Ganz in Schwarz gekleidet betritt Nino Haratischwili das kleine griechische Café im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Obwohl es gerade Mittagszeit ist, sitzen nur wenige Menschen an den Nebentischen. Die Autorin bestellt frischen Ingwer-Minze-Tee und ist sofort startklar. Konzentriert und ohne je zu den anderen Besuchern des Cafés zu blicken, lässt sie sich auf das Gespräch ein, antwortet ebenso schnell wie ausführlich.
Nicht die Petitessen des Alltags, sondern die großen Stoffe sind es, die Haratischwili…
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schnell wie ausführlich.
Nicht die Petitessen des Alltags, sondern die großen Stoffe sind es, die Haratischwili literarisch umtreiben. Geschichten über Krieg, Familien und fatale Verstrickungen. Das gilt für den Roman Das achte Leben (für Brilka) wie auch für ihr jüngstes Werk Das mangelnde Licht. Darin erzählt Haratischwili von vier Frauen, die wie sie selbst aus Georgien stammen. Es ist ein mitreißendes Buch über Freundschaften, lebensentscheidende Begegnungen und schicksalhafte Wendungen. Mit einer überraschenden Leichtigkeit spricht sie über die tiefsten Themen.
Beziehungen, die geradezu unauflöslich scheinen, spielen eine große Rolle in Ihren Büchern. Im aktuellen Roman Das mangelnde Licht stehen vier Frauen im Zentrum, die sich in den 1980er Jahren in Tiflis zusammenfinden und deren Freundschaft die Zeiten überdauert. Wie entstehen solche Verbindungen, die einen lebenslang nicht loslassen?
Solche Begegnungen speisen sich aus komplexen Sehnsüchten, Erwartungen, Vorstellungen. Es kommt auf den Kontext an. Wenn es um solche lebensverändernden Freundschaften geht, spielt es oft eine Rolle, dass man merkt: Der andere Mensch ist auf eine ähnliche Art suchend wie man selbst. Im Grunde geht es ja immer darum, dass man gesehen werden will. Und aus irgendeinem Grund fühlt man sich dann von diesem einen Menschen besonders gut gesehen. Meine Vorstellung davon, wie ich sein möchte, muss mit dem anderen synchronisiert werden. Ich muss mich in den Augen des anderen lieben können.
Zu Beginn der Geschichte treffen sich die Freundinnen aus Kindertagen in Brüssel wieder. Anlass ist eine Retrospektive des fotografischen Werks von Dina, die nicht mehr lebt. Dieses Wiedersehen wühlt die Frauen emotional auf – obwohl sie lange keinen Kontakt mehr hatten, jede ihr eigenes Leben führt. Warum sind die Gefühle so intensiv?
In diesem konkreten Fall hat es mit zwei Dingen zu tun. Einmal mit der Kindheit. Dinge, die in der Kindheit und Jugend passieren, sind an Intensität nicht zu übertreffen, weil alles zum ersten Mal passiert: die erste Freundschaft, die erste Liebe, die erste Enttäuschung. Man hat auch noch nicht so viele Schutzmechanismen entwickelt. Dadurch ist alles, was in dieser Zeit entsteht, jede Bindung, jede Beziehung sehr prägend. Das Zweite sind die Extreme der Zeit. Hätten die Figuren eine ganz normale Freundschaft mit Ausgehen, Musikhören, ein bisschen Abhängen und Kiffen, wäre ihre Bindung auch intensiv, aber eben nicht so stark wie bei den Freundinnen im Buch. Sie müssen sehr jung und unter extremen Bedingungen ein Leben im Schnelldurchlauf führen.
Die Freundinnen erleben ihre Jugend im georgischen Bürgerkrieg. Es gibt Stromausfälle und Gewalt auf den Straßen. In einer Passage schreiben Sie, dass die vier wie auf Vorrat gelebt haben: „Wir haben für viele gelebt, und wir können diesem Leben nicht, nur weil der Schmerz nie vollständig abklingt, untreu werden.“ Heißt das, sie sind an die Umstände immer weiter gebunden – und auch aneinander?
Ich glaube, die Intensität, also die Nähe zwischen den Frauen entsteht auch darüber, dass sie wissen: Egal wie entspannt das Leben jetzt ist und wie sehr sie sich an die neue Zeit angepasst haben, tief im Inneren kommen sie aus Georgien, teilten dort eine schwierige Geschichte, wurden Zeuginnen von Gewalt. Und das verbindet total, diese Form von tiefem Verständnis. Das geht sogar mir selbst manchmal so, dass ich meine Teenagerzeit nur schwer mit Freunden und Freundinnen hier in Deutschland teilen kann. Ich glaube, auch deswegen wollte ich das Buch schreiben.
Können Sie das noch genauer erklären?
Wenn die Freunde, die in Deutschland sozialisiert wurden, von den 1990er Jahren reden, reden sie von MTV und Discos. Wenn ich von den 1990ern rede, rede ich von Kalaschnikows und Panzern. Bei mir gab es auch Discos und MTV, aber nur wenn es Strom gab oder gerade nicht geschossen wurde.
Wir sehen alle Ereignisse rund um die Freundinnen aus der Perspektive von Keto. Wie etablieren Sie als Autorin die Beziehung zwischen der Erzählerin und den Leserinnen und Lesern, so dass wir dieser Stimme vertrauen?
Das unterliegt nicht meiner Kontrolle. Ich finde auch nicht, dass es zwingend nötig ist, der erzählenden Figur zu vertrauen. Man muss sie nicht einmal mögen. Das Einzige, was ich auf zehn, zwanzig Seiten hinkriegen muss, ist, dass die Leserinnen und Leser mehr wissen wollen. Es braucht eine Neugierde auf das, was diese Figur uns erzählt oder eben nicht erzählt. Bei Das mangelnde Licht wird direkt auf der ersten Seite klar: Die eine Freundin, um die es geht, ist tot. Und dann ist die Frage: Will ich jetzt wissen, warum? Was ist in diesen Beziehungen wirklich passiert?
Kommen aus Ihrer Sicht auch Beziehungen unter Menschen ohne Vertrauen aus, wenn es nur genug Neugier aufeinander gibt und eine gewisse Faszination für den anderen?
Man kann Beziehungen führen ohne Vertrauen. Ich habe selbst Erfahrungen damit, ich vertraue nicht so leicht. Und man kann dann trotzdem ein gutes Verhältnis zu jemandem haben. Es kann spannend sein, aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Um richtig gute und tiefgehende Beziehungen zu Menschen zu führen, braucht man schon Vertrauen. Fast mehr als Liebe.
Vertrauen wird in diesem Roman auch verraten – zumindest empfindet das eine Figur so. Zwischen Ira und Nene kommt es, wie es im Text heißt, zu einer „lebensverändernden Kollision, einer, die niemals verjährt“. Zugleich gibt es jedoch unterschiedliche Wahrnehmungen dieses Verrats.
Was ist ein Verrat? Das, was ich selbst als hochgradig unmoralisch empfinde, muss für einen anderen nicht automatisch das Gleiche sein. Wir haben zwar scheinbar alle irgendwie ähnliche Werte, aber wenn es ans Eingemachte geht, ist die Palette der Urteile und Wahrnehmungen riesig. Es gibt nicht die eine Wahrheit. Es ist immer eine Frage der Perspektive. Klar kann man sich auf ein paar grundsätzliche Sachen einigen, etwa dass man niemandem Leid zufügen sollte. Aber man kann ja auch jemandem schaden, ohne es beabsichtigt zu haben. Zu dem Verhalten der Figur Ira habe ich schon unterschiedliche Meinungen gehört. Manche Leserinnen finden, dass es ein Verrat war, und manche sagen, es sei eine Rettung gewesen und Ira habe als Einzige richtig gehandelt.
Ohne jetzt zu viel zu verraten: Ira hat private Informationen weitergegeben. Ihre Freundin Nene, Nichte eines stadtbekannten Kriminellen, hatte sie ihr anvertraut.
Und Ira hat ihre eigenen guten Gründe, warum sie so handelt. Sie hat die Absicht, ihre Freundin aus diesem kriminellen Kartell von Männern zu befreien. Nene empfindet das aber als hochgradig unloyal und übergriffig – und als Vertrauensbruch, weil die Informationen eben geheim bleiben sollten. Aber Ira verhält sich ja nicht so, wie sie es tut, um ihrer Freundin zu schaden, sondern weil sie tatsächlich davon überzeugt ist, sie damit zu retten. Sie fühlt eine Verantwortung, weil sie mit ihr verbunden ist. Und sie ist so betroffen, dass sie eine Grenze überschreitet. Es gibt ja nicht nur Schwarz und Weiß. Das Leben besteht aus Zwischentönen, und dazu muss man dann eine Haltung einnehmen. Menschen sind widersprüchlich und dementsprechend sind es auch ihre Beziehungen.
Dieses Spannungsfeld zeigen Sie immer wieder in Ihren Büchern. Einerseits durch die Figuren, die unterschiedliche Sichtweisen haben, andererseits verfolgen Sie Beziehungen über einen langen Zeitraum, zeigen Entwicklungen und andauernde Konflikte. Im aktuellen Buch zum Beispiel zwischen den Freundinnen Ira und Nene, die außerdem von einer unerfüllten Leidenschaft befeuert wird. Ira ist in Nene verliebt.
Ira ist es gewohnt, zu bekommen, was sie möchte. Ausge-rechnet in diesem Fall kriegt sie es nicht. Genau das macht sie, glaube ich, zu einer besessenen Figur, die nicht loskommt von dieser Beziehung. Wäre es zu einem gewissen Zeitpunkt zu etwas Konkretem zwischen den beiden gekommen, ich glaube, das hätte nicht lange gehalten. Dafür sind die beiden Frauen auch zu unterschiedlich. Ja, vielleicht hätten sie eine kleine Affäre gehabt, aber es hätte nicht diese schicksalhafte langjährige Verbindung gegeben. Egal wie toll die Realität ist, die Vorstellung, die man sich von etwas macht, ist nicht zu übertreffen. Denn in der Vorstellung bin ich grenzenlos, nicht limitiert, in der Wirklichkeit aber schon. Deswegen ist Fantasie eine so starke Macht.


Sie haben den Begriff „schicksalhaft“ verwendet. Das Wort Schicksal kommt auch in Ihren Romanen immer wieder mal vor. Was verbinden Sie selbst damit?
Osteuropa erscheint mir insgesamt viel fatalistischer als Westeuropa. Es kann auch ein sowjetisches Erbe sein, gepaart mit einer Form von Aberglauben. Und durch die 70 Jahre Kommunismus, als man sowieso nicht seines Schicksals mächtig war, sondern immer irgendeine obere Instanz für einen bestimmt hat, haben sich Menschen darin auf eine Art eingerichtet. Wenn du weißt, du hast keine Wahl, sollst nicht selbständig denken oder wollen – denn was du anstrebst, wird unterbunden, vom Staat verordnet –, dann geht das irgendwann in die DNA über. Manche behalten ihren Kampfgeist, aber viele bricht es. Verständlicherweise.
Hier im Westen glaubt man das Gegenteil: Du hast alles selbst in der Hand. Du musst nur Leistung erbringen, dann kriegst du alles. Es ist nicht ganz der American Dream, aber so etwas wie ein europäischer Traum. Ich persönlich stehe irgendwo dazwischen. Es ist eine Illusion zu glauben, dass man alles unter Kontrolle haben kann. Ich bin auch stark durch die Antike und die alten Griechen geprägt. Ich mag diese Weltanschauung. Sie haben die Demokratie erfunden und gleichzeitig haben sie dieses Arsenal verrückter Götter, die für alles zuständig sind. Ich habe die griechischen Mythen schon als Kind gelesen. Dass sie mich so angesprochen haben, hat wiederum mit meiner biografischen Prägung zu tun. Ich bin in Georgien unter extremen Bedingungen aufgewachsen, in einer extremen politischen Situation, und das Große, Konfliktreiche, Blutige, Fatalistische kommt mir sehr nah. Ich bin sehr von Mythen geprägt.
Worin sehen Sie die Essenz dieser Mythen?
Für mich ist ein Mythos eine Geschichte, die sich immer wiederholt. Wenn ich eine griechische Tragödie wie die Orestie von Aischylos lese, dann hat sich nicht viel getan seitdem, es geht immer noch um Vergeltung, Rache, Familie, Liebe, Eifersucht, Macht. Und es wird, glaube ich, auch noch in 2000 Jahren so sein. Dieses ewig Wiederkehrende, worauf wir keine endgültigen Antworten finden, egal wie viele Bücher wir schreiben und wie viel Kunst wir schaffen, ist etwas, was ich sehr mag. Da fühle ich mich aufgehoben. Deshalb liebe ich auch das Theater. Es ist ein starkes Ritual: Menschen kommen zusammen und stellen eine Sinnfrage. Ich liebe auch die Vorstellung der Katharsis. Wir reinigen uns, indem wir gemeinsam etwas erleiden. Das Wichtigste daran ist nicht, irgendeine Antwort zu finden, sondern zu wissen: Ich bin damit nicht allein. Es ist tröstlich, dass vor mir Menschen diese Fragen gestellt haben und diese auch nach mir stellen werden.
Fatale Verstrickungen gibt es in den Mythen häufig. Kann eine Beziehung zwischen Menschen Schicksal sein?
Definitiv gibt es Begegnungen, die Biografien umschreiben. Man kann ein zufriedenes Leben führen und sich von heute auf morgen Hals über Kopf in jemanden verlieben und die Familie verlassen. Man kann durch eine Begegnung den Beruf an den Nagel hängen und auf Weltreise gehen. Es gibt viele unvorhersehbare Wendungen. Es gibt Leute, die weniger anfällig sind für so etwas und sehr pragmatisch bleiben. Andere haben Antennen dafür und reagieren stärker. Dinge, die uns passieren, haben auch mit einer gewissen Offenheit in uns zu tun. Jeder hat Sehnsüchte und Vorstellungen. Und je nachdem, was ich suche und will, strahle ich das auch aus. Ich glaube, dass man immer in irgendeiner Form von Kommunikation mit dem Leben und mit den anderen Menschen steht und Signale sendet.
Sind das für Sie die ergiebigsten literarischen Figuren, deren Leben an solchen Scheidewegen steht oder deren Beziehungen verstrickt bleiben?
Ich würde mich zu Tode langweilen, wenn ich mich jetzt hinsetzen und 300 Seiten über den Alltag schreiben würde. Autofiktionale Literatur ist ja gerade sehr in. Ich würde da einschlafen, es interessiert mich einfach nicht. Mein Schreibansatz ist ein anderer. Ich möchte mich nicht permanent selbst zitieren. Trotzdem steckt in all den Figuren auch immer ein Teil von mir selbst.
In Ihrem aktuellen Roman gibt es ein eindrückliches Beispiel dafür, dass nicht nur Beziehungen, sondern auch zufällige Begegnungen mit Fremden das eigene Schicksal prägen. Keto und ihre Freundin Dina werden Zeuginnen, wie einem Mann die Ermordung droht. Sie müssen eine Entscheidung treffen: mit ihrem Geld den Fremden zu retten oder einem nahestehenden Menschen zu helfen. Fällt Ihnen so eine Situation beim Schreiben ein? Oder haben Sie tatsächlich von ähnlichen Geschichten gehört?
Es ist nicht so ausgedacht, wie es scheint. Solche Geschichten, in denen man in eine gewaltvolle Situation hineingezogen wird, sind damals zuhauf passiert. Was ich daraus gemacht habe, ist aber komplett fiktionalisiert. In diesen Jahren sind in Georgien ständig Leute ermordet worden. Gewalt war omnipräsent. Und es hat natürlich alle auf eine Art beschädigt. Die Beschädigung kann ich bis heute manchmal in dieser Generation spüren. Viele haben auch nicht überlebt. Und die Szene, die Sie beschreiben, ist für mich der Wendepunkt im Roman, um den herum sich alles gruppiert. Dass sich Keto später auch noch auf diesen Mann einlässt, ist nicht ihrer Sympathie oder Sehnsucht geschuldet, sondern ihrem Schuldgefühl ihm gegenüber. Auch Schuld bindet an einen anderen Menschen.
Die Extreme der Zeit spiegeln sich in Ihren Romanen auch in den unterschiedlichen politischen Haltungen innerhalb einer Familie wider. Im aktuellen Buch vertraut eine Großmutter auf den Präsidenten, die andere sieht ihn als Verräter.
Dieses Extreme – wem vertraue ich und wer ist der Verräter? – haben wir bis heute in Georgien. Dieser erste Präsident Georgiens, Swiad Gamsachurdia, um den es im Buch geht, war sehr umstritten. Damals sind ganze Familien zerbrochen, weil die Einschätzungen sehr weit auseinandergingen. Manche Familienmitglieder haben nicht mehr miteinander geredet. Eigentlich war dieser Präsident ein Dissident, Sohn eines berühmten Schriftstellers, ein Intellektueller, wenn man so will. Er ist hoffnungsvoll und eifrig gewählt worden und dann in den Nationalismus abgerutscht. All das ist für jeden Einzelnen bedeutsam: Politik war für die Menschen in Georgien nicht einfach das Hintergrundrauschen in den Nachrichten, sondern hat quasi mit einem im Bett geschlafen. Sie beeinflusste alles, ob du Brot hattest oder Strom. Du warst automatisch ein Teil von ihr. Bis heute kann man in Georgien nicht gemäßigt oder rational über Politik reden. Ich glaube, das hat mit dem Fehlen von demokratischen Strukturen und Erfahrungen zu tun. Und als sei es eine Art Messianismus, ist alles in der Politik auf eine Person reduziert.
Woran zeigt sich das konkret?
In Deutschland sagt man Merkel, Scholz und so weiter, in Georgien nennt man immer die Vornamen der Politiker, als handele es sich um ein Familienmitglied. Und in fast allen postsowjetischen Ländern fehlt diese Erfahrung: Wir müssen uns nicht die Köpfe einschlagen, nur weil wir nicht einer Meinung sind. Dort entsteht immer sofort dieses Entweder-oder: Entweder bist du mein Freund und komplett meiner Meinung oder du bist mein Feind.
Als Autorin müssen Sie sich auch selbst vertrauen: Ihre Romane sind sehr umfangreich, Das achte Leben (für Brilka) hat 1280 Seiten, Das mangelnde Licht immerhin 832. Was gibt Ihnen als Autorin die Sicherheit, dass Ihr Stoff Sie über so eine lange Strecke trägt?
Ja, ich bin keine Kurzstreckenläuferin (lacht). Was mir Vertrauen gibt, ist nicht die Überzeugung: Ich bin so toll und schaffe das, sondern etwas anderes. Bevor ich mit so einem Roman beginne, gehen dem Jahre voraus, in denen es in mir arbeitet. Das heißt, bevor ich starte, habe ich schon eine Achterbahnfahrt hinter mir: Fragen, Zweifel, die Suche nach Antworten. In dem Moment, wo ich wirklich beginne, weiß ich viele Dinge schon. Ich kenne meinen Anfang und mein Ende. Ich kenne das Thema, ich kenne die Fragen, ich kenne ein, zwei Figuren, und das gibt mir Halt genug.
Interessant finde ich auch, dass es bei Ihnen manchmal einen Adressaten gibt. Keto, die Erzählerin, richtet sich immer wieder an ihre verstorbene Freundin Dina, und in Ihrem Roman Das achte Leben schreibt die Erzählerin ganz direkt für ihre Nichte Brilka. Was interessiert Sie literarisch an dieser Form?
Ein konkreter Adressat, egal in welchem Kontext, verstärkt das Anliegen. Es wird dringlicher: Ich will, dass du es verstehst, du sollst mir zuhören. Bei Das achte Leben war diese Form für mich sehr entscheidend. Das ganze Buch ist wie ein Brief. Die Erzählerin will sich eigentlich gar nicht erinnern oder irgendwie zurück in die Vergangenheit gehen. Aber Brilka ist ihr Antrieb, der Motor, die Geschichte aufzugreifen. In Das mangelnde Licht erfüllt die Anrede einen anderen Zweck. Keto ist fragil, nachdenklich, introvertiert. Und sie hat auch ein Schuldgefühl, aus dem eine Sehnsucht entsteht. Und dann bricht ihr manchmal dieses Du raus, weil sie sich wünscht, dieser Mensch, ihre verstorbene Freundin Dina wäre noch da.
Dina hat als Fotografin immer wieder ihre Freundinnen porträtiert, deren Leben in sensiblen Situationen abgelichtet. Bei der Ausstellungseröffnung fühlt sich Keto deshalb unwohl. Kann Kunst auch eine Art Verrat sein, wenn man darin Situationen und Geschichten verarbeitet, die ein anderer Mensch einem vielleicht anvertraut hat?
Das ist ein großes Thema. Einerseits muss ich mich und mein Umfeld, meine Welt und mein Leben ausbeuten, um daraus zu schöpfen. Andererseits ist Kunst immer auch eine Transformation und sollte einen Mehrwert haben. Sonst ist es ein Tagebuch oder Voyeurismus. Wo verläuft die Grenze?
Sagen Sie es mir.
Das ist immer eine Frage des Ermessens, aber natürlich bleibt es eine Grauzone. Ganz schlimm finde ich es, wenn man jemanden exponiert, namentlich und direkt. Dieses absolut Ungefilterte ist ein No-Go. Und für mich auch keine Kunst. Ich finde das fragwürdig und vor allem ethisch nicht vertretbar. Ich versuche immer, diese Grenze einzuhalten. Es gibt zum Beispiel ein Thema aus der georgischen Geschichte, das beschäftigt mich seit Jahren, ich würde sehr gern darüber schreiben. Es war ein großes Ereignis in den 1980ern, und es gibt dazu eine Überlebende. Sie ist sowohl Opfer als auch Täterin. Ich habe schon oft überlegt, ob ich den Kontakt zu ihr suchen soll. Aber ich weiß: Wenn ich vor dieser Frau sitze mit einem Diktiergerät und sie mir davon erzählt, bin ich ethisch bereits verpflichtet, ihrer Wahrheit Tribut zu zollen. Und das will ich nicht. Ich muss als Autorin frei sein. Also lasse ich es.
Haben Sie sich auch schon einmal bei anderen Menschen rückversichert bei einer Geschichte, die in eines Ihrer Bücher eingegangen ist?
Nein, weil es nie nötig war. Wenn eine Geschichte irgendwo angedockt wäre, würde ich sie so weit transformieren, dass sie nicht mehr viel mit der Wirklichkeit zu tun hat. Ich würde das, was sich zugetragen hat, komplett dekonstruieren und überlegen: Was interessiert mich daran, was ist der Kern, worum geht es da? Und dann würde ich versuchen, daraus etwas Eigenes zu bauen. Ich könnte zum Beispiel auch nicht eins zu eins über meine Mutter schreiben oder über Beziehungen, die mir viel bedeuten. Das geht nicht. Da würde ich in Konflikt geraten mit der Wirklichkeit und meiner Fantasie. Mir etwas vorzustellen interessiert mich tatsächlich viel mehr als die Frage, wie es wirklich war.
Sie haben auch im aktuellen Roman viel über Freundschaften und Schicksal geschrieben. Haben Sie selbst bei der Arbeit daran etwas gelernt?
Lernen ist so ein großes Wort. Es ist eher wie ein Laboratorium, in das man geht und in dem man sich den Luxus erlaubt, Dinge ganz genau anzugucken. Mich macht Schreiben auf eine Art demütig. Und es macht mich auch ein bisschen nachsichtiger mit anderen Menschen um mich herum. Oder auch mit mir selbst.
Leseprobe
Sie nahm Schwung mit den Beinen, ging immer wieder leicht in die Hocke, und wir begannen hin- und herzuschaukeln, höher und höher, dem Wind entgegen. Ihr Gewicht drückte gegen meinen Rücken, ich spürte ihre Wärme, ihre Kraft, und ein neuartiges Gefühl breitete sich in mir aus. Ich fühlte mich unbesiegbar, in jenem Moment kam es mir so vor, als wären wir die Königinnen der Welt. Und vielleicht waren wir das sogar, vielleicht ermächtigte uns unser Wagemut dazu, unsere Freude darüber, dass wir uns gefunden hatten.
Wenn ich jemandem erklären soll, was mich mit Dina verband, was mich schließlich in sie hat eintauchen lassen wie in einen tiefen, unergründlichen See, dann beginne ich zu stammeln und verliere mich in Banalitäten. Ich habe es nie in Gänze erfassen können, auch wenn ich an manchen Punkten glaubte, der Wahrheit nahegekommen zu sein. Der Wahrheit über diese Freundschaft, die alles überdauert hat, sogar den Tod.
Auszug aus Das mangelnde Licht, Frankfurter Verlagsanstalt 2022
Nino Haratischwili, geboren 1983 in Tiflis, studierte von 2000 bis 2003 Filmregie an der Staatlichen Schule für Film und Theater in Tiflis und von 2003 bis 2007 Regie an der Theaterakademie Hamburg. Für ihre Theaterstücke und Prosatexte erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen. Bereits ihr Debütroman Juja von 2010 stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Seitdem hat sie vier weitere Romane veröffentlicht: Mein sanfter Zwilling, Das achte Leben (für Brilka), Die Katze und der General und Das mangelnde Licht. Zuletzt erschien Löwenherzen, ein Theaterstück für Kinder. Nino Haratischwili lebt in Berlin.
Psychologie und Literatur
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…und viele mehr. Sie finden diese Interviews auf unserer Website (PH+): psychologie-heute.de
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