Birte Neumann, die in Wirklichkeit anders heißt, hat lange an ihrem Traum festgehalten: einem Leben in Italien. Nach dem Studium kehrte sie Deutschland den Rücken und zog mit ihrem italienischen Mann in dessen Heimatstadt. „Ich konnte Italienisch sprechen und freute mich auf ein Leben in einer sonnigen kleinen Stadt am Meer, mit entspannten Menschen, die im Gegensatz zu den Deutschen auch mal fünfe gerade sein lassen.“
Am Anfang läuft es gut für die beiden. Ihr Mann findet sofort eine Anstellung in seinem B…
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fünfe gerade sein lassen.“
Am Anfang läuft es gut für die beiden. Ihr Mann findet sofort eine Anstellung in seinem Beruf. Birte Neumann arbeitet als Übersetzerin, Touristenführerin und Deutschlehrerin. Und sie genießt es, ihre kleinen Kinder in der kinderfreundlichen Atmosphäre eines süditalienischen Städtchens aufzuziehen, wo man sich abends auf der Piazza trifft und keine bösen Blicke erntet, wenn man auch die lieben Kleinen mitbringt. „Es war eine wunderbare Zeit“, sagt Neumann.
„Ich war ganz anders als die anderen Eltern“
Doch spätestens als das erste Kind in die Grundschule kommt, beginnt die Norddeutsche, mit Süditalien zu fremdeln. „Man selbst kann sich mit vielem arrangieren. Aber seine Kinder gibt man an das Bildungssystem ab.“ Ihr Sohn ist der Einzige an der ganzen Schule, der nicht am Religionsunterricht teilnimmt, der Einzige, der mit dem Fahrrad gebracht wird, und sie die einzige Mutter, die es kaum aushält, dass die Kinder die Pausen im Klassenzimmer verbringen müssen. Auf dem Elternabend bemerkt sie: „Ich war ganz anders als die anderen Eltern.“
Zudem wird immer deutlicher, dass es sich in Italien zwar gut lebt, aber für sie kaum eine gute Arbeit zu finden ist. Birte Neumann hangelt sich von Übersetzung zu Übersetzung, von Schuljahr zu Schuljahr. „Ich hatte wenig Hoffnung auf eine feste Anstellung mit einem vernünftigen Gehalt. Wer in Süditalien weiterkommen will, muss die richtigen Leute kennen. Ohne Beziehungen geht gar nichts.“ Und schlimmer noch: Birte Neumann befürchtet, dass auch ihre Kinder in Italien kaum Zukunftsaussichten haben. Sie macht sich Sorgen, doch sie weiß auch, dass es eine Alternative für sie und ihre Familie gibt: den Lebenstraum aufzugeben und nach fast zehn Jahren nach Deutschland zurückzukehren.
In unserer Gesellschaft dreht sich alles darum, den eigenen Weg zu gehen, Schwierigkeiten zu überwinden und den eigenen Lebenstraum zu verwirklichen. Egal was es ist – einen Marathon laufen, einen Roman schreiben, den Traumjob ergattern oder als glückliches Paar für immer zusammenbleiben –, wer etwas erreichen will, sollte nicht bei der ersten Schwierigkeit die Flinte ins Korn werfen. Ohne Leistungsbereitschaft und Durchhaltevermögen gäbe es keinen Fortschritt, keine Erfindungen, keine Nobelpreise. Die US-Psychologin Angela Duckworth nennt das grit – Englisch für Biss, eine Mischung aus Durchhaltevermögen und Hingabe an das Ziel. Duckworth hat Grit im Berufsleben, an Schulen, Universitäten und im Militär untersucht und festgestellt: Entscheidend für den Erfolg einer Person war nicht etwa ihr Talent oder ihre Gewissenhaftigkeit, sondern letztendlich ihr Biss.
Mit dem Kopf durch die Wand
Doch was ist, wenn man trotz aller Beharrlichkeit nicht weiterkommt? Wenn man das Ziel, das einem so wichtig ist, womöglich nie erreichen wird? Oder wenn man dafür einen sehr hohen Preis zahlen muss? Dann stellt sich die Frage, ob es überhaupt noch Sinn hat weiterzumachen oder ob es nicht besser wäre, einfach aufzugeben.
Goal Disengagement heißt die Ablösung von einem Ziel – ein Thema, das in der Motivationsforschung erst in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit erhält. Wie gut uns das Aufgeben eines Ziels gelingt, ist von Mensch zu Mensch verschieden. Carsten Wrosch, Psychologieprofessor an der Concordia University Montreal, entwickelte mit Kollegen den Goal Adjustment Scale, einen Fragebogen, mit dem sich ermitteln lässt, wie gut jemand seine Ziele den Gegebenheiten anpassen kann. „Manche wollen mit dem Kopf durch die Wand. Anderen gelingt es, dass das Ziel für sie an Bedeutung verliert. Das bleibt im Lebensverlauf relativ stabil. Allerdings lernen Menschen, wenn sie älter werden, sich besser von Zielen zu lösen.“
Die Fähigkeit, Ziele auch wieder aufzugeben, hat offenbar erheblichen Einfluss auf unsere körperliche und psychische Gesundheit. In einer Langzeitstudie befragten Carsten Wrosch und sein Team immer wieder ältere Menschen zu ihrer Stimmung. Bei den Befragten, die altersbedingte Einschränkungen erlebten, beispielsweise nicht mehr allein das Haus verlassen oder sich selbst waschen konnten, nahmen die depressiven Symptome deutlich zu. Das galt aber nur für diejenigen, die die neuen Lebensumstände nicht akzeptieren konnten. Diejenigen, denen es gelang, sich neu zu orientieren, litten deutlich weniger unter negativen Verstimmungen.
Zu dem gleichen Ergebnis kamen Studien, die das Verhalten von Menschen in anderen schwierigen Lebenssituationen untersuchten. Die Befragten hatten Schicksalsschläge erlebt, die plötzlich ihre bisherigen Lebensentwürfe und Ziele infrage stellten, zum Beispiel Eltern krebskranker Kinder oder Frauen, die eine Brustkrebserkrankung überstanden hatten. Auch hier zeigte sich: Wer seine Ziele besser an die veränderte Situation anpassen konnte, litt weniger unter depressiven Symptomen. Sogar körperlich ging es diesen Menschen besser. So hatten sie niedrigere Werte des Stresshormons Kortisol oder eines Entzündungsproteins im Blut. Beide Marker können einen Hinweis auf mögliche spätere Erkrankungen geben.
Ein Familienleben wieder einpacken
Auch Birte Neumann entwickelte in den Jahren in Italien eine chronische Entzündungskrankheit – die dann plötzlich verschwand, als sie zurück in Deutschland war. Neumann ist froh, damals die Reißleine gezogen zu haben. Ein ganzes Familienleben einzupacken, über 2000 Kilometer nach Norden zu verfrachten und noch einmal neu anzufangen sei ein Kraftakt gewesen. Doch bereits bei ihrem ersten Job in Deutschland habe sie dreimal so viel verdient wie in Italien. „Wir sind gegangen, als wir es noch selbst entscheiden konnten. Ich hätte es gehasst, durch die äußeren Umstände dazu gezwungen zu werden und nicht mehr die Wahl zu haben.“ Umsonst seien die Jahre in Italien aber nicht gewesen. „Wir haben es probiert. Das ist wichtig“, sagt Neumann. Dank der Auslandserfahrung wisse sie heute ihr Leben hier viel mehr zu schätzen.


In seiner mindset theory of action phases geht der Motivationspsychologe Peter Gollwitzer davon aus, dass unser auf ein Ziel gerichtetes Handeln üblicherweise in vier Phasen abläuft: Zunächst wägen wir ab, dann kommen wir ins Planen, darauf ins Handeln und schließlich folgt die Bewertung. Die am Anfang stehende Phase des Überlegens bezeichnet Gollwitzer als deliberative mindset.
Wir schützen uns vor Zweifeln
Haben wir uns im Abwägungsprozess für ein Ziel entschieden, schaltet unser Gehirn um in ein implemental mindset, eine Bewusstseinslage, die auf Umsetzung ausgerichtet ist. Ab jetzt nehmen wir vor allem bestätigende Informationen wahr. Alles, was darauf hindeutet, dass das Ziel vielleicht doch gar nicht so attraktiv und erstrebenswert ist oder möglicherweise überhaupt nicht erreicht werden kann, blenden wir aus. So schützen wir uns vor Zweifeln.
Geht es nicht um eine neue Zielsetzung, sondern darum, von einem bereits angestrebten Ziel abzulassen, droht eine Denkfalle: Umso mehr Zeit, Anstrengungen oder Geld wir bereits in ein Projekt gesteckt haben, desto schwerer fällt es uns, es loszulassen. Dieses Phänomen wird auch als sunk cost fallacy bezeichnet, der Irrtum der verlorenen Kosten. Wir möchten die Zeit, das Geld oder was sonst wir bereits investiert haben, ungern verlorengeben. Wer beispielsweise länger vergeblich auf den Bus wartet, folgert daraus, dass es sich nicht mehr lohnt, die Strecke einfach schnell zu Fuß zu gehen, und wartet weiter.
Sunk cost fallacy
Sunk cost fallacy (auch sunk cost effect genannt) bezeichnet die Tendenz, ein Vorhaben weiter zu verfolgen, weil bereits Investitionen in Form von Geld, Zeit, Arbeit getätigt wurden. Dies führt zu verzerrten und irrationalen Entscheidungen, die in weitere Aktivitäten münden. Vereinfacht gesagt: Gutes Geld wird schlechtem hinterhergeworfen. Als Ursache für dieses aus ökonomischer Sicht negative Verhalten gilt die Verlustaversion, ein psychologischer Effekt, bei dem Verluste subjektiv schwerer wiegen als Gewinne.
Roman Soucek, Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Medical School Hamburg, spricht auch von „eskalierendem Commitment“. Ihn interessiert, warum wir, wenn wir uns einmal festgelegt haben, an einem Ziel festhalten und weitere Ressourcen investieren, selbst wenn sich abzeichnet, dass man es wahrscheinlich nicht erreichen kann. Soucek zufolge geschieht das im Privatleben ebenso wie in Unternehmen oder in der Politik. Gegen jede Vernunft werden ungünstige Investitionen fortgesetzt, bei Militäreinsätzen ebenso wie in unglücklichen Beziehungen.
Neuer Turnschuh, eigene Verantwortung
Das Gemeine daran: ein eskalierendes Commitment ist ein schleichender Prozess. „Am Anfang brauche ich natürlich Ausdauer, um Startschwierigkeiten zu überwinden. Doch umso mehr ich mich bemühe und umso mehr ich investiere, desto mehr identifiziere ich mich auch mit diesem Ziel und desto weniger merke ich, dass ich es wahrscheinlich nicht erreichen werde“, erklärt Soucek. Statt innezuhalten und abzuwägen, ob es sich überhaupt noch lohnt, an diesem Ziel festzuhalten, werden die Anstrengungen noch weiter erhöht. Wir blicken in die Vergangenheit statt in die Zukunft.
In einer Studie stellte Soucek die Testpersonen vor die Aufgabe, einen neuen Turnschuh zu entwickeln. Nach jeder Runde erhielten sie ein negatives Feedback, um sie zunehmend unter Druck zu setzen. Eine Beobachtung, die Soucek dabei machte: Denjenigen, die selbst über den neuen Turnschuh entscheiden konnten und persönlich Verantwortung trugen, fiel es deutlich schwerer, den einmal eingeschlagenen Weg zu verlassen, als denjenigen, die lediglich die Entscheidungen eines anderen auszuführen hatten.
Denn wenn Zweifel aufkommen, geraten wir schnell in eine Selbstrechtfertigungsfalle: „Ich müsste mir eingestehen, dass ich eine falsche Entscheidung getroffen habe oder dass ich mich übernommen habe. Um den Schein vor mir selbst zu wahren, mache ich einfach weiter wie bisher“, erklärt Roman Soucek. Dabei verändert sich auch unsere Motivation: Anfangs überwiegt die Hoffnung, das Projekt zum Erfolg zu bringen. Doch mit immer mehr Rückschlägen werden wir zunehmend davon angetrieben, einen Misserfolg zu vermeiden, und entwickeln einen Tunnelblick.
Grundlage für das Modell des eskalierenden Commitments ist die prospect theory, die Daniel Kahneman und Amos Tversky bereits Ende der 1970er Jahre entwickelten. Damit widersprachen sie der bis dahin geltenden Annahme, dass Menschen in wirtschaftlichen Fragen ausschließlich rational handeln. Kahneman und Tversky zeigten, dass wir Verluste unverhältnismäßig höher bewerten als Gewinne – die sogenannte Verlustaversion – und sie entsprechend versuchen zu vermeiden.
Ein psychisches Erdbeben
„Manchmal kostet uns das Streben nach einem Ziel viel. Zugleich schrecken wir vor den Konsequenzen zurück, die es haben würde, wenn wir das Ziel aufgeben“, beschreibt Veronika Brandstätter das Dilemma. Die Psychologieprofessorin an der Universität Zürich beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit Goal Disengagement. Sie verweist darauf, dass die eigene Identität stark mit den zentralen Lebenszielen verknüpft ist. Je wichtiger ein Ziel für unser Selbstbild sei, desto schwieriger werde es, dieses aufzugeben. Außerdem spielten die sozialen Erwartungen eine wichtige Rolle: „Man wird vielleicht als diese ‚besonders engagierte und leistungsorientierte Frau‘ wahrgenommen.“ Gibt man auf, muss sich auch das Bild, das andere von einem haben, verändern. „Man steht zunächst mit leeren Händen da, das ist zutiefst verunsichernd. Eric Klinger nannte es sogar ein ‚psychisches Erdbeben‘.“
Bei Anna Janfeld, die in Wirklichkeit anders heißt, war es die Hingabe an ihren Beruf, die gewissermaßen eskaliert ist. „Mein Lebenstraum hat sich schleichend zu einem Albtraum entwickelt“, sagt die junge Ärztin. Dabei schien alles zu stimmen. Ihre Eltern waren Ärzte, ihre Großeltern ebenso. Selbstverständlich würde sie einmal den gleichen Beruf ergreifen. „Diese Erwartung wurde gar nicht ausgesprochen, es war einfach klar, dass ich die Praxis übernehme“, erzählt die 34-Jährige. Also strengt sich Janfeld in der Schule an, macht ein ausgezeichnetes Abitur und studiert.
Im Praktikum in einer Klinik stellt sie dann fest, dass ihre Ideale wenig mit der Realität zu tun haben. „Im Gesundheitssystem geht es viel um Wirtschaftlichkeit. Patienten sind Abrechnungsnummern. Täglich müssen wir Kosten gegen Nutzen abwägen. Und alle fürchten die Quartalsabrechnung.“ Trotz ihrer tiefen Enttäuschung macht Anna Janfeld weiter, erst drei Jahre lang im stressigen Alltag einer großen Klinik, dann im Labor einer Arztpraxis, wo sie viel Verantwortung übernimmt.
Auch dort sei der Druck enorm gewesen: viel Arbeit, wenig Personal, was sich in der Coronapandemie weiter verschärfte. „Ständig war jemand krank, die Lieferketten waren unterbrochen, kaputte Geräte konnten nicht sofort repariert werden. Ich habe die ganze Zeit kompensiert, damit wir es irgendwie schaffen“, erinnert sich Anna Janfeld. Sie macht weiter und weiter und hört nicht auf ihren Mann, der längst die Alarmzeichen sieht.
Bereits 1975 veröffentlichte der renommierte US-Psychologe Eric Klinger einen Artikel über Goal Disengagement, in dem er vier Phasen der Ablösung beschreibt. Wenn es schwieriger wird, ein Ziel zu erreichen, beißen wir demnach zunächst die Zähne zusammen und verstärken unsere Anstrengungen. Wenn auch das nichts bringt, machen sich Frustration und Ärger breit, die schließlich in Resignation übergehen. Der Zustand deprimierter Gleichgültigkeit hilft uns, das Ziel endgültig loszulassen. In einem letzten Schritt erholen wir uns, orientieren uns um und verfolgen neue Pläne.
Die Phasen der Ablösung
„Nicht jeder Ablöseprozess wird genau in diesen vier Phasen ablaufen“, sagt Cathleen Kappes, Psychologin an der Universität Hildesheim. „Aber ich gehe davon aus, dass die Prozesse, die bei der Ablösung von einem Ziel im Hintergrund laufen, prinzipiell immer dieselben sind.“ Kappes vergleicht die Vorstellung, die wir von unserem Ziel haben, mit einem Netz aus Informationen, Assoziationen und Bildern, die alle stark miteinander verbunden sind. Wenn wir uns von einem Ziel lösen, dann sei das, als würden allmählich die Bilder und Informationen sowie die Verbindungen zwischen ihnen verblassen.
Cathleen Kappes versucht, den Prozess des Aufgebens auch im Experiment darzustellen. So lässt sie ihre Probandinnen beispielsweise Cyberball spielen: ein einfaches Computerspiel, bei dem man einen Ball zugeworfen bekommt und weitergeben muss. Es entsteht unweigerlich ein Gruppengefühl, auch wenn die beiden anderen Spieler computergeneriert sind. Und hier setzen die Forschenden an: Nach zwei, drei Würfen ist Schluss. Fortan werfen sich die beiden anderen Spieler den Ball untereinander zu, die Testperson wird ausgeschlossen. Cathleen Kappes hat es selbst ausprobiert: „Das fühlt sich nicht gut an.“
Wie gehen Menschen damit um, dass ihnen der Ball nicht mehr zugespielt wird? Wenn sie das Ziel, dazuzugehören, nicht erreichen können? Kappes stellte fest: Sie lösen sich, indem sie dem Spiel immer weniger Bedeutung beimessen. Wer das Spiel mit den anderen als völlig unbedeutend abhaken konnte, quälte sich am Ende auch nicht mehr mit negativen Gefühlen. „Je mehr sie die Verbundenheit mit den anderen abwerteten, desto besser ging es ihnen danach“, fasst Kappes zusammen. Ein trotziges „Wenn ich nicht mitspielen darf, dann sind die anderen blöd!“ hilft also durchaus, um unsere Gefühle zumindest für den Augenblick zu regulieren.
Das Aufgeben eines Ziels geschieht Kappes zufolge auf drei Ebenen: emotional, kognitiv und im Verhalten. Und jede Ablösung verläuft ein wenig anders, beispielsweise in Partnerschaften. Man kann die Beziehung beenden und den Partner verlassen und braucht dennoch möglicherweise Jahre, um sich auch emotional abzulösen. Umgekehrt kann man sich bereits innerlich von der Partnerin verabschiedet haben und dennoch lange zögern, bis man die Trennung dann in die Tat umsetzt.
Mal Zuversicht, mal Zweifel
Diesen zentralen Konflikt – gehen oder bleiben? – bezeichnet Veronika Brandstätter als Handlungskrise: „Man hat schon einiges investiert, um ein Ziel zu erreichen, vor allem Zeit und psychische Energie. Doch dann erlebt man immer wieder Rückschläge und es kommen Zweifel auf. Die Zielablösung wird eine Option.“ In Befragungen unter Studierenden und Führungskräften stellte Brandstätter fest, dass Handlungskrisen weit verbreitet sind und über lange Zeiträume bestehen bleiben können. Typisch für eine ausgeprägte Handlungskrise sei ein Hin- und Herschwanken, so Brandstätter. „Es gibt Phasen, in denen schöpft die Person wieder Zuversicht und gibt Gas. Dann gibt es Rückschläge, die Zweifel werden wieder größer und die Handlungsenergie erlahmt.“
„Wenn ich neben allen Rückschlägen immer mal wieder erlebe, dass ich im Beruf ein Stück vorankomme oder mein Partner doch auch nett ist, dann bleibe ich dran“, betont auch Cathleen Kappes. Gerade diese seltenen Hoffnungsschimmer machen offenbar die Trennung umso schwerer. Der Effekt nennt sich „intermittierende Verstärkung“ und ist beispielsweise aus dem Glücksspiel bekannt. An eine Belohnung, die man regelmäßig und in erwartbarer Weise erhält, gewöhnt man sich, sie verliert an Bedeutung. Wer dagegen gelegentlich und unvorhersehbar von einem Gewinn überrascht wird, erlebt ein starkes Belohnungsgefühl, das sogar süchtig machen kann.
Es kann immer mal was dazwischen kommen
Auch Anna Janfeld hätte wohl immer weitergearbeitet, „bis zum Umfallen“, wie sie sagt. „Ich hatte acht Kilo abgenommen, konnte nachts nicht schlafen und mich tagsüber nicht mehr konzentrieren. Ich war völlig erschöpft und niedergeschlagen. Ich habe in meinem benebelten Zustand einfach funktioniert.“ Es ist schließlich ein Erkältungsinfekt, der sie zu ihrer Hausärztin führt. Diese überweist Janfeld sofort an einen Psychiater. Die Diagnose: Depression. Heute schüttelt sie den Kopf: „Es ist absurd, dass gerade Menschen, die im Gesundheitsbereich arbeiten, so wenig auf ihre Gesundheit achten. Die meisten Ärzte halten es für normal, dass sie völlig überlastet sind.“
Anna Janfeld beginnt eine Therapie und begreift allmählich, dass sie nicht mehr als Ärztin arbeiten kann. Doch sie kämpft mit Schuldgefühlen ihrer Familie gegenüber. Auch gesellschaftlich sei es nicht gut angesehen, wenn man einen helfenden Beruf – eine Berufung! – einfach aufgeben würde, meint sie. Und vor allem: „Wer bin ich, wenn ich nicht mehr Ärztin bin?“ Schon als Schülerin habe sie sich mit diesem Beruf identifiziert.
„Seit ich 15 bin, ist mein Leben auf einem vorgeschriebenen Pfad verlaufen. Alles war so klar. Jetzt öffnet sich plötzlich der Horizont. Ich treibe wie ein Schiff auf offenem Meer. Das ist eine neue Freiheit, aber die Unsicherheit ist mir unheimlich.“ Anna Janfeld ist dabei, sich neu zu orientieren und einen anderen Beruf für sich zu finden. Es ist das erste Mal in ihrem Leben, dass sie über Alternativen nachdenkt. „Wenn man große Ziele hat, kann immer etwas dazwischenkommen. Man kann zum Beispiel krank werden. Es ist wichtig, offen zu bleiben. Das lerne ich gerade.“
Winners never quit and quitters never win, so lautet ein Spruch des American-Football-Trainers Vince Lombardi. Aufgeben wird in den meisten Fällen als ein schamvolles Scheitern und Versagen erlebt. „Diese Haltung verstellt den Blick auf eine wichtige Kompetenz. Denn manchmal ist die Zielablösung die weisere Entscheidung“, betont Veronika Brandstätter. „Letztendlich ist Aufgeben eine Facette von gelingendem Zielstreben.“ Das sieht auch Cathleen Kappes so. „Es ist kein Scheitern, wenn ich rechtzeitig erkenne, dass es nicht in die richtige Richtung geht“, gibt sie zu bedenken. „Ich spare Ressourcen, statt sie weiterhin in dieses sinnlose Ziel zu vergeuden. Damit werden Zeit und Energie frei für andere Dinge.“
Attraktive Alternativen
Dranbleiben und Aufgeben, das sind zwei Seiten einer Medaille. Tatsächlich scheinen manche Menschen beides gut zu können. Sie setzen sich Ziele, die gut zu ihnen passen, die zwar durchaus anspruchsvoll sind, aber ihre Fähigkeiten nicht übersteigen. Außerdem streben sie nach Dingen, die ihren Wünschen und dem eigenen Wertesystem entsprechen und die ihnen bestenfalls nicht von außen übergestülpt wurden. „Wofür lohnt es sich, sich anzustrengen? Was sind sinnvolle, erreichbar Ziele? Einigen Menschen, die ihre Ziele gut auswählen, gelingt es auch besser, sich neue Ziele zu setzen, wenn zu viele Hindernisse entstehen“, sagt Cathleen Kappes.
Selbst die Apologetin des Durchhaltens, Angela Duckworth, stellte im Laufe ihrer Studien fest, dass Grit offenbar nicht alles ist. Über zehn Jahre begleitete die Psychologin die Ausbildungsjahrgänge an der renommierten US-Militärakademie West Point. Sie wollte unter anderem wissen, warum 19 Prozent keinen Abschluss machten. Zahlreiche Kadetten brachen bereits in den ersten Ausbildungswochen ab, die als besonders hart gelten. Ihnen fehlte der Grit, wie die von Duckworth durchgeführten Tests zeigten.
Später stiegen vor allem Kadetten aus, die in Prüfungen schlechter abschnitten. So weit, so absehbar. Doch Duckworth stellte fest, dass auch Kadetten mit besonders guten Leistungen häufiger ausschieden. Grit spielte in diesen Fällen aber keine Rolle. Die besonders Leistungsstarken brachen die Ausbildung deshalb ab, weil sich ihnen attraktive Alternativen boten, vermutet die Psychologin. Mit anderen Worten: Aufgeben war für sie die bessere Option.
Vielleicht wird es Zeit für ein Umdenken und eine andere Fehlerkultur, so wie sie beispielsweise bei den sogenannten fuck up nights zelebriert wird. Bei diesen Veranstaltungen, die in den letzten Jahren in vielen Städten entstanden sind, erzählen Unternehmerinnen, Selbständige und andere Macher und Macherinnen öffentlich über ihre beruflichen Niederlagen. Das ist nicht nur unterhaltsam, man kann aus ihren Fehlern auch viel lernen. Und natürlich ist es sehr ermutigend, zu erfahren, dass selbst erfolgreiche Menschen schon einmal ein Scheitern erlebt haben. Das Leben müsse nicht immer gradlinig verlaufen, betont Cathleen Kappes: „Man muss auch etwas ausprobieren dürfen.“ Und, wenn nötig, rechtzeitig aufgeben können. Frei nach Lombardi könnte es dann heißen: First quit, then win.
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Quellen
Veronika Brandstätter, Katharina Bernecker: Persistence and disengagement
in personal goal pursuit. Annual Review of Psychology, 73, 2022, 271–299
Cathleen Kappes, Kaspar Schattke: You have to let go sometimes: advances in understanding goal disengagement. Motivation and Emotion, 46/6, 2022, 735–751
Eric Klinger: Consequences of commitment to and disengagement from incentives. Psychological Review, 82, 1975
Farina Rühs, Werner Greve, Cathleen Kappes: Inducing and blocking the goal to belong in an experimental setting: goal disengagement research using Cyberball. Motivation and Emotion 46, 2022. S:806-824
Carsten Wrosch, Michael F. Scheier: Adaptive self-regulation, subjective well-being, and physical health: The importance of goal adjustment capacities. Advances in Motivation Science 7, 2020. S:199-238
Michael Ziegler, Roman Soucek & Klaus Moser: Eskalierendes Commitment: Warum Menschen an fehlgehenden Handlungssträngen festhalten. Report Psychologie, 45(6), 2020. S:8–10.
Zita Mayer & Alexandra M. Freund: Better off without? Benefits and costs of resolving goal conflict through goal shelving and goal disengagement. Motivation and Emotion 46, 2022. S:790–805