„Ich liebe auch das Groteske am Menschsein“

Psychologie und Literatur: Eva Menasse schreibt über die NS-Zeit. Sie inspiziert die vielen Seiten der Wahrheit und bedient sich eines grotesken Humors.

Die Schriftstellerin Eva Menasse sitzt im Schneidersitz auf dem Boden in einer Altbauwohnung, hinter ihr mehrere Stapel Bücher
Eva Menasse arbeitete als Journalistin und ist seit Mitte der 2000er als Schriftstellerin tätig. Sie ist Sprecherin des 2022 ­gegründeten PEN Berlin. © Lena Giovanazzi für Psychologie Heute

Eva Menasse wirbelt durch ihre Küche, stellt lautlos Tassen auf den Tisch, hantiert mit der Kaffeemaschine. Zwischendurch klingelt es zweimal, Post, die Autorin quittiert Pakete. Sie nehme oft auch die Sendungen für andere im Haus an, man wisse halt, dass sie ganz häufig am Schreibtisch anzutreffen sei, erzählt Menasse, während sie Milch aufschäumt. In Jeans, Bluse und langer Strickjacke wirkt sie lässig.

Gleichzeitig spricht sie von der ersten bis zur letzten Minute des Treffens konzentriert und druckreif,…

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Gleichzeitig spricht sie von der ersten bis zur letzten Minute des Treffens konzentriert und druckreif, wechselt im Ton zwischen spöttisch, fürsorglich und pointiert. Gegensätzlichkeiten finden sich auch in Menasses Texten. Ihre Romane Vienna und Quasikristalle offenbaren neben einer unterhaltsamen Ebene immer auch schwer aushaltbare Szenen von Gewalt, oft geht es um die Traumata, die der Holocaust über Generationen hinterlassen hat.

Auch in ihrem jüngsten Roman Dunkelblum wird dieses Thema aufgegriffen. Es ist das Porträt des scheinbar fiktiven Dorfs Dunkelblum, mit dem sich die Autorin auf den Ort Rechnitz im Südosten Österreichs bezieht. Dort wurden 1945, wenige Tage vor Kriegsende, etwa 200 ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter erschossen, von SS-Männern, die dazu von einem Fest im Schloss weggerufen wurden und anschließend zum Feiern zurückkehrten. Eva Menasse interessiert, wie sich die Dorfbewohner gut 40 Jahre später zu dem Massaker positionieren, welche sichtbaren und unsichtbaren Spuren sich verfolgen lassen. Mehrere Jahre hat sie an dem Stoff gearbeitet.

Die Schriftstellerin Eva Menasse, sitzt lässig auf einem Stuhl vor einer großen Bücherwand und hält dabei eine Tasse in der Hand
Die Schriftstellerin Eva Menasse sitzt lässig, mit einer Tasse in der Hand, vor ihrer Bücherwand

Frau Menasse, in Ihren Romanen beschäftigen Sie sich immer wieder mit den kollektiven und individuellen Traumata der Vergangenheit, es geht um Verdrängung und Erinnerung. Was interessiert Sie daran?

Diesem Themenkomplex entkomme ich nicht, habe ihn familiär übergestülpt bekommen. Relativ spät, als pubertierendes Mädchen habe ich das Geheimnis meiner Familiengeschichte entdeckt. Man hat uns mit der Vertreibungs- und Verfolgungsgeschichte unseres jüdischen Vaters in der Kindheit nicht behelligen wollen, hat uns lange nichts erzählt. Die Erkenntnis, dass das Leben meines Vaters so eng mit der nationalsozialistischen Gewaltgeschichte verknüpft ist, war für mich dramatisch.

Ihr Vater floh mit einem Kindertransport im Jahr 1938 aus Wien, als die Nazis dort Juden verschleppten und ermordeten. Er kam nach England.

Ja, er war acht Jahre alt, als er auf diese Weise von seinen Eltern getrennt wurde. Natürlich gab es in meiner Kindheit bereits Ungereimtheiten, die ich hätte hinterfragen können: Wir wussten zum Beispiel, dass unser Vater perfekt Englisch sprach, hörten ihn immer wieder auf Englisch telefonieren. In den 1970er Jahren konnte das in Wien niemand, aber man denkt als Kind darüber nicht nach, sondern ist einfach gedankenlos stolz. Es ist der Vater, der noch etwas anderes Tolles kann, außer dass er Fußballspieler ist und berühmt. Es war dann ein großes Erschrecken, dass ich von seiner belastenden Kindheit gar nichts gewusst habe. Ich erfuhr davon, als ich zwanzig war. Umso mehr habe ich mich darauf gestürzt.

Ich begann mich um meine Familiengeschichte zu kümmern: Nach dem Tod meiner Großmutter habe ich mir ihre Schatulle mit Dokumenten und Briefen angeeignet, eine Schatzkiste. Ich fing an, mit meinem Vater und meinem Onkel Gespräche zu führen. Ich wurde Journalistin, studierte Geschichte. In meinen ersten Roman Vienna flossen die traumatische Verfolgung und Vertreibung meiner Familie väterlicherseits mit ein.

Das Bewusstwerden über die traumatische Familiengeschichte war also auch ein Wendepunkt in Ihrer eigenen Biografie?

Ich habe jedenfalls schnell verstanden, was dieses neue Wissen für meine Identität bedeutet: Ich bekam an unterschiedlichen Reaktionen zu spüren, dass ich nun in einem ständigen Dazwischen lebe. Im Studium hatte ich einerseits jüdische Freunde, von denen mir einer das Thema entsorgen wollte, indem er sagte: „Ach, das muss dich nicht kümmern, deine Mutter ist ja gar keine Jüdin.“ Eine andere Bekannte, eher österreichisch-konservativ, wollte es mir von der anderen Seite wegnehmen. Sie fragte: „Was interessiert dich denn jetzt so eine alte Geschichte?“ Mich beschäftigt das bis heute. Immer wieder sprechen mir Menschen meine Familienbiografie und meine Identität ab, zu der ich mich mühsam vorgetastet habe. Schon lange prägt mich die Erfahrung, dass Identität etwas Uneindeutiges ist.

Mit Identität, kollektivem Trauma oder Antisemitismus beschäftigen Sie sich nicht nur in Romanen, sondern auch in öffentlichen Debatten. Wie unterscheiden sich die beiden Formen der Auseinandersetzung für Sie?

In Büchern hat man die allergrößte Freiheit. Beim Schreiben ringe ich nicht mit anderen um Positionen. Ich bin allein mit mir, kann machen, was ich will, durchspielen, was mir wichtig ist. Ich kann Protagonisten mit allen möglichen Eigenschaften ausstatten und gucken, was passiert, wenn sie aufeinandertreffen. Schreiben ist ein kontrolliertes Experimentieren mit den großen Fragen, die mich beschäftigen. Diesen Prozess empfinde ich als mein angestammtes Habitat. Ich hasse es, wenn ich bei öffentlichen Auftritten als „streitbare Schriftstellerin“ angekündigt werde. Denn ich melde mich wirklich nur zu Wort, wenn ich finde, dass in der öffentlichen Debatte eine Stimme komplett fehlt. Am liebsten möchte ich also ganz unstreitbar in meinem Zimmer sitzen und Geschichten entwickeln. Diese Auseinandersetzung ist spielerischer, weniger aggressiv.

Können Sie beschreiben, wie Sie beim Schreiben konkret vorgehen?

Ich gehe nicht sehr planvoll vor. Für Dunkelblum habe ich mich zunächst monatelang mit historischen Fakten angefüllt. Ich habe über Rechnitz und die umgebenden Dörfer recherchiert und versucht, alles über die Situation der jüdischen Bevölkerung und der Zwangsarbeiter zu erfahren. Dazu saß ich in der Stabi am Potsdamer Platz, habe gelesen, gelesen, gelesen. Ich war fanatisch, konnte nicht mehr aufhören. Ich kenne diese obsessiven Phasen von mir, in denen ich mich verbeiße, in denen ich immer mehr wissen will. Irgendwann kommt der Prozess zum Ende. Wann es so weit ist, kann ich mir nicht verordnen, es ist dann einfach genug – so wie man plötzlich genug gesessen hat.

Danach kommt eine Phase, in der ich alle Fakten wegschieben und verdauen muss. Erst dann kann ich es fiktionalisieren. Ich gehöre nicht zu denen, die einfach losschreiben und dann tausendmal umarbeiten. Ich muss auf einen ersten Satz kommen, dann auf den zweiten und auf den dritten. Und ich fange dann jeden Tag von vorne an zu lesen. Ich nenne es das Durchmessen und Durchfühlen des Textes. Manchmal bin ich an einem Arbeitstag Stunden mit dem beschäftigt, was schon da ist, um dann in der letzten halben Stunde eine neue Seite dranzuschreiben. Die Dinge wachsen mir auf diese Weise organisch zu, neue Figuren fügen sich ein. Es kommt eine Vielstimmigkeit zustande, unterschiedliche Sichtweisen bekommen Raum.

Das Spiel mit verschiedenen Perspektiven findet man in allen Ihren Romanen. In Quasikristalle erzählen Sie das Leben der Filmemacherin Xane Molin nur aus der Sicht von Personen, die dieser Frau begegnen. Ein Vermieter, eine Schulfreundin, der Sohn kommen zu Wort. Warum diese Fragmentierung?

Ich mag es, wenn die Leserinnen und Leser mitarbeiten müssen, ihnen die Auflösung nicht vorgekaut wird. Und natürlich ist es auch ein ästhetisches Prinzip der postmodernen Literatur, dass man Geschichten nicht mehr abgeschlossen erzählen kann, weil die Welt zu überfordernd und vielgestaltig ist. Ich bin oft gefragt worden, wie ich auf die mosaikartige Form in Quasikristalle gekommen bin. Die Frage hat mich wirklich sehr erstaunt, denn ich kann die Welt nur so sehen. Mir ist immer klar, dass wir jeden Tag viele verschiedene Rollen spielen, uns je nach Situation mal dominant oder ängstlich, mal kühl oder warmherzig zeigen. Selbst meine Art zu diskutieren verändert sich, je nachdem mit wem ich spreche. Ich glaube, dass meine Romane ein Ausdruck dieser Weltsicht sind.

In Psychotherapien wird mit Perspektivwechseln gearbeitet, um den Blick zu erweitern. Man versetzt sich dann zum Beispiel in die Rolle der eigenen Mutter oder eines Partners, mit dem man Probleme hat. So kommt man von der Egozentrik weg. Geht es Ihnen auch darum?

Ich halte es sogar privat so: Wenn ich mich über jemanden wahnsinnig ärgere oder ihn wirklich nicht leiden kann, versuche ich mich immer zu fragen: „Wie sieht er das jetzt?“ Das hilft mir, damit zurechtzukommen. Den Anstoß dazu hat mir der Roman Wer die Nachtigall stört von Harper Lee gegeben. Dort gibt es diesen Satz, in dem gefordert wird, „in die Schuhe des anderen“ zu steigen. Das war für mich ein therapeutischer Moment, die Erkenntnis hat sich bei mir festgesetzt. In der Zeit habe ich Quasikristalle begonnen. Aber auch in Dunkelblum gibt es viele Szenen, in denen ich mir die Welt aus Sicht der unterschiedlichsten Personen im Dorf anschaue.

Es braucht allerdings auch Zeit und Sorgfalt, um mit anderen Menschen oder Romanfiguren die Perspektive zu wechseln. Fällt Ihnen das beim Schreiben schwer?

Mich interessiert genau das. Durch das Multiperspektivische bekomme ich beim Schreiben oft ganz neue Einblicke. ­­In Dunkelblum gibt es zum Beispiel eine Szene, in der Studentinnen und Studenten in den Ort kommen, um die jüdischen Gräber zu pflegen. Sie kommen von außen, als Fremde, mit der Haltung: „Ach, lass uns doch mal den Friedhof öffnen.“ Sie reißen die Türen auf, nach vierzig Jahren. Das hat etwas zutiefst Symbolisches. Und natürlich ist es richtig, diese Erinnerungsarbeit und Pflege zu betreiben.

Doch als ich die Szenen geschrieben habe, ist mir klargeworden, dass diese Aktion auch etwas ziemlich Übergriffiges hat in dieser Gemeinde, die das Massaker so angststarr beschweigt. In der Szene steckt eine Ambivalenz, von der ich vorher nicht gewusst hatte. Oft grabe ich mich erst während des Schreibens zu solch neuen Erkenntnissen durch. Dadurch ergibt sich, so hoffe ich, auch eine Spannung beim Lesen.

Sie versuchen, eine Art 360-Grad-Erinnerung zu ermöglichen, in der vieles vom Traumatischen oder Schuldhaften, was verdeckt war, durch unterschiedliche Personen sichtbar wird. Geht es Ihnen um Vollständigkeit?

Das ist es nicht. Ich glaube aber, dass eine seriöse Beschäftigung immer etwas mit Details zu tun hat, mit Genauigkeit und Ehrlichkeit. Deshalb beschreibe ich die unterschiedlichen Figuren vor Ort. Das Lokale ist das Interessante beim Erinnern: Wer fühlt sich herausgefordert, wenn der jüdische Friedhof vor der Haustür geöffnet wird? Wer interessiert sich unbefangen dafür?

Im Lokalen kann man dann auch eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit glaubwürdiger anstoßen. Deshalb finde ich auch die „Stolpersteine“ so wichtig. Wenn vor dem eigenen Haus zwei solche Steine sind, erinnert es einen immer mal wieder daran, dass aus der Nachbarschaft zwei Menschen vertrieben worden sind, weil sie jüdisch waren. Diese Stolpersteine stellen einen Bezug zum eigenen alltäglichen Leben her.

Das steht im Gegensatz zu der Art, wie kollektive Erinnerung an die NS-Zeit gerade stattfindet. Ich denke, wir gehen da in eine komplett falsche Richtung. Je länger es her ist, desto falscher wird es. Es wird alles immer schwärzer, größer, unzugänglicher, symbolischer. Auschwitz, der 27. Januar, andere Gedenktage. Bei so viel Schwärze ist eine persönliche Auseinandersetzung kaum noch möglich. In meinem Roman will ich einen Gegenentwurf schaffen. Ich gehe an den Details entlang, versuche, einzelne Fäden sorgfältig aufzuziehen, wie Filz, den ich beim Schreiben auseinanderziehe. Ich hätte Dunkelblum vor zwanzig Jahren so nicht schreiben können, hätte es nicht geschafft, mir die vielen ambivalenten grauen Figuren, die keine eindeutigen Täter sind, überhaupt anzuschauen.

In Ihrem ersten Buch, einem Sachtext, haben Sie sich mit einem eindeutigen Straftäter, dem britischen Holocaustleugner David Irving auseinandergesetzt. Warum war es Ihnen nun im Roman Dunkelblum wichtig, sich auch in Figuren hineinzuversetzen, die weder Schurken noch unschuldig sind, sondern dazwischenstehen?

Bei Veranstaltungen lese ich oft das Kapitel über den geflickten Schurl. Er ist jemand, der tatenlos zusah, wie Juden verfolgt wurden, aber selbst auch ein recht eingeschränktes ­Leben hat. In der Szene geht er durch seinen Obstgarten. Er hat Schuldgefühle. Er spürt, dass es nicht in Ordnung war, aus der Vertreibung der Jüdinnen und Juden eigene Vorteile zu ziehen. Aber das ist nur ein Moment. Gleich darauf vergibt er sich wieder. Es ist eine Fließbewegung, die es schwermacht, auf die Motive der sogenannten kleinen Leute zu schauen, sie entgleiten einem immer wieder.

Ich schaue mir deren Handlungsmotivation genauer an und habe festgestellt, dass einige ängstlich waren, andere feige, gierig oder teilnahmslos. Mit dem Blick auf diese Leute kann man sich die Frage: „Wie konnte es dazu kommen?“, besser beantworten. Es ist aber auch unangenehmer, weil wir uns in diesen Figuren selbst nahekommen. Wir sehen dann: Jeder kann versuchen, die eigenen Motive zu durchschauen. Und wer sich dann positioniert, kann etwas verändern.

In der Sozialpsychologie gibt es Forschungen zum Einfluss von Minderheiten, in denen deutlich wird, dass wenige Leute mit festen Überzeugungen eine Situation in einer Gruppe verändern können.

Genau, manchmal braucht es nur zwei oder drei Leute. So ist es beim Elternabend, im Verein, bei der Mieterversammlung. Aber auch in dramatischen Situationen. Ein gutes Beispiel ist der 11. September. Es gab dort ein viertes entführtes Flugzeug, den United-Airlines-Flug 93. Doch diese Maschine ist nicht ins Weiße Haus oder ins Kapitol gestürzt – die mutmaßlichen Ziele der Terroristen –, sondern in ein Feld. Denn die Menschen in der Kabine haben zu kämpfen begonnen. In den anderen Flugzeugen war das anders. Es kommt also darauf an, was für eine Gruppe sich zusammengefunden hat, wie Einzelne reagieren. Es gibt keine vorhersehbaren Prozesse oder Unabänderliches. Die Wahrheit wird von allen gemacht.

Welche Art von Gruppendynamik kann helfen, um eine gewaltvolle Entwicklung und Traumatisierungen aufzuhalten?

Die Geschicke der jüdischen Bevölkerung hatten jedenfalls viel damit zu tun, welche Moral die Autoritäten der verschiedenen Dörfer vertreten haben. Es gab nicht nur in Rechnitz Massaker, sondern auch in umliegenden Dörfern. Doch nur in Rechnitz wurde so anhaltend geschwiegen, dass man nicht mal mehr die Opfer finden konnte. Das Massengrab wird heute noch gesucht. Warum? Moralische Autoritäten.

Die Grafen in Rechnitz waren eng mit den Nazis, die Gräfin hatte ein Verhältnis mit dem SS-Mann, der das Massaker durchgeführt hat. In anderen Gemeinden gab es zum Beispiel protestantische Pfarrer, die gegen die Nazis gepredigt haben, dort wurden Zwangsarbeiter versteckt, einmal ist ein Massaker mittendrin abgebrochen worden. In unsicheren, uneindeutigen Situationen richten sich Menschen nach moralischen Zeigerfiguren. So war es in der dörflichen Gesellschaft. In der komplexen modernen Gesellschaft gibt es das aber auch. Man denke an Radikalisierungstendenzen im Netz. Es sind Schwärme, die sich in die eine oder andere Richtung in Bewegung setzen.

Davon handelt auch mein neuer Essay Alles und nichts sagen; wie wir alle uns verändert haben, seit wir online dauerdiskutieren, wie empört und unerbittlich wir geworden sind, wie falsch wir vieles inzwischen bewerten, einfach aus Überforderung. Jeder von uns kann überlegen, welche Motive er hat, dabei mitzumachen. Oder ob es manchmal besser ist, innezuhalten, eine eigene Position zu finden und zu vertreten. Dazu braucht es übrigens nicht nur Mut, sondern auch Zeit.

Ihre Romane werden oft als witzig und bissig wahrgenommen. Welche Funktion hat der Humor in Ihrer Arbeit?

Also, das ist für mich vor allem Handwerk: Ich will die Leserinnen und Leser fesseln, sie dabei halten, denn ich stehle ja ihre Zeit. Durch den Humor kann ich sie aufschließen, um ihnen dann eine andere und unangenehmere Wahrheit besser reindrücken zu können. Es ist ein abgestuftes Verfahren: Lachen Sie mal und dann bekommen Sie es reingewürgt.

Es gibt aber auch persönliche Gründe dafür, dass ich auch in meinen Büchern immer wieder einen humorvollen Ton anschlage: Ich muss immer eine Halbdistanz haben, auch zu meinen Figuren. Ich habe Wärme für sie, das schon, aber ich liebe auch das Groteske am Menschsein. Und ich glaube, dass man eine Annäherung an die NS-Geschichte letztlich nur über eine ironische Haltung aushält.

Es gibt zwei Möglichkeiten: Man kann diesem Kapitel der Geschichte gegenüber komplett dicht machen. Das ist heute, 80 Jahre später, relativ einfach, etwa indem man darauf hinweist, dass wir andere Probleme haben, zum Beispiel den Klimawandel. Oder man ist mutig genug, sich damit weiter zu beschäftigen, dann muss man es aber auch irgendwie abfedern können, zum Beispiel mit Ironie, mit Witz. Die Struktur von jüdischem Humor ist dezidiert, dass man über das eigene Leiden auch lachen kann.

Gibt es etwas, das Ihnen am Buch Dunkelblum besonders wichtig ist?

Ich weiß nicht, ob ich die Frage beantworten kann, aber mir kommt etwas anderes in den Sinn. Ich habe im Roman einen Schmerzpunkt untergebracht, wie einen Erinnerungsstein, den man im Judentum statt Blumen auf ein Grab legt. In Dunkelblum gibt es den Strang der Erzählung um die Familie Goldman, die durch die Gewalt der Nazis von ihrem Sohn getrennt wird. Die Eltern erfahren nie, dass ihr Sohn überlebt hat, ihr ganzes Leben nicht. Beim Lesen leidet man mit und bedauert, dass sie um diese erlösende Nachricht gebracht worden sind. Solche Geschichten, in denen niemand ums Leben kam, der Schmerz aber doch über Jahrzehnte weiterwirkt, will ich zeigen. Es gibt eine vermittelte Trauer, die nie endet.

So wie bei den Kindertransporten: Mein Vater war einer der ganz wenigen, die nach dem Krieg zurückkehren konnten zu ihren Eltern, während 90 Prozent dieser Kinder dauerhaft von ihren Eltern getrennt blieben, Familien zerrissen wurden. Und auch er hat erst mit 17 Jahren erfahren, dass seine Eltern noch lebten, fast zehn Jahre nach der Trennung. [Eva Menasse denkt eine Weile nach.]

Ich habe mich immer wieder gefragt, wie jemand, der so viel Trauma erlebt hat, ein so positiver, optimistischer und vergnügter Mensch sein und bleiben konnte. Er hat irgendwas gut gemacht, auch mit uns Kindern. Ich spüre, dass er sich auch über uns geheilt hat, uns seine Art weitergegeben hat, ich fühle mich stark durch meinen Vater. Ihm zuliebe mache ich das alles.

Eva Menasse, geboren 1970 in Wien, lebt in Berlin. Sie arbeitete als Journalistin und ist seit Mitte der 2000er als Schriftstellerin tätig. Ihre Romane Vienna, Quasikristalle und Dunkelblum wurden Bestseller. Für ihr Werk bekam sie unter anderem den Heinrich-Böll-Preis und den ­Bruno-Kreisky-Preis für das ­politische Buch. Zusammen mit Deniz Yücel ist sie Sprecherin des 2022 ­gegründeten PEN Berlin. Ihr im Interview erwähnter Vater Hans Menasse war österreichischer Fußballnationalspieler, er starb 2022.

Psychologie und Literatur

In unserer Serie sprachen zuletzt:

Steffen Kopetzky über Kunst und Bodenhaftung (Heft 1/2024)

Saša Stanišić über das Geschichtenschreiben als Bewätigungsform (Heft 9/2023)

Charles Lewinsky über das Grundbedürfnis, kein Niemand zu sein (Heft 5/2023)

Milena Michiko Flaar über das beredte Innenleben stiller Menschen (Heft 1/2023)

Gabriele von Arnim über die Zeit, als sie ihren Mann pflegte (Heft 9/2022)

Sascha Mamczak über Science-Fiction und den sense of wonder (Heft 6/2022)

…und viele mehr. Sie finden diese Interviews auf unserer Website: psychologie-heute.de

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2024: Aber danach fang ich wirklich an