dass Menschen jene Dinge besser bewerten, in die sie bereits viel Zeit, Geld oder Mühe gesteckt haben.

In einer Studie von 2021 wurden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gebeten, sich vorzustellen, dass ihre drei Jahre alte Schlafzimmertapete – das Anbringen habe einen Tag Arbeit und 400 Dollar gekostet – nun schmutzig sei. Sie standen also vor der Wahl: reinigen oder entfernen und die Wand streichen, beides zu je 90 Dollar und bei einem Nachmittag Arbeitszeit. Jene Befragten, die sich weniger mit ihrer Vergangenheit verbunden fühlten, entschieden sich häufiger dazu, die noch recht neue Tapete runterzureißen und neu zu streichen.

Das zeigt einen Vorteil jener, die sich weniger verbunden fühlen: Das Loslassen fällt ihnen leichter. Wer sein heutiges Ich nicht so stark als die Folge der vergangenen Ichs sieht, dem fällt Veränderung leichter und auch, sich selbst zu wandeln. In ihrer Übersichtsarbeit kommt Emily Hong ebenfalls zu dem Zwischenfazit, dass sich in mehreren Studien die Selbstdiskontinuität als vielversprechende treibende Kraft zur eigenen Veränderung erwiesen habe.

Es gibt auch Beispiele, bei denen die Bedeutung dessen deutlicher wird als bei der Renovierung des Eigenheims, etwa wenn jemand eine Sucht loswerden möchte. In solchen Fällen – wenn es also darum geht, ein ungewünschtes Verhalten zu ändern – hat es sich ebenfalls als vorteilhaft gezeigt, wenn Menschen weniger stark am vergangenen Selbst festhalten.

Und trotzdem muss beides kein Widerspruch sein, das ist Emily Hong wichtig. „Selbstkontinuität braucht keine Gleichheit“, sagt Hong und meint damit das, was Werner Greve über den Rhein und die Entwicklung des kleinen Werners erzählt hat. „Man fühlt sich vielleicht nicht mehr wie die Person von damals“, sagt Hong, „aber kann dennoch annehmen, dass man aus ihr gewachsen ist. Man kann das als Lebensgeschichte erzählen.“ Entwicklung statt Veränderung also.

Loslassen können oder Sinn empfinden

Es ist dies auch der Punkt, an dem die verschiedenen Sichtweisen zusammenlaufen können. Die einen wollen den Wandel, sie wollen sich ändern, an sich arbeiten. Die anderen freuen sich darüber, ihr heutiges Ich in der kleinen Grundschulversion von sich selbst wiederzuerkennen, und wärmen sich an der Idee, ihren Wurzeln treu geblieben zu sein. Doch eine Lebensgeschichte können beide erzählen – ob sie sich selbst nun als gleich geblieben oder verändert wahrnehmen.

Das eigene Selbst als Kontinuum wahrzunehmen, diese Sichtweise können beide entwickeln, und Emily Hong ist der Meinung, dass sich das auch lohnt. Fragt man sie danach, wie man es denn schafft, dieses Gefühl zu stärken, antwortet sie: „Die Forschung zeigt, dass das Erzählen von Geschichten über das eigene Leben zu einer höheren Selbstkontinuität führt.“

Die Geschichte des eigenen Lebens also: wie man in Kindheitstagen begann, welche Ereignisse einen wie prägten, wie Schule, Freunde und Eltern das Ich formten, welche Erkenntnisse in der Jugend bestimmte Charaktereigenschaften mit sich brachten und wie die weiteren großen Entscheidungen aus dieser Lebensgeschichte getroffen wurden und wiederum die anschließende Entwicklung beeinflussten. „Erzählungen helfen dabei, Lebensereignisse miteinander zu verbinden, selbst wenn sie scheinbar unzusammenhängend sind“, sagt Hong. „Und sie schaffen, dass uns das Leben etwas bedeutet. Dass wir einen Sinn empfinden.“

Zwei weitere Strategien können jenen helfen, die die Verbundenheit mit der Vergangenheit stärken möchten: Sie können ihr Selbstkonzept schärfen und der Nostalgie etwas mehr Raum im Leben einräumen. Für Ersteres ist wichtig, was Jennifer Campbell, heute emeritierte Psychologieprofessorin an der University of British Columbia, Mitte der 1990er Jahre Selbstkonzeptklarheit nannte: Demnach kann es die Verbundenheit mit Vergangenheit und Zukunft stärken, wenn man sich über die eigenen Werte und Haltungen im Klaren ist oder – falls man es nicht ist – sich diese Informationen über die eigene Person erarbeitet. Gleichermaßen hilft es, die eigenen Bedürfnisse zu kennen, zu wissen, was man mag und braucht oder was man gerne tut und was einen stört – und diese Bedürfnisse zu berücksichtigen, wenn man Entscheidungen trifft.

Es sind Strategien, die einem dabei helfen, sich selbst ein bisschen besser kennenzulernen. Nehmen Sie sich ruhig kurz Zeit, um ein wenig darüber nachzudenken. Und dann dürfen Sie sich gerne noch einmal etwas Persönliches fragen: Sind Sie immer Sie?

Selbstkonzept

Das Selbstkonzept beschreibt in der Psychologie alle Überzeugungen, die man über sich selbst hat. Etwa: Ich bin eine Frau in den Vierzigern, eher klein, recht sportlich, ich mag Basketball und Waldspaziergänge. Auch politische Ansichten oder Moralvorstellungen gehören dazu. Die engere Definition umfasst nur die Beschreibung der eigenen Person, nicht aber die Bewertung als positiv oder negativ. Das zählt wiederum zum Selbstwertgefühl.

Quellen

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Kristin Layous und Jaime L. Kurtz: Nostalgia: A potential pathway to greater well-being. Current Opinion in Psychology, 49, 2023, Article 101548. DOI: https://doi.org/10.1016/j.copsyc.2022.101548

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2023: Dinge weniger persönlich nehmen