Im Fokus: Psychotherapie in Russland

Psychotherapie in Russland: Wie der Angriffskrieg auf die Ukraine auch Russinnen und Russen umtreibt, zeigt ein Gespräch mit Boris Shapiro aus Moskau.

Das Serbski-Wissenschaftszentrum für Sozial- und Gerichtspsychiatrie in Moskau ist ein großes, graues Gebäude mit vielen Fenstern
Ängste und Depressionen aus Machtlosigkeit: Eine graue Zeit brach für die Menschen in Russland mit Beginn des Ukrainekriegs herein. © ©Alexander Savin, WikiCommons

Herr Shapiro, wie geht es Ihnen?

Schlimm.

Schlimm?

Es ist kaum auszuhalten, wirklich ekelhaft. Eigentlich ist meine Generation ja durch die sowjetische Erfahrung geimpft. Aber so schmerzhaft wie heute habe ich das damals nicht empfunden.

Sie leiten die Fakultät für Praktische Psychologie an der Moskauer Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Die Uni gilt als fortschrittlich und unabhängig. Einigen war sie wohl zu unabhängig: Vor zwei Jahren wurde ihr Rektor verhaftet, die Uni stand kurz vor der…

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Einigen war sie wohl zu unabhängig: Vor zwei Jahren wurde ihr Rektor verhaftet, die Uni stand kurz vor der Schließung. Seit März gibt es nun eine neue Rektorin, sie ist Mitglied der Kremlpartei Einiges Russland. Wie geht es jetzt weiter?

Die neue Rektorin zeigt sich bislang ­tolerant. Aber da jetzt allen Hochschulen eine patriotische Linie verordnet wurde und man kein falsches Wort sagen darf, werde ich zum Ende des Studienjahres kündigen. Ich möchte nicht an einer sowjetischen Universität unterrichten. Ich werde mich auf die Arbeit mit Patientinnen und Patienten konzentrieren, denn die Nachfrage nach psychologischer Hilfe ist enorm.

Nach der Mobilmachung im vergangenen Herbst berichtete ein Anbieter von Onlinetherapien von einem Zuwachs um 74 Prozent. Der Verkauf von Antidepressiva hat um zwei Drittel zugenommen. Mit welchen Problemen kommen Ihre Patientinnen und Patienten zu Ihnen?

Die Symptome sind ähnlich wie während der Pandemie: Depressionen oder depressionsähnliche Zustände, aber auch Panikattacken und Angstzustände haben stark zugenommen. Wenn dauernd von Atomkrieg die Rede ist, muss man sich nicht wundern, dass Menschen Todesangst bekommen.

In welchen Situationen suchen die Menschen Unterstützung?

Viele Anfragen haben mit dem zu tun, was manche beschönigend relocation nennen. Wissen Sie, was damit gemeint ist?

Emigration?

Emigranten sind Menschen, die ihr Land für immer verlassen. Mit relocation ist die Hoffnung verbunden, bald zurückzukehren, wenn diese Situation vorbei ist.

Darauf haben schon die Adligen und die Angehörigen der Intelligenzija gehofft, die Russland nach der Oktoberrevolution 1917 verlassen haben…

Stimmt. Und ich fürchte, dass auch viele von denen, die jetzt gehen, zu meinen Lebzeiten nicht mehr zurückkommen werden. Es gibt eine ziemlich große Gruppe von Männern im wehrpflichtigen Alter, die bei dieser Sache nicht mitmachen wollen. Das bringt nicht nur sie selbst in einen existenziellen Konflikt, sondern auch Familien und Paare. Sehr viele Anfragen, die ich bekomme, drehen sich um dieses Thema: Den Männern droht die Einberufung, also fliehen sie.

Die Frauen wiederum zögern, gerade wenn sie nicht sehr politisch sind. Meistens sind sie es ja, die sich um die Eltern kümmern, die sie dann zurücklassen müssten. Sie müssen bei einer Ausreise Schule und Betreuung für die Kinder in einem fremden Land organisieren. Unter meinen Klienten sind sehr viele Paare, bei denen die Männer das Land verlassen haben und die Frauen geblieben sind, und sie sehen sich bestenfalls alle paar Monate.

Sie stehen vor der Frage: Wer ist dir wichtiger, die Eltern oder der Partner?

Das ist vor allem schwer, wenn die Eltern alt und krank sind. Auf einmal ist alles infrage gestellt: die Beziehung, die Familie, die Karriere, die Zukunft der Kinder. Ich betreue ein Paar, bei dem lebt ein Teil der Kinder hier und ein Teil der Kinder lebt im Ausland. Das sind wirklich sehr existenzielle Situationen.

Jeder Mensch hat ja auch eine Beziehung zu seiner Heimat. Wie hat sich die gewandelt?

So wie ich das erlebe, gibt es in diesem Identitätskonflikt drei Gruppen: Die einen brechen alle Verbindungen zu Russland ab. Für andere ist die Heimat ein wichtiger Teil ihrer Identität. Und dann gibt es diejenigen, die in einer Art neurotischer Zerrissenheit zwischen Heimatverbundenheit auf der einen Seite und Schmerz, Scham, Wut und Schuldgefühlen auf der anderen Seite schwanken.

Empfinden die Menschen in Russland denn Schuld für diesen Krieg? Man hört so wenig davon.

Auch wenn Umfragen zufolge ungefähr 70 Prozent die sogenannte „militärische Spezialoperation“ unterstützen, gibt es auch die anderen. Die lieben ihre Heimat genauso, empfinden aber eher Schmerz und Scham für sie. Vielleicht wäre das Schuldgefühl stärker, wenn es eine echte Zivilgesellschaft gäbe und die Menschen Einfluss auf politische Entscheidungen hätten.

Machen sie es sich da nicht ein bisschen einfach, jede Verantwortung abzugeben, gerade jetzt?

Die Menschen in Russland haben sich über Generationen hinweg eine Einstellung angeeignet, die wir in der Psychologie external locus of control nennen: Nicht wir selbst bestimmen über unser Leben, wir lassen andere entscheiden, etwa den Zaren, Lenin, Stalin, den Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU, den Chef auf der Arbeit. Wenn man uns sagt, dass wir Patriotinnen und Patrioten sein sollen, dann sind wir eben genau das.

Dazu passt auch die Neigung zu Verschwörungstheorien und Aberglauben in Russland: Wenn ich immer wieder ­erlebe, dass von mir so wenig abhängt, dann kann ich genauso gut eine Kerze in der Kirche anzünden, damit der Krieg ­endet, statt laut zu protestieren. Bei beidem ist die Wirkung gering, aber eine Kerze anzünden ist weniger riskant.

Dazu kommt noch eine paranoide Kultur: Seit der Gründung der Sowjetunion wurde uns das Gefühl vermittelt, von Feinden umgeben zu sein. Niemandem kann man trauen. Das ist mehr als das Urmisstrauen, das der Analytiker Erik Erikson einst beschrieben hat. Den Menschen wird eine paranoide Angst eingeimpft. Und wenn das Land in zwei Lager geteilt wird, in Patrioten und Verräter, dann verstärkt sich diese Paranoia noch.

Welche Rolle spielen politische Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Familien?

Eine Kollegin von mir, eine junge Psychologin, hat ihre ganze Familie gegen sich – selbst ihr Mann unterstützt das, was bei uns „militärische Spezialoperation“ genannt werden muss. Sie wird richtig gemobbt und sagt, sie hasst es, nach Hause zu kommen, denn dann geht der Streit los. Ihre Familienmitglieder schauen den ganzen Tag Fernsehen und geben dann unreflektiert wieder, was sie da gesehen haben.

Was raten Sie den Menschen in so einer Situation?

Das Einzige, was da hilft, ist, politische Themen zum Tabu zu erklären. Sprechen Sie einfach nicht mehr darüber. Das führt zu nichts, genauso wie der Streit darum, ob es einen Gott gibt oder nicht. Überhaupt ähnelt dieser Hurrapatriotismus hierzulande in vielem dem Zustand in einer Sekte: Kluge Leute sind absolut unkritisch gegenüber dem, was passiert. Der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung ist völlig gestört.

Manche Psychologen oder Psychologinnen raten dazu, keine Nachrichten zu sehen, um sich in konfliktgeladenen Zeiten die psychische Gesundheit zu erhalten.

Das ist auch mein Rat: Lasst den Fernseher aus!

Andererseits wird den Menschen in Russland vorgeworfen, sie würden die Augen verschließen vor dem, was passiert.

Solche Vorwürfe kommen von den Leuten, die selbst nicht vor der Wahl stehen, im Gefängnis zu landen. Zumindest in meinem näheren Umfeld verschließt niemand die Augen. Die Leute verstehen sehr wohl, was passiert. Aber sie haben Angst. Sie sehen, was mit Leuten geschieht, die öffentlich sagen, dass sie nicht einverstanden sind mit dem, was passiert.

Viele Ukrainer beklagen, dass ihre Verwandten in Russland keinerlei Empathie zeigen. Protest ist gefährlich, aber warum tun sich die Russinnen und Russen so schwer damit, wenigstens Mitgefühl zu zeigen?

Es tun sich diejenigen schwer damit, die der Fernseher zu Zombies verwandelt hat. Sie sehen die Welt durch einen Zerrspiegel. Sie sagen: „Die Ukraine hat uns angegriffen.“ Aber es gibt auch andere Beispiele. Viele meiner Kollegen und Kolleginnen, die ins Ausland gegangen sind, engagieren sich dort für ukrainische Flüchtlinge.

Liefert die Propaganda nicht auch sehr willkommene Erklärungen? Gefühle wie Schuld und Scham sind sehr unangenehm. Vielleicht sind die Zuschauer ganz dankbar, wenn man ihnen Gründe liefert, solche Gefühle zu vermeiden?

Natürlich. Es ist immer einfacher, die Opferrolle einzunehmen.

Dann bin ich vielleicht auch bereit, Dinge zu glauben, die rational keinen Sinn ergeben, aber mir seelische Erleichterung verschaffen?

Das sind natürliche Schutzmechanismen der Psyche, ja.

Umfragen zufolge kennt inzwischen ­jeder Fünfte in Russland jemanden, der im Krieg umgekommen ist. Öffentlich wird nur von Siegen und Heldentaten gesprochen. Wird im Privaten getrauert?

Es wird privat getrauert. Das geht nicht nur denen so, die Verwandte oder Bekannte verloren haben. Ich selbst kann keine Unterhaltungssendungen mehr sehen; es zieht mich runter, wenn ich sehe, wie andere tanzen und singen. Vielen, die ich kenne, geht es ähnlich. Es gibt aber auch andere Beispiele: In meiner Supervisionsgruppe hat neulich eine junge Kollegin erzählt: „Mir fällt es schwer, mit Patienten zu arbeiten, die aus dem Krieg heimgekehrt sind. Ich muss immer weinen wegen ihres Heldenmuts.“

Ist sie gegen den Krieg und hatte Mitgefühl?

Nein, sie ist eine richtige Hurrapatriotin. Sie bewundert diese Leute, besonders wenn sie sich freiwillig an die Front gemeldet haben. Das berührt sie so, dass sie anfängt zu weinen.

Und was haben Sie ihr geantwortet?

Ich habe ihr geraten, diese Gefühle mit ihrem eigenen Therapeuten zu besprechen. Natürlich hat sie ein Recht auf ihre ganz eigenen patriotischen Gefühle. Aber als Therapeutin sollte sie neutral sein.

In den letzten zehn Jahren vor Kriegsbeginn gab es in Russland einen regelrechten Boom der Psychotherapie. Dazu haben auch Apps beigetragen, die Therapie per Video in jedem Winkel des Landes zugänglich machen. Jetzt plant die Regierung ein Gesetz, das Psychotherapie stärker unter staatliche Kontrolle bringen soll. Es war sogar die Rede davon, Ziel von Therapie sei die nationale Sicherheit und Therapierende sollten Sicherheitsorganen Auskunft über ihre Klientinnen und Klienten geben. Was wurde daraus?

Die Initiative der Abgeordneten war im Ansatz richtig. Bis jetzt gibt es kaum Regeln für professionelle psychologische Hilfe in Russland. Es sind jede Menge Autodidakten und Scharlatane unterwegs. Aber dieser Gesetzentwurf schoss stark über das Ziel hinaus. Ein staatliches Gremium sollte Lizenzen vergeben, dann würden Beamtinnen und Beamte darüber entscheiden, wer Psychotherapie anbieten darf und wer nicht. Das sollten besser Berufsverbände selbst regeln. Und ganz egal, was passiert: Die Schweigepflicht muss gewahrt bleiben, solange es nicht um schwere Verbrechen geht.

Ich sage es mal so: Es gibt zwei gute Nachrichten. Die erste ist, dass ein solches Gesetz endlich in Angriff genommen wurde. Die zweite ist, dass es in der Form, wie es geplant war, vorerst gestoppt werden konnte.

Seit der jüngsten Verschärfung des Gesetzes gegen die sogenannte „LGBT-­Propaganda“ müssen alle, die andere Beziehungen als die zwischen Mann und Frau als normal bezeichnen, damit rechnen, bestraft zu werden. Was bedeutet das für die Arbeit der Therapeutinnen und Therapeuten?

Es gibt zwei Grundsätze, ohne die ist Psychotherapie nicht möglich. Der eine ist die Vertraulichkeit. Der andere ist, dass wir die Patienten so annehmen, wie sie sind – mit ihrem Wertesystem, ihrem Glauben und ihren Überzeugungen. Es ist nicht die Aufgabe von Therapeuten, die Menschen umzuerziehen. Ausnahmen davon gibt es nur, wenn es um Straftaten geht wie etwa Mord oder Kindesmissbrauch.

Gerade wurde bekannt, dass auf Anordnung des Präsidenten an dem Serbski-Wissenschaftszentrum für Sozial- und Gerichtspsychiatrie ein Institut zur Erforschung von LGBT eingerichtet werden soll. Wie deuten Sie das?

Wissen Sie, warum die UdSSR 1983 aus der internationalen Vereinigung der Psychiater ausgeschlossen wurde? Am Serbski-Institut hatten sie den Begriff der „schleichenden Schizophrenie“ eingeführt. Dissidenten wurden mit dieser Diagnose in psychiatrischen Kliniken zwangsbehandelt. Wer die herrschenden Verhältnisse im Sozialismus kritisierte, wurde für geisteskrank erklärt. Dass die Psychiatrie so lange Teil des Unterdrückungsapparats war, ist ein Grund dafür, warum die Menschen in Russland lange zögerten, sich Hilfe zu holen. Sie hatten Angst, dass man sie sofort in eine psychiatrische Klinik einweist.

Sie haben Ende der 60er Jahre Psychologie studiert. Wie war das damals?

Den Beruf des Psychotherapeuten gab es in der Sowjetunion nicht. Psychische Störungen waren ausschließlich die Sache von Psychiatern, also Medizinerinnen und Medizinern. Ich wollte deshalb Medizin studieren, um dann Psychiater zu werden. Aber damals wurde der Zugang zu vielen Studiengängen für Juden erschwert, auch in der Medizin. Also habe ich erst Biologie studiert und danach Psychologie. Später war ich froh, dass ich nicht in der Sowjetunion Psychiater geworden bin.

Wurde die Psychoanalyse im Studium überhaupt behandelt?

Ich war schon in einem höheren Semester, als wir zum ersten Mal einen Text von Sigmund Freud gelesen haben. Ich musste mir eine Sondergenehmigung ausstellen lassen, um in der Moskauer Lenin-Bibliothek einen Klassiker der Psychoanalyse lesen zu dürfen, der dort im „Giftschrank“ verwahrt wurde.

Weil Freuds Lehren dem Materialismus widersprachen?

Natürlich! Gemäß der Lehre des Marxis­mus ist der Mensch formbar – ein unbeschriebenes Blatt und ein bisschen Genetik.

Die Bolschewiki hatten gehofft, einen neuen Menschen zu schaffen, so wie Gott den Menschen nach seinem Bilde erschaffen hat…

Aber diesmal sollte er nach dem Bild eines Erbauers des Kommunismus geschaffen werden. Der Homo sovieticus ist das Gegenteil zum amerikanischen Konzept des Selfmademan, der sein Schicksal selbst in die Hand nimmt.

Was hilft Ihnen denn, den Mut nicht zu verlieren?

Sagt Ihnen der Name Viktor Frankl etwas?

Der österreichische Neurologe und Psychiater, der seine Familie im Holocaust verloren hat und selbst in Auschwitz war.

Er beschreibt, dass unter den schlimmsten Bedingungen diejenigen nicht zerbrechen, die einen Sinn in ihrem Leben finden und ihn auch in finsteren Stunden bewahren können. Mein Sinn ist – außer meiner Familie –, Menschen zu helfen, die Frankl Homo patiens nannte, den leidenden Menschen.

Boris Shapiro (76) praktiziert seit 44 Jahren als Psychotherapeut in Moskau und leitet dort die Fakultät für Praktische ­Psychologie an der Hochschule für Sozial- und Wirtschafts­wissenschaften.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2023: Hast du ein Problem und willst es nicht haben, dann hast du schon zwei